Читать книгу Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung - Группа авторов - Страница 15
3.1.2 Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage 3.1.1.1 In Bezug auf die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften
ОглавлениеNach der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts ist im Individualarbeitsrecht im Wege einer zweistufigen Prüfung vorzugehen.52 Auf der ersten Stufe ist das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften maßgeblich und nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Das Bundesverfassungsgericht formuliert den Maßstab wie folgt:
„Ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt, müssen die staatlichen Gerichte auf einer ersten Prüfungsstufe einer Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der Kirche unterziehen. Dabei dürfen sie die Eigenart des kirchlichen Dienstes - das kirchliche Proprium - nicht außer Acht lassen.“53
In Bezug auf die gerichtliche Überprüfbarkeit hält das Bundesverfassungsgericht für die erste Prüfungsstufe sehr deutlich fest, dass die staatlichen Gerichte sich „[ü]ber die entsprechenden Vorgaben der verfassten Kirche […] nicht hinwegsetzen [dürfen].“54 Auf der zweiten Prüfungsstufe erfolgt dann eine Abwägung mit etwaigen entgegenstehenden Rechtspositionen kirchlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Wege einer „offenen Gesamtabwägung“.55 Die entscheidende Frage ist, wie sich die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte zweistufige Prüfung und die vom EuGH geforderte einzelfallbezogene Betrachtung anhand der Art der (konkreten) Tätigkeit und den (konkreten) Umständen ihrer Ausübung zueinander verhalten.
In der Literatur wird insoweit kritisiert, dass der EuGH sich über diese zweistufige Prüfung hinweggesetzt und die vom Bundesverfassungsgericht betonte Beschränkung auf eine Plausibilitätsprüfung auf der ersten Stufe verworfen habe.56 Weder der Generalanwalt noch der EuGH hätten die Systematik der Prüfung verstanden. Diese Kritik geht insofern fehl, als die verfassungsrechtliche Dogmatik nicht Gegenstand des Rechtsstreits war und der EuGH weder formal noch implizit über die deutsche Rechtslage entschieden hat. Wie immer in Vorabentscheidungsverfahren beschränkt sich der EuGH auch im vorliegenden Verfahren auf die Auslegung des Unionsrechts und die Formulierung von Vorgaben, die sich aus diesem ergeben.57
Nun ließe sich dem gerade formulierten Einwand entgegnen, er argumentiere rein formal auf der Basis der prozessualen Situation. In der Sache bestehe aber nun einmal eine Rechtsprechungsdivergenz zwischen der bloßen Plausibilitätsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht und der vom EuGH geforderten Abwägung anhand der konkreten Umstände, die durch ein staatliches Gericht kontrolliert werden müsse.58 Diesem Hinweis auf die Unterschiede zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die erste Prüfungsstufe ist zuzustimmen. Die Unterschiede verlieren aber an Gewicht, wenn man die zweite Prüfungsstufe mit in den Blick nimmt. Hier sieht auch das Bundesverfassungsgericht eine Gesamtabwägung durch die staatlichen Gerichte vor. Die entscheidende Frage ist deshalb diejenige nach der Kontrolldichte auf der zweiten Stufe.59