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1. Heinrich Brüning: Regieren durch Notverordnung

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Ende 1929 konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass Weimars demokratische Institutionen nicht mehr in der Lage waren, einen parlamentarischen Konsens für die Regelung nationaler Angelegenheiten zu finden. Der Konflikt zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Deutschen Volkspartei (DVP) über Finanzierungsmöglichkeiten der staatlichen Arbeitslosenversicherung, die im Zuge der sich verschärfenden Wirtschaftskrise zunehmend unter Druck geriet, führten zu einem Bruch innerhalb der Reichsregierung, der sich im Frühjahr 1930 als irreparabel erwies. Nach den hohen Stimmengewinnen der Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 wurde ein Kabinett der Großen Koalition unter der Führung von Hermann Müller (SPD) gebildet. Die schwerindustriellen Interessenvertreter, die den Kern des rechten DVP-Parteiflügels bildeten, lehnten eine Annäherung an die Sozialdemokraten kategorisch ab, aber gaben wiederstrebend nach angesichts des vorbehaltlosen Eintretens des DVP-Vorsitzenden und deutschen Außenministers Gustav Stresemann für die Große Koalition. Aber durch den vorzeitigen Tod Stresemanns im Oktober 1929 verlor das Kabinett Müller das Bindeglied, das es zusammengehalten hatte. Ende März 1930 entzog die SPD-Fraktion dem Reichskanzler ihre Unterstützung und machte den Weg frei für die Bildung einer neuen Regierung ohne sozialdemokratische Beteiligung.5

Vor diesem Hintergrund wandte sich Reichspräsident Paul von Hindenburg an Heinrich Brüning, einen bekannten Politiker der christlichen Arbeiterbewegung, der seit Dezember 1928 als Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei fungierte. Brüning war ein Mann voller Widersprüche, was es schwierig macht, seine Politik auf einen Nenner zu bringen. Er lässt sich als konstitutioneller Konservativer charakterisieren, der durch eine systematische Revision der Weimarer Verfassung, Einsparungen auf allen Ebenen der öffentlichen Hand und die Beendigung der deutschen Reparationslasten auf dem Weg diplomatischer Verhandlungen den Großmachtstatus Deutschlands zurückgewinnen wollte. Gleichzeitig blieb Brüning dem parlamentarischen Regierungssystem tief verpflichtet, trotz seiner Kritik am Weimarer Parteiensystem und seiner Sympathie für die Schaffung einer interkonfessionellen christlichen Volkspartei nach dem Vorbild des „Essener Programms,“ das sein Parteifreund Adam Stegerwald auf dem Kongress der christlichen Arbeiterbewegung 1920 verkündet hatte.6 Nirgendwo tritt Brünings Eintreten für ein parlamentarisches Regierungssystem deutlicher zutage als in seinem Bemühen, den Zusammenbruch des Kabinetts Müller unmittelbar vor seinem eigenen Amtsantritt als Reichskanzler am 31. März 1930 zu verhindern.7

Brünings Regierungskoalition reichte vom linken Flügel seiner eigenen Partei – der bei den Sozialdemokraten beliebte Zentrumsmann Joseph Wirth wurde als Ausgleich für Brünings Kanzlerschaft zum Innenminister ernannt, um eine Tolerierung der Regierung durch die SPD zu gewährleisten – bis hin zu eher gemäßigten Vertretern des linken Flügels der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Die Ernennung der Deutschnationalen Martin Schiele zum Landwirtschaftsminister und Gottfried Reinhold Treviranus zum Minister für die besetzten Gebiete war ein kalkulierter Schachzug, um die Spaltungen innerhalb der DNVP auszunutzen und den Einflussbereich Alfred Hugenbergs, seit Oktober 1928 Parteivorsitzender, zu beschneiden. Obwohl Hugenberg unnachgiebig jede Form der Kooperation mit dem ihm verhassten Weimarer System ablehnte, gab er im letzten Moment dem Druck seiner gemäßigteren Parteikollegen nach und stimmte der Unterstützung des Kabinetts Brüning durch die DNVP zähneknirschend zu.8 Die treibende Kraft hinter der Bildung des Kabinett Brünings war Kurt von Schleicher, der politische Chefstratege der Reichswehr. Schleicher teilte Brünings Skepsis gegenüber Deutschlands parlamentarischen Institutionen und bevorzugte eine autoritärere Regierungsform, die auf der Grundlage der außerordentlichen Vollmachten des Reichspräsidenten durch die Notverordnungen nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung beruhte.9 Brüning war ebenfalls mehr als willens, die in seinen Augen für eine finanzielle und wirtschaftliche Erholung Deutschlands notwendigen Gesetzesvorlagen mithilfe der präsidialen Notverordnungen durchs Parlament zu bringen. Doch er blieb den Grundprinzipien der parlamentarischen Demokratie weiter verbunden und sah die Verwendung des Artikels 48 nur als allerletztes Mittel.10

Hugenbergs Kurswechsel und seine Entscheidung zugunsten einer Regierungsbildung unter Brüning mit den Stimmen der Reichstagsfraktion seiner Partei lösten einen scharfen Angriff seitens der militant antirepublikanischen Kräfte auf dem rechten DNVP-Parteiflügel aus – mit dem Ergebnis, dass der Parteivorsitzende erneut die politische Richtung wechselte und seine Fraktion instruierte, gegen die von der Regierung eingebrachten Gesetzesvorlagen für Agrarsubventionen und die Einführung neuer Steuern zur Sanierung des Haushalts zu stimmen. Dies verursachte einen Aufstand von etwa 30 Fraktionsmitgliedern, die Brünings Gesetzespaket unterstützten und schließlich bereit waren, es mit den Stimmen der das Kabinett Brüning tolerierenden Mittelparteien und der Hilfe von 24 sozialdemokratischen Wahlenthaltungen im Reichstag zu verabschieden.11 Dieses Szenario wiederholte sich im Juli 1930, doch mit dem Unterschied, dass die Sozialdemokraten nun Brüning ihre Unterstützung versagten und ihm die notwendige Reichstagsmehrheit fehlte, die er noch im April für die Verabschiedung seiner Agrar- und Steuergesetzgebung hatte gewinnen können. Zum ersten Mal in seiner Amtszeit als Reichskanzler sah er sich zur Anwendung der präsidialen Notverordnungen gezwungen. Der Rückgriff auf Artikel 48 war nicht völlig neu. Schon Reichskanzler Wilhelm Marx vom Zentrum hatte 1923 und 1924, in den Jahren der galoppierenden Inflation, auf Notverordnungen zurückgegriffen, um Rechtsvorschriften zur Stabilisierung der deutschen Wirtschaft zu erlassen. Doch im Unterschied zu Marx benutzte Brüning den Artikel 48 für die Durchsetzung von Gesetzesvorlagen, die von der Mehrheit des Reichstags abgelehnt worden waren und auch dann noch in Kraft blieben, nachdem Brüning den Reichstag, der für eine Aufhebung der Notverordnungen stimmte, aufgelöst hatte. Dieses in der Geschichte der Weimarer Republik bis dahin beispiellose Vorgehen stellte einen drastischen Bruch mit der bisherigen Anwendung des Artikels 48 dar.12

Die Auflösung des Reichstags am 18. Juli 1930 ging einher mit einem Bruch innerhalb der DNVP und dem Parteiaustritt der verbliebenen gemäßigten Abgeordneten. Während des Wahlkampfs für die für den Herbst angesetzten Reichstagswahlen hofften Brüning und seine Regierung darauf, dass sich die von der Partei abgespaltenen ehemaligen Deutschnationalen bald als eine eigenständige, funktionsfähige politische Kraft mit wenigstens 60 Reichstagssitzen konstituieren würden.13 Doch diese Hoffnungen zerschlugen sich bald. Die Abtrünnigen teilten sich auf drei verschiedene neue Parteien auf, die nicht einmal einen gemeinsamen Wahlaufruf herausgaben: die Konservative Volkspartei (KVP), den Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) und die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei (CNBLP).14 In seinem Optimismus übersah Brüning außerdem den radikalisierenden Effekt der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation auf das Wahlverhalten der Wählergruppen in Deutschland, die traditionell die nicht sozialistischen Parteien unterstützten, und die Erfolgsaussichten der rechtsextremen NSDAP unter der Führung von Adolf Hitler. Mit fast 6,5 Millionen Wählerstimmen und 107 Sitzen im neu gewählten Reichstag waren die Nationalsozialisten die unangefochtenen Sieger der Reichstagswahlen im September 1930.15 Angesichts der Fragmentierung der gemäßigten Rechten und den Erfolgen der Nationalsozialisten blieb Brüning zur Bekämpfung der finanziellen und wirtschaftlichen Folgen der Wirtschaftskrise kaum eine Alternative zum Artikel 48. Auch wenn die Institutionen des parlamentarischen Regierungssystems auf Länderebene in Preußen, Bayern und anderswo bestehen blieben, war die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie auf Reichsebene praktisch gleich null.16

Drei Wochen nach dem sensationellen Wahlerfolg der NSDAP traf sich Brüning zunächst mit den Sozialdemokraten, dann mit Hitler, um seine Optionen auszuloten. Die Tatsache, dass er sich vor seinem Gespräch mit Hitler zuerst an die SPD wandte, zeigt neben anderem seine Bereitschaft, Unterstützung von links und von rechts zu suchen.17 Einstweilen griffen Brüning und sein Kabinett im Dezember 1930 erneut auf den Artikel 48 zurück, um weitere Maßnahmen gegen die sich verschärfende Wirtschaftskrise zu beschließen. Brüning, der eine konservative Steuerpolitik vertrat, versuchte dem wachsenden Haushaltsdefizit durch eine Reihe weitreichender Kürzungen der öffentlichen Ausgaben entgegenzutreten. Die Hauptlast dieser Maßnahmen fiel auf das Berufsbeamtentum in Reich, Ländern und Kommunen. Die Kürzung von Gehältern und Sozialleistungen im öffentlichen Dienst belief sich über die Laufzeit von Brünings Kanzlerschaft auf 28 Prozent des Nennwerts der jeweiligen Einkommen.18 Hierin lag jedoch langfristig ein fataler Widerspruch der politischen Strategie Brünings: Die Einschnitte führten zu einer Demoralisierung und in manchen Fällen zu einer Radikalisierung der Beamten und Angestellten des öffentlichen Diensts, und dies genau zu jenem Zeitpunkt, als Brüning die Machtbalance vom Reichstag hin zur Exekutive, also der Beamtenschaft, verschieben wollte. Brüning war bis zum Ende seiner Amtszeit nicht in der Lage, diesen Gegensatz aufzulösen, der die Effektivität seines Experiments einer Regierung mittels der präsidialen Notverordnungen stark beschnitt.19

Mittlerweile hatten die Auswirkungen der sich verschärfenden Wirtschaftskrise nicht nur den öffentlichen Dienst betroffen, sondern auch viele andere Bereiche der deutschen Gesellschaft, was Brüning den wenig rühmlichen Beinamen „Hungerkanzler“ einbrachte. Vor allem galt dies für den Sektor der Landwirtschaft. Das Agrarprogramm, das der Reichskanzler und sein Landwirtschaftsminister Schiele mit großem Aplomb im April 1930 verkündet hatten, konnte die wachsende Verschuldung der Landwirte und den dramatischen Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte auf dem Weltmarkt nicht aufhalten. Die Krise betraf zwar kleine und große Landwirte gleichermaßen, aber insbesondere Letztere stellten ein Problem für das Kabinett Brüning dar. Im Herbst 1930 orchestrierte eine Gruppe ostelbischer Großgrundbesitzer die Übernahme der größten agrarischen Interessenorganisation im Deutschen Reich, des Reichslandbundes (RLB), und zwang Schiele zum Rücktritt vom Amt als dessen Präsident. In kurzer Zeit entwickelte sich der langsam in den Dunstkreis der NSDAP abgleitende RLB zu einem der hartnäckigsten politischen Gegner Brünings.20 Die Industrie dagegen zeigte Brüning und seinem Kabinett gegenüber mehr Fingerspitzengefühl. Zwar betrachteten viele Industrielle Brünings enge Verbindungen zur christlichen Arbeiterbewegung mit Skepsis und kritisierten seine mangelnde Bereitschaft, die entscheidende Frage der Lohnkosten anzugehen. Aber der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI), zunächst unter der Leitung von Carl Duisberg und danach angeführt von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, vermied geflissentlich jede Einmischung in innenpolitische Auseinandersetzungen und wies häufig Vertreter aus den eigenen Reihen in die Schranken, die wie Paul Reusch den „möglichst scharfen Widerstand“ gegen die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung forderten. Im September 1931 war es vorbei mit der selbstauferlegten Zurückhaltung des RDI gegenüber dem Kabinett Brüning, als er zusammen mit zehn anderen einflussreichen Wirtschaftsverbänden eine gemeinsame Erklärung veröffentlichte, welche die Regierung für ihr Versagen in entscheidenden wirtschaftspolitischen Fragen scharf kritisierte. Damit fügte der RDI seine Stimme jenem Chor hinzu, der einen Kurswechsel der Regierung verlangte.21

Diese Entwicklung blieb Schleicher, dem Architekten des Kabinetts Brüning, nicht verborgen. Er war vor allem zutiefst besorgt über den sensationellen Durchbruch der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 und ahnte, dass die sich verschärfende Wirtschaftskrise den Nationalsozialisten in die Hände spielen würde. Schleicher erkannte, dass man an dem Führer der Nationalsozialisten nun nicht länger vorbeikam. Folgerichtig begann er mit der Ausarbeitung einer Strategie, welche die nationalsozialistische Bewegung in die Regierungsverantwortung einzubinden gedachte, um ihr den Vorteil als Oppositionspartei zu entziehen und auf diese Weise ihren Radikalismus abzuschwächen. Eine Regierungsbeteiligung der NSDAP, so Schleichers Kalkül, würde außerdem den deutschen konservativen Eliten den Mantel der Legitimierung durch das Volk umhängen, die nötig war, um die von jenen Eliten geplanten grundlegenden Veränderungen des deutschen Verfassungssystems durchzusetzen und ihnen die gesellschaftliche und politische Vorrangstellung der Vorkriegszeit zurückzugeben.22 Erst im Frühsommer 1931, mit dem Ausbruch der deutschen Bankenkrise und einer neuen Runde von Notverordnungen, die weitere Härten für die Bevölkerung und einen dramatischen Popularitätsverlust Brünings mit sich brachten, waren Schleicher und seine Entourage in der Lage, Druck auf Brüning auszuüben und ihn zu einer Ausweitung seiner Regierung nach rechts zu zwingen.23 Da sich auch Hindenburg zugunsten einer Reorganisation der Reichsregierung unter Einschluss der radikalen Rechten aussprach, glaubte Brüning keine andere Wahl zu haben, als ein Treffen mit dem DNVP-Vorsitzenden Alfred Hugenberg anzuberaumen, das nach einigem Zaudern am 27. August 1931 stattfand. Es verlief allerdings nicht ganz so wie geplant. Ohne Hugenberg davon zu informieren, hatte Brüning den Zentrumsvorsitzenden Ludwig Kaas zu der Besprechung hinzugebeten. Dies verwandelte das von Hugenberg erhoffte private Treffen mit dem Reichskanzler in eine Sitzung der Parteiführungen und verringerte damit die Chancen Hugenbergs, auf Brüning Einfluss zu nehmen, erheblich. Erbost über das Vorgehen des Reichskanzlers erging sich Hugenberg in den gewohnten Plattitüden über das Versagen und die mangelnden Führungsqualitäten der Regierung, die das Reich so dringend benötigte, und die Weigerung Brünings, über einen Ausweg aus der Sackgasse, in der die Nation steckte, eine ernsthafte Diskussion zu führen. Brüning dagegen konnte aufatmen. Hindenburgs und Schleichers Forderung auf eine Regierungserweiterung nach rechts war erfolgreich abgewehrt.24

Brünings Atempause hielt nicht lange vor. Am 10. Oktober 1931 versammelten sich Hitler, Hugenberg und Vertreter anderer rechter Organisationen in Bad Harzburg. Dieses Treffen kam einer Kriegserklärung an die Regierung Brüning gleich und legte den Grundstein für den erhofften Transfer der Macht an eine vereinte deutsche Rechte. Die in Harzburg demonstrierte Einigkeit erwies sich allerdings als brüchig, vor allem angesichts der Spannungen zwischen der NSDAP und traditionelleren konservativen Vertretern der nationalen Front. Brüning überstand ein am 16. Oktober gestelltes Misstrauensvotum nach einer etwa drei Tage vorher erfolgten Kabinettsumbildung.25 Doch in vielerlei Hinsicht waren die Zusammenkunft in Harzburg und der Sieg des Reichskanzlers im Reichstag nur der Auftakt zum ultimativen Test für Brüning und den Umgang mit den Rechtsradikalen: Die Neuwahl des Reichspräsidenten standen vor der Tür. Hindenburgs siebenjährige Amtszeit ging im Frühjahr 1932 zu Ende, und die verschiedenen Fraktionen im rechten Lager brachten sich in Position, um die erhoffte neue Ordnung mitzugestalten, die aus den Ruinen der Weimarer Demokratie aufsteigen sollte. Brüning war überzeugt, dass nur Hindenburgs Wiederwahl den Aufstieg von Nationalsozialismus und Radikalnationalismus verhindern könne. Er überzeugte den amtierenden Präsidenten, sich zur Wiederwahl zu stellen und wurde zur treibenden Kraft seines Wahlkampfes, unterstützt durch eine lose Koalition aus Sozialdemokraten, verschiedenen liberalen Parteien der Mitte und moderaten Konservativen, die aus Protest gegen Hugenbergs Führungsstil die DNVP verlassen hatten.26 Hitler andererseits schien zunächst zögerlich, gegen eine Persönlichkeit wie Hindenburg anzutreten, und erklärte erst in letzter Minute seine Kandidatur.27 Der Joker in diesem Spiel war Theodor Duesterberg, der Führer des rechtsgerichteten Veteranenverbandes Stahlhelm, der als Hugenbergs Erfüllungsgehilfe eine Mehrheit für Hindenburg im ersten Wahlgang verhindern sollte.28

Die Kandidatur Duesterbergs sollte sich als eine der schicksalhaften Episoden in der Geschichte der späten Weimarer Republik erweisen, sie beeinflusste die nachfolgenden Ereignisse tiefgreifend. Hätten Hugenberg und der Stahlhelm Duesterberg nicht als den vermeintlichen Kandidaten der nationalen Opposition aufgestellt, wäre Hindenburg mit großer Wahrscheinlichkeit im ersten Wahlgang als Reichspräsident wiedergewählt worden. Die Kandidatur Duesterbergs hatte aber zur Folge, dass Hindenburg im ersten Wahlgang am 5. April nur 49,6 Prozent der Stimmen erhielt und deshalb zur Stichwahl antreten musste, bei der Hitler fast 2,5 Millionen Stimmen hinzugewinnen konnte, weshalb er sich als eigentlicher Sieger der Wahl erklären konnte.29 Dass Hindenburg im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verpasst hatte, gab den Nationalsozialisten darüber hinaus die Möglichkeit, ihre Propagandakampagne bei den Landtagswahlen in Preußen, Bayern und Württemberg Ende April gegen die Parteien fortzusetzen, die im ersten Wahlgang Hindenburg unterstützt hatten – eine Aussicht, die besonders NSDAP-Propagandachef Joseph Goebbels in große Freude versetzte. Gleichzeitig belastete der verlorene erste Wahlgang das Verhältnis zwischen Hindenburg und Brüning und bot Schleicher Ende Mai 1932 eine Gelegenheit, Brünings Stellung als Reichskanzler zu unterminieren.30

Die Einschätzung der Amtszeit Brünings ergibt eine gemischte Bilanz. Einerseits war Brünings konservative Steuer- und Finanzpolitik ohne Zweifel ungeeignet, um die Anfang der 1930er Jahre über Deutschland hereinbrechende Krise zu bekämpfen und verstärkte die Auswirkungen der Großen Depression in praktisch allen Bereichen der deutschen Gesellschaft. Brüning war sich dieser Folgen sehr wohl bewusst, doch das von ihm in Erwägung gezogene Arbeitsbeschaffungsprogramm sollte erst in Kraft treten, nachdem er ein Ende der Reparationslasten für Deutschland verhandelt hatte. Ebenso wenig lässt sich bestreiten, dass Brünings Vertrauen auf Artikel 48 und der autoritäre Regierungsstil seiner Politik die Legitimität der republikanischen Institutionen Deutschlands schwer beschädigte und die Grundlage für deren ultimative Zerstörung durch seinen Amtsnachfolger legte.31 Doch Brüning war kein Anhänger des Autoritarismus um seiner selbst willen. Er blieb den Grundprinzipien der Weimarer Verfassung verpflichtet und wandte sich bei seiner Suche nach parlamentarischen Mehrheiten stets an die Sozialdemokraten und nicht an die antirepublikanische Rechte. Brüning hatte letztendlich eine Rückkehr zum parlamentarischen Regierungssystem, wenn auch in reformierter Form, im Auge, um es in Situationen wie der Wirtschaftskrise zu Anfang der 1930er Jahre handlungsfähiger zu machen.32 In vielerlei Hinsicht war Brünings krönende Errungenschaft als Reichskanzler der Rückzug der alliierten Truppen aus dem Rheinland im Sommer 1930. Doch dieses Ereignis befreite die konservativen Eliten Deutschlands andererseits von den äußeren Zwängen, die sie bis dahin davon abgehalten hatten, Deutschlands demokratische Institutionen durch eine ihren Werten und Interessen gemäße autoritäre Regierung zu ersetzen.33

Aufbruch und Abgründe

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