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3. Das Zwischenspiel Schleicher
ОглавлениеKurt von Schleicher ist bis heute eine umstrittene Figur in der Geschichte der späten Weimarer Republik. Für manche verkörpert er die preußische Tradition eines antidemokratischen, autoritären Politikverständnisses; anderen gilt er als die letzte Hoffnung der Weimarer Republik gegen eine Machtübernahme der Nationalsozialisten. Tatsache ist jedoch, dass Schleichers Optionen als Reichskanzler Hitler gegenüber äußerst gering waren. Schleichers „Zähmungspolitik“ hatte durch das Ergebnis der Novemberwahlen und das Unvermögen der bürgerlichen Parteien, ihre Differenzen beizulegen und eine vereinigte Front gegen die Nationalsozialisten zu bilden, eine schwere Niederlage erlitten. Dadurch wurde Schleichers Verhandlungsposition Hitler gegenüber erheblich geschwächt, und er konnte sich gegen die Machenschaften der Entourage Papens und Hindenburgs nur schwer behaupten. Seit den 1920er Jahren hatte Schleicher die politische Karriere Hitlers verfolgt und konnte das Faktum, dass dieser nun der Führer der größten politischen Partei Deutschlands war, kaum ernst nehmen. Besonders verärgerten ihn Hitlers Eskapaden bei den Verhandlungen im Frühjahr 1932 um eine Verlängerung der Amtszeit Hindenburgs, die dem Reichspräsidenten die Strapazen des Wahlkampfs ersparen sollten. In seiner privaten Korrespondenz nach dem Zusammenbruch dieser Verhandlungen ließ er seiner Wut über Hitler freien Lauf und erklärte ihn für absolut ungeeignet für das Amt des Reichspräsidenten.47 Hitlers Verhalten beim Treffen der beiden Anfang August und während der Sitzung mit Hindenburg in der darauffolgenden Woche hat Schleichers Befürchtungen nur bestätigt. In der Zwischenzeit war ihm dagegen Gregor Strasser, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und zweitwichtigste Figur in der nationalsozialistischen Führungsriege, aufgefallen. Sei es aufgrund des auffallend konzilianten Tons einer ausgesprochen öffentlichkeitswirksamen Rede Strassers vor dem Reichstag im Mai 1932 oder wegen seines Auftretens bei dem oben erwähnten Treffen zwischen Schleicher und Hitler – Strasser sollte bald eine zunehmend wichtige Rolle in Schleichers politischem Kalkül spielen, nachdem dieser das Amt des Reichskanzlers angenommen hatte.48
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen spielte Schleicher mit der Idee der Bildung einer breiten politischen Allianz – der sogenannten Querfront – von der sozialistischen und der christlichen Arbeiterbewegung über das Zentrum, die BVP und die Reste der protestantischen Mittelparteien bis hin zum linken Flügel der NSDAP. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wie eng der Kontakt zwischen Schleicher und Strasser während der Kanzlerschaft Papens war; immerhin erwähnte Schleicher Strasser nur wenige Tage vor seinem Amtsantritt als Reichskanzler bei einer Abendgesellschaft mit dem französischen Botschafter in Deutschland, André François-Poncet. Zu diesem Zeitpunkt war Schleicher optimistisch, dass Strasser innerhalb der NSDAP Unterstützung für ein neues Kabinett organisieren könne, sollte er selbst mit der Bildung einer neuen Reichsregierung beauftragt werden.49 Gleichzeitig führten Schleicher und einige Mitglieder seiner Entourage Sondierungsgespräche mit den Führern des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), der Dachorganisation der den Sozialdemokraten nahestehenden Freien Gewerkschaften.50 Kern dieser Verhandlungen war die feste und unwiderrufliche Zusage zu einem Arbeitsbeschaffungsprogramm und weitreichenden, durch die öffentliche Hand geförderten Projekten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die unter der Ägide des von Schleicher neu ernannten Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung Günther Gereke implementiert werden sollten.51 Wie viel Zutrauen Schleicher tatsächlich in diese Verhandlungen setzte, bleibt der Mutmaßung überlassen.52 Das gesamte Projekt fiel schließlich in der ersten Dezemberwoche in sich zusammen, als Strasser Hitler nicht davon überzeugen konnte, das Kabinett Schleicher zu unterstützen. Strasser trat daraufhin von all seinen Parteiämtern, aber nicht von seinem Reichstagsmandat zurück, verließ Berlin und trat eine Urlaubsreise nach Italien an.53 Als er in der ersten Januarwoche 1933 nach Berlin zurückkehrte, nahm er an einigen hochrangigen Besprechungen teil, unter anderem an einer Privatkonferenz mit dem Reichspräsidenten, bei der ihm die Vizekanzlerschaft in Schleichers Kabinett und das Amt des preußischen Ministerpräsidenten angeboten wurden.54 Doch die Gewerkschaftsführer hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon von dem Projekt zurückgezogen, zweifellos unter dem Druck des SPD-Vorstands, der Schleicher aufgrund seiner Rolle bei der Ersetzung der preußischen Regierung noch immer misstraute.55 Strasser wies es weit von sich, eine Abspaltung des gemäßigten NSDAP-Flügels orchestrieren zu wollen, und hielt weiterhin an der Überzeugung fest, dass eine Regierungsbeteiligung seiner Partei ihrer Stärke im Reichstag entsprechen müsse.56
Schleichers Angebote an die sozialistische Arbeiterbewegung und Spekulationen über ein weitreichendes, von der öffentlichen Hand finanziertes Arbeitsbeschaffungsprogramm lösten bei Deutschlands Wirtschaftseliten Besorgnis aus. Reusch und die Führer der deutschen Schwerindustrie nahmen in ihrer Kritik an Schleichers Sozial- und Wirtschaftspolitik kein Blatt vor den Mund. Ihr Unbehagen steigerte sich noch, als sich Schleicher Mitte Dezember 1932 in einer Rundfunkansprache an die Nation nicht eindeutig zugunsten des kapitalistischen Wirtschaftssystems aussprach. Sie befürchteten, ein weitreichendes Arbeitsbeschaffungsprogramm setze eine neue Inflationsspirale in Gang.57 Der Kanzler, der sich bei der deutschen Industrie besonders beliebt gemacht hatte, war Papen, und in diesem Sinne setzten der RDI und andere industrielle Interessenorganisationen nun alles in ihrer Macht Stehende daran, Schleicher zur Fortsetzung von Papens Kurs zu bewegen.58 Während Papen auch zu den organisierten Agrariern ein enges Verhältnis gepflegt hatte, reagierten diese nun empfindlich auf Schleichers Weigerung, aus Sorge vor negativen Auswirkungen auf Konsumenten und dem Protest der organisierten Arbeiterschaft die Zolltarife auf landwirtschaftliche Produkte zu erhöhen. Aber besondere Empörung löste Schleichers Plan aus, arbeitslose Deutsche auf bankrotten ostelbischen Gutsbetrieben anzusiedeln. Der Reichslandbund, die größte und einflussreichste agrarische Interessenvertretung Deutschlands, antwortete bei einer Vorstandssitzung Mitte Januar 1933 auf diesen Vorschlag mit einer regelrechten Kriegserklärung an die Regierung Schleicher. Das setzte eine Abfolge von Ereignissen in Gang, die letztlich zu Schleichers Rücktritt als Reichskanzler führten.59 Mitte Dezember 1932 brachte sich Papen unterdessen mit einer äußerst öffentlichkeitswirksamen Rede im Deutschen Herrenklub, in der er sich erneut für eine Regierungsbeteiligung der NSDAP aussprach, geschickt wieder zurück ins politische Rampenlicht. Daraufhin wurde am 4. Januar 1933 eine geheime Besprechung zwischen Papen und Hitler im Haus des Kölner Bankiers Kurt von Schröder arrangiert.60 Schleicher erfuhr erst am nächsten Tag von diesem Treffen, als ein Foto der beiden Teilnehmer in einer Berliner Zeitung erschien, das sie beim Betreten des Hauses von Schröder zeigte. Doch Papen konnte Schleichers Besorgnisse offensichtlich zerstreuen, indem er dem Reichskanzler versicherte, nur im besten Interesse der Regierung zu handeln. Schleicher erkannte Papens wahre Absichten erst, als es schon zu spät war.61 Für Hitler dagegen hätte es keinen besseren Moment für Papens Intervention geben können. Zwar hatte er verhindert, dass sich Strassers Rücktritt zu einer Abspaltung der moderaten Nationalsozialisten auswuchs, aber die Stimmung in der Partei war denkbar schlecht und die Parteifinanzen im Keller. Zu diesem Zeitpunkt war es völlig offen, ob die NSDAP ihren Schwung und ihre Dynamik würde zurückgewinnen können.62
Es ist schwer nachzuvollziehen, warum Schleicher nichts von Papens Intrigen ahnte. In einer Reihe von Pressekonferenzen Mitte Januar 1933 äußerte sich Schleicher optimistisch über die unmittelbare politische Zukunft, und nichts deutete darauf hin, dass er in Bezug auf seine eigene Situation einen Druck verspürte. Gleichzeitig wies er Gerüchte zurück, er arbeite zusammen mit Strasser auf eine Abspaltung des moderaten Flügels der NSDAP hin, und begründete dies mit der gescheiterten Sezession der linken DNVP-Vertreter 1929/30.63 In der Zwischenzeit war Papen damit beschäftigt, Verbündete für den Sturz des Reichskanzlers zu finden. Nicht nur traf sich Papen in der zweiten und dritten Januarwoche bei zahlreichen Gelegenheiten heimlich mit Hitler, er nahm auch Kontakt mit Hugenberg von der DNVP und Franz Seldte vom Stahlhelm auf. Doch anders als der unerschütterliche Papen war keine der beiden Organisationen bereit zu einem Arrangement mit den Nationalsozialisten. Hugenberg war mehrfach von Hitler brüskiert worden, zunächst 1929 beim Volksbegehren gegen den Young-Plan, dann im Herbst 1931 bei der Zusammenkunft in Bad Harzburg und schließlich bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1932. Die DNVP hatte bei beiden Reichstagswahlen 1932 einen erbitterten Wahlkampf gegen die NSDAP geführt, und innerhalb der Partei gab es ein nicht unerhebliches Mitgliederkontingent, angeführt von Ernst Oberfohren und Otto Schmidt-Hannover, das eine Allianz mit Hitler entschieden ablehnte.64 Das gleiche galt für den Stahlhelm, wo sich mittlerweile ernsthafte Differenzen zwischen Seldte und Duesterberg entwickelt hatten. Letzterer ärgerte sich noch immer über Hitlers Verhalten bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr.65 Papens Bemühungen um eine Einigung mit Hitler erhielten massive Unterstützung von seinen Förderern aus der deutschen Schwerindustrie, die dringend ein Ende der aus ihrer Sicht chaotischen Zustände in Berlin und ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Normalität benötigten. Dies erhofften sie sich durch die Bildung einer neuen Regierung unter Einschluss der Nationalsozialisten, aber mit Papen und nicht mit Hitler als Reichskanzler.66
Die bei Weitem wichtigste Entwicklung in der Kette von Ereignissen, die zu Hitlers Ernennung als Reichskanzler führten, war jedoch die Tatsache, dass Hindenburg selbst plötzlich einer Regierungsbildung mit Hitler als Kanzler und Papen als Vizekanzler nicht mehr abgeneigt war. Bei diesem Arrangement sollte Papen vermutlich mit Unterstützung des Reichspräsidenten die Interessen der deutschen konservativen Eliten vertreten und die NSDAP in Schach halten. Ob Hindenburgs Sinneswandel auf den Einfluss Papens und anderer Mitglieder der präsidialen Entourage zurückging oder ob der Reichspräsident auf eigene Initiative und zur Erfüllung seines Herzenswunsches – die Wiederherstellung der Einheit der deutschen Nation – handelte, muss dahingestellt bleiben.67 Schleichers Position war mittlerweile unhaltbar geworden. Am 28. Januar bat er den Reichspräsidenten ein letztes Mal um Notverordnungen, um den Reichstag ohne Ausrufung von Neuwahlen aufzulösen, aber Hindenburg entließ ihn mit wenig mehr als einer formellen Danksagung für seine Dienste.68 Zwei Tage später wurde Hitler offiziell zum Reichskanzler einer Regierung der „nationalen Konzentration“ ernannt. Papen erhielt das Amt des Vizekanzlers, flankiert von Hugenberg als Leiter sowohl des Wirtschafts- als auch des Landwirtschaftsministeriums und Seldte als Arbeitsminister. Die Bildung der neuen Regierung beruhte auf der Voraussetzung, dass die Konservativen im Kabinett, die zehn der dreizehn Kabinettsposten innehatten, in der Lage wären, Hitler zu kontrollieren und die Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung für ihre eigene politische Agenda auszunutzen. Dies erwies sich als eine fatale Fehleinschätzung. In den folgenden drei Monaten gelang es den Nationalsozialisten, ihre konservativen Verbündeten vollständig auszumanövrieren und an den Rand der Entscheidungsprozesse zu drängen. Mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes Ende März 1933 war der allerletzte, verzweifelte Versuch einer konservativen Eindämmung der NSDAP restlos gescheitert.69 Die Nationalsozialisten hatten die absolute Kontrolle über den Staatsapparat und hatten nur die noch radikaleren Kräfte innerhalb ihrer eigenen Reihen zu fürchten.