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1.2 Das Verhältnis zur biblischen Tradition

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Neben das Zusammenrücken von altkirchlicher Lehr- und reformatorischer Bekenntnisbildung tritt in der lutherischen Theologie die Betonung der Differenz zwischen der Bibel einerseits und der gesamten nachbiblischen Tradition andererseits. In der dogmatischen Lehrtradition wird daher gewöhnlich die Priorisierung der Heiligen Schrift gegenüber der gesamten Bekenntnistradition als das entscheidende Spezifikum des Luthertums ausgewiesen. Diese Auffassung, die sich ebenfalls (freilich, wie sich noch zeigen wird, in je unterschiedlicher Weise) in den zitierten Passagen aus den Verfassungen des Lutherischen Weltbundes und der Sächsischen Landeskirche niedergeschlagen hat, weist auf die Schriftlehre des Reformators zurück. Denn Luther selbst hatte ja ausdrücklich, um nur an ein signifikantes Zitat zu erinnern, »die göttlichen Worte« [sc. der Heiligen Schrift] als »die ersten Prinzipien der Christen« bezeichnet; dagegen galten »aller Menschen Worte« lediglich als »daraus gezogene Schlussfolgerungen, die auch wieder darauf zurückgeführt und daran erwiesen werden müssen«.[6] Speziell die Konkordienformel, das abschließende Stück des Konkordienbuches, hat diesen Gedanken aufgenommen. Denn sie setzt ein mit dem Hinweis, »die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments« seien »die einzige Regel |59|und Richtschnur, nach der alle Lehren und Lehrer gleichermaßen eingeschätzt und beurteilt werden sollen« (UG 673f.; BSELK 1216,9–12; 1217,8–11; vgl. UG 737; vgl. BSELK 1310,6–9; 1311,6–10).

Die weitere Entwicklung der evangelischen Schriftlehre hat freilich erwiesen, dass sich diese Verhältnisbestimmung nicht halten lässt. Dies kann hier nur skizzenhaft dargestellt werden.[7] Die im Konkordienbuch festgehaltene Bestimmung des Verhältnisses zwischen Schrift und Bekenntnis, die traditionell auf die Formel norma normans und norma normata gebracht wird und auf eine »kraft specifischen Unterschiedes allenthalben vestzuhaltende Ueberordnung der heiligen Schrift über die Symbole« hinausläuft,[8] bezog ihre Plausibilität aus einer bestimmten Unterstellung. Diese Unterstellung lautet: Strittige theologische Fragen können auf der Basis sachgerechter Bibelauslegung einer definitiven Klärung zugeführt werden. Daraus folgte zunächst eine Intensivierung der Beschäftigung mit der Bibel. Speziell seit dem Beginn des Zeitalters der Aufklärung achtete man dabei aber immer stärker darauf, sich den biblischen Texten vorurteilsfrei zu nähern. Man meinte, dass eine von allen Christen gleichermaßen akzeptierte Auslegung der Bibel nur dann möglich ist, wenn sie frei bleibt von den dogmatischen Vorgaben einer bestimmten Kirche und ihrer Tradition. Dieses Bemühen um Unvoreingenommenheit und Objektivität führte dann freilich, anders als erhofft, gerade nicht zur Freilegung eines zuverlässigen und allgemein anerkannten biblischen Fundaments, das die Errichtung einer einheitlichen theologischen Lehre erlauben würde. Die Pointe des streng objektiv-wissenschaftlichen Zugriffs auf die biblischen Texte, wie er insbesondere seit dem 19. Jh. im Horizont des Historismus erfolgte, destruierte vielmehr den Wort-Gottes-Charakter (und damit die Normativität) der Bibel, indem er deren Texte als lediglich historische Dokumente ihrer jeweiligen Entstehungszeit kenntlich machte, die als solche für sich keine größere Autorität beanspruchen können als parallel |60|entstandene nichtbiblische Dokumente. Anders formuliert: Die historisch-kritische Forschung hat jenen spezifischen Unterschied zwischen Schrift und Tradition, von dem das in Anm. 8 nachgewiesene Zitat ausging, aufgelöst.

Im modernen Protestantismus wurde auf die durch die skizzierten Vorgänge ausgelöste Krise des Schriftprinzips[9] verschieden reagiert. Hier sind zwei Reaktionsformen zu nennen. Zum einen hat die durch die historische Kritik bedingte faktische Entgöttlichung der biblischen Texte den Sinn dafür geschärft, dass die mit der Evangeliumsbotschaft gegebene Christusoffenbarung als solche vom Textbestand der sie bezeugenden Schriften zu unterscheiden ist: »Weil und sofern die Bibel die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus bezeugt, hat sie Autorität, ja partizipiert sie an der Autorität der Christusoffenbarung.«[10] Diese Differenzierung liegt auch der in Anm. 4 zitierten Verfassung der Sächsischen Landeskirche zugrunde: Das »Evangelium von Jesus Christus« wird darin, anders als in den oben zitierten Formulierungen aus der Konkordienformel, nicht mit dem Textbestand der Bibel tendenziell gleichgesetzt, sondern von der »Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments« insofern unterschieden, als gesagt wird, es sei »in« ihr »gegeben«.[11]

Von größerer Bedeutung für die Themenpräzisierung ist der seit dem Reformationszeitalter zu beobachtende Bedeutungszuwachs der Bekenntnisschriften, die ursprünglich nur den Rang einer norma normata zugewiesen bekommen hatten. Dabei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, ein religionspolitischer (a) und ein theologischer (b).

a) In der frühen Neuzeit, also in der Phase zwischen dem konfessionellen Zeitalter und dem Ende des Alten Reiches, wurde die Nachordnung der Bekenntnisschriften gegenüber der Bibel durch die religionspolitische Relevanz der symbolischen Bücher mehr als kompensiert. Denn der mit Recht als das »wichtigste Verfassungsdokument des Alten Reichs bis 1806«[12] bezeichnete Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555 knüpfte ja die politische Duldung |61|der Lutheraner daran, dass es sich um Angehörige des Augsburger Bekenntnisses handelte, also um Christen, die sich zu jener Schrift bekennen, die bis heute zu den Lehrgrundlagen fast aller lutherischer Kirchen gehört.[13]

b) Am Beginn des 19. Jh. kam es dann, im Horizont der seit der Aufklärung zunehmend etablierten kritischen Bibelexegese, zu einer theologischen Aufwertung der reformatorischen Bekenntnisse als maßgeblicher Bezugsgröße für die evangelische Glaubensreflexion. In diesem Zusammenhang ist die Theologie Friedrich Schleiermachers von besonderer Bedeutung. Ihm ging es freilich nicht um eine schlichte Umkehrung der ursprünglichen Verhältnisbestimmung von Bibel (als norma normans) und Bekenntnis (als norma normata). Vielmehr beruhte sein Ansatz zunächst auf einer Absage an die ältere Lehre von der Schriftautorität: »[…] mit unserer Lehre vom Kanon und von der Inspiration, als einer besonderen Wirkung des Geistes in Bezug auf den Kanon, werden wir uns doch wohl besinnen müssen, daß wir nichts hineinbringen, was mit allgemein anerkannten Resultaten einer historischen Forschung streitet.«[14] Hinzu kam die Einsicht, dass die Schriftauslegung, die der auf Glauben zielenden Verkündigung |62|zugrunde liegt, stets eingebunden ist in die Deutungsüblichkeiten einer bestimmten Frömmigkeitsgemeinschaft bzw. Kirche, deren verfasstes Bekenntnis daher die primäre Bewährungsinstanz für dogmatische Lehrsätze darstellt: »Alle Säze, welche auf einen Ort in einem Inbegriff evangelischer Lehre Anspruch machen, müssen sich bewähren theils durch Berufung auf evangelische Bekenntnißschriften und in Ermangelung deren auf die Neutestamentischen Schriften, theils durch Darlegung ihrer Zusammengehörigkeit mit andern schon anerkannten Lehrsäzen.«[15] Diese Vorordnung der Bekenntnisschriften gegenüber dem neutestamentlichen Zeugnis wird hier folgendermaßen begründet: »Durch die Schrift unmittelbar kann aber immer nur nachgewiesen werden, daß ein aufgestellter Lehrsaz christlich sei, wogegen der eigenthümlich protestantische Gehalt desselben dahin gestellt bleibt.«[16]

Von Schleiermachers Auffassung zur Autorität der Bekenntnisschriften wird in Abschnitt 2 noch die Rede sein; hier sei nur angemerkt, dass die von ihm an der eben zitierten Stelle vorgenommene Vorordnung keineswegs auf die Etablierung einer gleichsam objektiv vorgegebenen Glaubensnorm zielt. Vielmehr geht es – im Kontext der Einleitung in die Glaubenslehre, aus der der herangezogene § 27 stammt – »darum, dem Dogmatiker eine Instanz zuzuweisen, mittels derer er seine Resultate zur kirchlichen Lehrbildung in Beziehung setzen kann«.[17] Anders formuliert: Wegen ihrer »historischen Bedeutung« als »Erstgestalt des Protestantismus […] kommt den Bekenntnisschriften ein besonderer Rang zu, wenn der Dogmatiker die Resultate seiner Arbeit in den Gesamtzusammenhang der dogmatischen Arbeit seiner kirchlichen Gemeinschaft stellt«, denn: »In der Korrelation mit der Lehre der Bekenntnisschriften tritt zu Tage, inwiefern ein dogmatischer Satz eine Reformulierung oder eine modifizierende bzw. korrigierende Änderung gegenüber der reformatorisch-protestantischen Lehre darstellt, von der her sich der protestantische Geist hin zu seiner eigentümlichen lehrmäßigen Fassung entwickelt.«[18]

Die damit erwiesene Zunahme einer Relevanz der kirchlichen Bekenntnisse im Protestantismus zwischen dem 16. und dem frühen 19. Jh. bildet den Ausgangspunkt der nachstehenden Überlegungen. Darin soll nämlich exemplarisch verfolgt werden, wie dieser |63|Relevanzanspruch mit dem Grundsatz der protestantischen Freiheit verbunden wurde.

Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage

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