Читать книгу Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage - Группа авторов - Страница 19
2. Bekenntnisverbindlichkeit im Protestantismus: Zur Struktur und Geschichte eines Problems
ОглавлениеIm Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 gibt es, insbesondere im Rahmen der sog. Lutherdekade, zahlreiche Versuche einer Formulierung dessen, was gegenwärtig an der Kirchenerneuerung des 16. Jh. von Bedeutung ist.[19] Als eines von vielen diesbezüglichen Beispielen seien hier die vom Wissenschaftlichen Beirat der Lutherdekade erarbeiteten »Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017« genannt. Darin heißt es: »Die Reformation hat in einer neuen Weise den allein durch Christus gerechtfertigten Menschen als unmittelbar vor Gott stehende Person entdeckt. Sie hat Identität und Wert dieser Person allein in der Anerkennung durch Gott begründet gesehen, unabhängig von natürlicher Ausstattung (Geschlecht), gesellschaftlichem Status (Stand), individuellem Vermögen (Erfolg) und religiöser Leistung (Verdienst). So hat sie die Freiheit als wesenhafte Bestimmung dieser Person erkannt.«[20]
Mit diesen Formulierungen wird hier die Freiheit als Markenkern des lutherischen Protestantismus namhaft gemacht. Das ist historisch hochgradig plausibel. Denn es war ja der unter dem Namen Luder geborene spätere Reformator selbst, der seine die Reformation schließlich einleitende Handlung mit einer bezeichnenden Namensänderung verbunden hat: Jener Brief, den er am 31. Oktober 1517 zusammen mit den 95 Thesen an Albrecht von Brandenburg sandte, ist das erste Dokument, das er nicht mehr als Luder, sondern als Luther unterzeichnete. Mit dieser Änderung der Schreibweise seines Namens hat er einen etymologischen Zusammenhang mit dem Freiheitsbegriff hergestellt, erinnert die neue Schreibweise doch ersichtlich an das griechische Wort für frei: ἐλεύθερος/eleutheros.[21]
|64|Die letzten Formulierungen verweisen, was die Bekenntnisbindung im Protestantismus angeht, auf eine eigentümliche Ambivalenz. Einerseits nämlich fungierte die Freiheit, im Sinne der religiösen Freiheit des Christenmenschen, als ein Leitbegriff der Reformation des 16. Jh., der noch heute als rezeptionsfähig gilt. Andererseits aber führte die Entwicklung in der frühen Neuzeit, während derer die kirchliche Verfestigung des religiösen Aufbruchs maßgeblich durch die politische Obrigkeit realisiert wurde, zu einer besonderen (vielleicht so im Mittelalter unbekannten) Intensität der Bindung der gläubigen Gewissen an den Wortlaut der Bekenntnisse. Aus reformationshistorischer Sicht lässt sich das so ausdrücken: Die »Einheitlichkeit der christenmenschlichen Bekenntnisbindung in der sozio-kulturellen Verschiedenheit spezifisch relevanter Referenztexte markiert eine dem Theologumenon vom Priestertum aller Gläubigen entsprechende Form lutherischer Konfessionalität«.[22] Einfacher gesagt: Zu den realgeschichtlichen Folgen des frühreformatorischen Freiheitspathos gehörte eben auch die landesherrlich gestützte religiöse Homogenität und damit der Bekenntniszwang.[23]
Die angezeigte Ambivalenz hat die historische Dynamik der protestantischen Christentumsgeschichte – mindestens seit dem späten 17. Jh. – maßgeblich geprägt. Mehrere prominente theologiehistorische Formationen haben nämlich beansprucht, das protestantische Christentum dadurch weiterzuentwickeln, dass die im Reformationsjahrhundert etablierte, angesichts der gewachsenen Bedeutung der religiösen Subjektivität aber zunehmend als gesetzlicher Buchstabenglaube kritisierte Form der Bekenntnisbindung dem Freiheitsgedanken (wieder) nachgeordnet wird. Verdeutlicht sei dies im Folgenden |65|am Pietismus (1), der Aufklärungstheologie (2) sowie der Position Friedrich Schleiermachers (3).