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2.2 Die normative Geltung der Bekenntnisschriften in der Aufklärungstheologie

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Die deutsche evangelische Aufklärungstheologie hat ebenfalls die Notwendigkeit einer individuell verantworteten Aneignung des christlichen Glaubens betont. Dies wurde aber, anders als im Pietismus, mit einer Hochstufung der Geltungskraft menschlicher Vernunft in Theologie und Glaube verbunden. Dadurch kam es zunächst zu einer gegenüber Spener nochmals kritischeren Haltung gegenüber der Bekenntnistradition; hinzu kam eine durch die historische Erforschung der biblischen Texte möglich gewordene kritische Attitüde gegenüber der Heiligen Schrift selbst. Die von dieser Basis aus unternommenen Reflexionen der Aufklärungstheologie führten zu tiefgreifenden Umformungen der überlieferten dogmatischen Lehrbestände, Umformungen,[28] die auf dem Weg über die kirchliche Verkündigung auch das Glaubensverständnis der Christen zunehmend beeinflussten.

Es war der 1765 von Johann Joachim Spalding in sein Amt als Diakon (später Archidiakon) an der Berliner St. Nicolai-Kirche eingeführte Theologe Friedrich Germanus Lüdke, der die neue Debatte über die normative Geltung der Bekenntnisschriften anstieß.[29] In seiner 1767 (anonym) publizierten Schrift »Vom falschen Religionseifer« hat |68|Lüdke die aufklärungstypischen Argumente für eine Abschwächung der Geltungskraft der Bekenntnistexte des 16. Jh. entfaltet.[30]

»[V]erständige Gemüther […] werden leicht einsehen, daß, da die menschlichen Erkenntnisse in neuern Zeiten in allen Wissenschaften höher gestiegen sind […], sich auch nothwendig die menschlichen Einsichten über diese und jene Lehrsätze des geoffenbarten Evangeliums […] verbessern müssen.« Eine schlichte Berufung auf »unsre grauen Vorfahren« ist daher ein unplausibles Argument für ein Festhalten am alten Bekenntnis. Vielmehr gilt nach Lüdke, »daß es uns zur Sünde angerechnet werden könne, wenn wir, denen mehrern Hülfsmittel in Erforschung der heiligen Schrift, als sie hatten, durch die göttliche Forschung gegeben sind, in dieser und jener theoretischen Lehre des Christenthums [hier ist zu ergänzen: nicht] von ihnen abgehen« (39–41).

So wie schon Spener, in dessen Tradition sich der Aufklärer Lüdke explizit gestellt hat, den Hamburger Orthodoxen die Einführung eines neuen Papsttums vorgeworfen hatte, so kritisierte auch Lüdke im Blick auf die Hochschätzung der Bekenntnisse und die damit verbundene Verfestigung der (innerprotestantischen) Lehrdifferenzen,

»daß wir ein neues Pabstthum unter uns einführen, einer freien und gewissenhaften Untersuchung der Wahrheit in der evangelischen Kirche Grenzen setzen, um bloßer Nebenmeinungen willen, ob wir gleich Brüder sind, unter uns Zank seyn lassen und in dem sektirischen Geiste der Korinther sprechen wollen: Einer, ich bin lutherisch, der andere ich bin calvinisch, der dritte ich bin christisch [vgl. I Kor 1,12]« (63).

Der von Lüdke kritisierte intolerante Glaubenseifer, der gerade auch die »Nebenmeinungen« der in den Bekenntnisschriften enthaltenen konfessionsspezifischen Lehren zum unveräußerlichen Bestandteil der Rechtgläubigkeit erhebt, boykottiert nicht nur die stets nötige Weiterentwicklung der christlichen Lehre; er verfehlt vor allem die eigentliche Pointe des christlichen Glaubens. Denn er »hindert […] mit dem aufgehaltenen Wachsthum einer gründlichern Erkentniß |69|im Christenthum den Wachsthum einer gereingtern und gewissenhaftern Tugend« (140). – Das dogmatische Innovationsinteresse der Aufklärungstheologen wurde also von Lüdke theologisch mit dem Hinweis auf die reformatorische Kritik am päpstlichen Anspruch auf Lehrhoheit – und insofern im Rekurs auf das protestantische Freiheitsprinzip – gerechtfertigt. Aus juristischer Perspektive – und damit ist erneut die oben schon erwähnte religionspolitische Relevanz der symbolischen Bücher angesprochen – ergab sich freilich das Problem einer Spannung zwischen theologischen Neuerungen und der 1555 bzw. 1648 geschaffenen konfessionspolitischen Situation im Reich, die, was die rechtliche Duldung der Protestanten anging, die Verbindlichkeit der reformatorischen Bekenntnisse für die öffentliche Lehre in den evangelischen Territorien prinzipiell voraussetzte. Ein stets wiederholtes Argument gegen eine Einschränkung der Bekenntnisgeltung lautete daher: »Die reichsrechtliche Anerkennung des Protestantismus basiert auf dem Bekenntnis zur Augustana. Lossagung von dieser Grundlage könnte leicht katholischen Reichsständen Vorwand werden, die Garantien des Augsburgischen resp. Westfälischen Friedens zurückzunehmen.«[31]

Ein prominenter Versuch, die um der evangelischen Freiheit willen unaufgebbare Offenhaltung einer Weiterentwicklung der theologischen Lehre mit den reichsrechtlich verankerten politischen Stabilitätsinteressen auszugleichen, stammt von Johann Salomo Semler. Nach Semlers Auffassung erstreckte sich die Verbindlichkeit der Bekenntnisse des 16. Jh. (lediglich) auf die öffentliche kirchliche Verkündigung, ohne zugleich die privaten Glaubensüberzeugungen aller Christen gleichzeitig umfassend zu normieren.[32] Die der öffentlichen Religionsverkündigung zugrunde liegenden Lehren sind danach lediglich ein staatlich garantierter Rahmen, innerhalb dessen sich die individuellen Glaubensüberzeugungen frei, d.h. ohne Gewissenszwang, entfalten können.[33] Die faktisch bestehende Differenz zwischen dem persönlichen Glauben einerseits und der traditionellen kirchlichen Lehre andererseits hat Semler mit seiner Unterscheidung |70|von Religion und Theologie konzeptualisiert; die individuelle Religiosität des einzelnen Christen sollte dadurch entkoppelt werden von der staatlich sanktionierten christlichen Lehre sowie von den wissenschaftlichen Debatten der Fachtheologen.[34] Damit waren die individuelle Glaubensfreiheit sowie die fachtheologische Kritik an den Bekenntnisschriften und die Debatten über ihre Verbindlichkeit religionspolitisch neutralisiert und mit dem landesherrlichen Interesse an einer Kanalisierung der religiösen Individualisierung und Pluralisierung prinzipiell vermittelt.

Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage

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