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Zur judenpolitischen Strategie der 9/11-Terroristen
ОглавлениеMichael Wolffsohn
Gekonnt geplant oder nicht – die islamistischen 9/11-Mega-Terroristen waren teuflische, meisterliche Strategen. Sie fanden schnell zahlreiche und ebenfalls erfolgreiche islamistische Nachahmer. Sie haben diejenigen inspiriert, die sie danach kopiert oder variiert haben. Nicht zuletzt judenpolitisch gelang ihnen – vielleicht nicht subjektiv konzipiert, doch objektiv, im Sinne von empirisch, realisiert – eine erhebliche Erweiterung des ihre Gewalt legitimierenden Instrumentariums. Wie das, wo sie selbst doch weder Israel noch gar die Juden als Rechtfertigung ihrer Verbrechen erwähnten? Sie konnten sich auf alte und neue, rechte und linke Antisemiten, verstanden als Judenfeinde, verlassen.
„Die Juden sind schuld!“ Auf diesen Unsinn der sozusagen klassischen Antisemiten ist stets Verlass. So auch nach 9/11. Prompt meldeten sich Scharen derjenigen zu Wort, die genau wussten, dass ausgerechnet an jenem Unglückstag im „verjudeten“ New York keine oder kaum Juden ins World Trade Center kamen – weil sie (angeblich) vom israelischen Geheimdienst Mossad gewarnt worden waren. Manche Noch-Besserwisser behaupteten sogar, der Mega-Terror von 9/11 wäre (außer, versteht sich, von der CIA) vom Mossad inszeniert worden. Hirngespinste dieser Art wurden, wohlgemerkt, nicht nur von Lieschen Müller, Otto Normalverbraucher oder (wie ich selbst erlebt habe) bei Abendessen in feiner Gesellschaft verbreitet. Selbst ein ehemaliger Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Andreas von Bülow, zum Sozialdemokraten mutierter Spross eines deutschen Uradelsgeschlechtes, stieß, dieses Leitmotiv kaum variierend, in das Antisemiten-Horn. Überall also lauerten „böse Juden“, die nicht einmal davor zurückschreckten, Muslime zu manipulieren, um sie für ihre niederträchtigen Zwecke zu missbrauchen. Einmal mehr und immer wieder lautete die Parole: wider die „jüdische Weltmacht“. Auf diese Weise war nicht mehr nur der jüdische Staat, Israel, der Schurke, sondern es waren die Juden. Somit nahm Antisemitismus die Gestalt von Antijudaismus an, statt „nur“ im Gewand von Antiisraelismus und Antizionismus daherzukommen.
So konnten Islamisten, ihre Unterstützer und nützlichen Idioten, im Laufe der 9/11 folgenden globalen Debatte ihren Terror, sprich: ihren Angriff auf das zivile Alltagsleben des Feindes, als defensiven Akt darstellen, dem weitere folgen dürften. Sie folgten bekanntlich. Für diesen Terror gibt es überdies eine weit über den israelisch-palästinensisch-arabischen Konflikt hinausführende, aus dem traditionellen Islam abzuleitende innerislamisch-religiöse Rechtfertigung. Sie betrifft die Theologie, das Verhältnis von Muslimen und Juden ganz allgemein, denn der Koran sowie die mündlich überlieferten Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed (Hadith) enthalten teils krass Judenfeindliches. Man denke beispielsweise an Sure 2, Verse 65-66, wo Juden von Gott (Allah) in Affen und Schweine (also in nicht koschere Tiere) verwandelt werden. In der Prophetenbiografie Ibn Ishaqs wird Mohammeds Vertreibung zweier jüdischer Stämme aus Medina ebenso preisend beschrieben wie das von ihm gebilligte und beobachtete Massaker an den Männern des dritten jüdischen Stammes der Stadt, der Banu Quraiza. Daraus folgt: Lange vor und unabhängig vom islamisch-arabisch-palästinensisch-israelischen Konflikt rechtfertigt bereits der frühe Islam Gewalt gegen Juden. Freilich nicht „nur“ gegen Juden, aber wenn man sich gegen eine Gruppe besonders „wehren“ müsse, dann gegen diese. Davon zeugen die Attentate in Djerba (2002) sowie vor allem in Frankreich. Man denke an das Attentat vom März 2012 vor einer jüdischen Schule in Toulouse, an Paris im Januar 2015, ebenfalls in Paris an die Ermordung der 87-jährigen, an den Rollstuhl gefesselten Holocaustüberlebenden Mireille Knoll im März 2018 und so weiter.
Die Geografie, Demografie, Ideologie, Soziologie und Ökonomie der 9/11-Terroristen ebenso wie die der sie variierend nachahmenden Islamisten ist analytisch und strategisch aufschlussreich – bezogen auf Islamisten und westeuropäische Gesellschaften. In aller Kürze: Die große Mehrheit der 9/11-Terroristen stammte aus Saudi-Arabien, die meisten ihrer Nachfolger waren einheimische, „hausgemachte“ (homegrown), in und durch Westeuropa geprägte Terroristen.
Fast alle Nahost-Terroristen entstammten dem nationalen Wirtschafts- oder Bildungsbürgertum, das jedoch von der politischen Teilhabe ausgeschlossen war und (mit der Ausnahme von Tunesien) überall noch ist. Das Quasi-Lehrbuch politischen Wandels zur Herrschaft des Bürgertums bietet zwei denkbare Reaktionen: Revolution oder Reform. Letzteres strebten die gescheiterten bürgerlichen Rebellen, deren Ziel die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie war, im Rahmen des Arabischen Frühlings an. Die „revolutionären“ 9/11-Islamisten hingegen entschieden sich für Terror als Ersatz-Revolution. Ihre Strategie war subtil: Sie hatten richtig erkannt, dass sie im Zentrum ihres Feindes, in Saudi-Arabien, erfolglos bleiben würden. Daher attackierte diese Speerspitze der terroristisch revolutionären saudischen Bourgeoisie den zivilen und vorhersehbar verwundbaren Lebensnerv der amerikanischen Schutzmacht ihres innenpolitischen Feindes: der saudischen Monarchie und Aristokratie. Die Botschaft war eindeutig: Wenn ihr eure Hilfe für unsere einheimischen Reaktionäre fortsetzt, machen auch wir weiter. Die US-Administrationen ließen sich nicht erpressen, wohl aber die spanische Regierung nach dem Al-Qaida zuzuschreibenden Mega-Terror in Madrid, im März 2004. Schnell zog sie ihre Soldaten aus dem Irak ab und ließ die Amerikaner im islamistischen „Bombenregen“ stehen. (Deutschland hatte sich gleich ge- und verdrückt.). Das Signal, das auf diese Weise an die Islamisten gesandt wurde, lautete: Terror lohnt sich.
Die hausgemachten westeuropäischen Islamisten leben in jeder Hinsicht, wie die Mehrheit der westeuropäischen Muslime, am Rande der Mehrheitsgesellschaft. Sie tun dies fremd- und (!) selbstverschuldet. Die Fremdschuld: Unbestreitbar sind sie Opfer evidenter gesellschaftlicher und „rassistisch“ ideologischer (Fehl-)Entwicklungen in Westeuropa. Sie sehen sich als Märtyrer oder zumindest in der totalen Defensive, aus der sie – sehr wohl verständlich – mit Hilfe einer Offensive hinauswollen. Ebenfalls unbestreitbar kapseln sie sich, wie viele ihrer Glaubensgenossen, von der Mehrheitsgesellschaft willentlich ab („Parallelgesellschaften“). So wurde ihre Religion, der Islam, mentaler Rettungsanker dieser schuldlos-schuldigen Entwürdigten.
Es ist ein Islam, der sich spätestens seit 1979 mit der Islamischen Revolution im Iran im Februar und dem Sturm auf die Große Moschee von Mekka im November radikalisiert und brutalisiert hatte und den religiös begründeten Terror unter anderem nach Westeuropa exportierte. Er ergänzte den seit 1969 potentiell zum westeuropäischen Alltag gehörenden, situationell aktiven, vornehmlich auf jüdische und israelische Ziele gerichteten weltlich-nationalistisch-palästinensischen Terror. Die Folge: In der westeuropäischen Mehrheitsgesellschaft verfestigte sich – vor der Renaissance des Rechtsterrorismus in den 1980er Jahren – das Image, dass der Islam mit Terror gleichzusetzen ist. Wohlgemerkt: Die Gleichsetzung der Religion mit Terror bedeutete nicht, dass alle Muslime als Terroristen gesehen werden, aber sie verankerte dennoch das Bild in den Köpfen der Menschen, dass „(fast) alle Terroristen Muslime sind.
Dass die Mehrheit der Muslime Westeuropas keine Terroristen sind, belegen Täterstatistiken. Umfragen wiederum dokumentieren, dass ein erschreckend großer Anteil der westeuropäischen Muslime, zumindest gedanklich, Gewalt als Mittel der Politik, nicht zuletzt gegen Juden im Allgemeinen und Israelis im Besonderen rechtfertigt. Diese Rechtfertigung von Gewalt ist eine Folge der binneneuropäischen Märtyrerposition, in der sich viele Muslime sehen. Unbestreitbar stellte und stellt diese Wahrnehmung eine oft von Muslimen erfahrene, also empirische Wirklichkeit dar. Aufgrund des in der Mehrheitsgesellschaft durch islamistischen Terror entstandenen Images „Islam = Terror“ und, daraus abgeleitet: „Muslim = potentieller (!) Terrorist“, begegnet man „den“ Muslimen mit Misstrauen und Distanz. Beides nehmen Muslime natürlich wahr, und das wiederum bestätigt erst recht bei ganz und gar unschuldigen Muslimen – und das sind die allermeisten – die Behauptung der Extremisten, dass „alle“ Muslime in und vonseiten der westlichen Gesellschaft „Opfer“ wären. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen: Diejenigen, die zwischen Integration und Konfrontation beziehungsweise Defensive und Offensive schwanken, schließen sich den Extremisten an. Die einen eher gedanklich, die anderen aktiv. Der beschriebene und durch den modernen, medialen Alltag erleichterte Überschwappeffekt von Nahost nach Westeuropa forciert den Weg von Passivität und Defensive zu Aktivität und Offensive.
Wie viele ihrer nahöstlichen Glaubensgenossen und (Hand aufs Herz) wie unendlich viele Nicht-Muslime in Westeuropa betrachten in Europa lebende Muslime „die“ einheimischen Juden als Fünfte Kolonne Israels. Muslime sehen „die“ Juden zudem auch als Konkurrenten im „Wettbewerb der Opfer“. Für (wie?) viele Muslime sind die jüdischen Opfer schon lange tot, also weg. Sie aber sind da, hier und jetzt. Sie stellen daher Überlegungen an, wie: Wer ist gegenwärtig als Opfer zu sehen? Das sind jetzt sie, die Muslime in Deutschland, Europa und Nahost. Warum also die ständige deutsche und teils auch gesamteuropäische Selbstzerfleischung wegen des Holocaust. Holocaust? Ist das nicht überhaupt eine Erfindung der Juden, um Mitleid und Geld von Nichtjuden zu ergattern? „Die“ Juden und Israel hätten doch, verdammt noch mal, Wiedergutmachung erhalten, säßen fest im Sattel, und mit westlicher Hilfe, allen voran amerikanischer und deutscher, habe Israel eines der stärksten Militärs der Welt. Gegen Juden und besonders Israel Gewalt anzuwenden, sei daher absolut legitim.
Israel und die Mehrheit der Diasporajuden sehen das alles natürlich ganz anders. Der jüdische Staat beantwortet Gewalt mit oft erheblich stärkerer Gegengewalt. Dominanz als Abschreckung. „Nie wieder Opfer!“ Besser einmal mehr und auch präventiv zuschlagen als geschlagen oder gar besiegt und damit vernichtet zu werden. Gewalt – aktiv, reaktiv und erst recht präventiv – gilt bei der heute strukturell pazifistisch ausgerichteten Mehrheit insbesondere in Deutschland, aber auch in anderen westeuropäischen Gesellschaften als illegitim. Ganz besonders Schwächeren gegenüber. Und, so die im Raum stehende Frage: Sind „die“ Muslime nicht die Schwächeren? Ist folglich von ihnen ausgehende Gewalt nicht eigentlich strukturell bedingt, wenngleich nicht situationell reaktiv zu bewerten – und damit legitim, sprich: gerechtfertigt?
Diese und ähnlich Gedanken kursieren in Westeuropa seit Jahrzehnten, schon lange vor 9/11. Sie wirken, Und sie ermutigen auch in Westeuropa zu muslimischer Gewalt, was nicht folgenlos blieb, was am Anschwellen verbaler und körperlicher Gewalt von Muslimen gegen Juden in Westeuropa ablesbar ist. Alle in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren unter Westeuropas Juden durchgeführten Umfragen zeigen die von Juden wahrgenommene Rangfolge antijüdischer Gewalt, sei sie verbal oder körperlich. Sie stellt sich, grob verkürzt, so dar: Die größte Gefahr geht von Muslimen aus, die zweitgrößte von Linksextremisten und knapp dahinter an dritter Stelle von Rechtsextremisten. So viel zu den Quantitäten. Ihre dergestalt faktisch gesunkene Lebensqualität bringen Westeuropas Juden sowohl in persönlichen Gesprächen als auch in Befragungen zum Ausdruck. Europäisch und staatenübergreifend nachzulesen sind die Ergebnisse von Befragungen in den regelmäßig veröffentlichten demoskopischen Daten der Fundamental Rights Agency der Europäischen Union.
Indem „die“ Juden diese Fakten benennen, diese Wahrnehmungen aussprechen und sie durch ihre Repräsentanten verstärken, brechen sie ein integrationspolitisch motiviertes Tabu westeuropäischer und besonders deutscher Politik. Den auf methodisch höchst fragwürdigen und daher zu Recht umstrittenen Zuordnungen basierenden Täterstatistiken widersprechen nämlich westeuropäische Politiker (und gerne auch Medien mit dem vermeintlich toleranten Bewusstsein). Auf eben jene Daten verweisend pochen sie darauf, dass die größte Gefahr für die Juden Westeuropas von rechts komme und weiter drohe. Die amtliche Statistik sowie die Amtsträger wissen besser als „die“ Juden, welche Gefahr sie bereits getroffen hat und ihnen weiter droht. Die Fortsetzung des Konflikts ist programmiert. 9/11 ist Gegenwart.