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Radikalisierung als Staatsraison

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Besonders perfide war und ist hierbei die Aussendung unzufriedener junger Männer in eine Art offiziell sanktionierten „fundamentalistischen Außendienst“. Privates und staatliches Geld der Golfstaaten hat weltweit zu einer grundlegenden und anhaltenden Umwertung tradierter islamischer Glaubens- und Lebensformen geführt. Die hierbei eingegangene Allianz mit westlichen Staaten ist normativ zwar absurd, war während des Kalten Krieges, besonders im Kontext der sowjetischen Präsenz in Afghanistan, aber nachvollziehbar. Weniger nachvollziehbar ist, wie anhaltend empfänglich Gesellschaften und Eliten in den Empfängerstaaten für diese Art des Ideologieexports sind. Der pakistanische Journalist Anwar Iqbal beschreibt diese selbstzerstörerische Empfangsbereitschaft für den islamistischen Virus in drastischen Worten:

Die Terroristen, die am 11. September 2001 die Vereinigten Staaten angegriffen haben, waren alles Araber, meist Saudis oder Saudi-inspiriert, doch nur wenige lasten das Saudi-Arabien an. Stattdessen wird Pakistan beschuldigt, da viele Pakistanis in ihrem Eifer, sich islamische Meriten zu verdienen, ihre Sympathien mit solchen dschihadistischen Gruppen offen zur Schau tragen. Während des Krieges in Afghanistan hat Pakistan dummerweise allen möglichen Terroristen erlaubt, sich im Land niederzulassen, Jihad zu führen und lokale Dschihadisten auszubilden. Schon in den 1990er-Jahren hatte das Land dann Zehntausende kampferprobter Dschihadisten, und bald waren sie so mächtig, dass sie ihren pakistanischen Ziehvätern ihre Bedingungen diktieren konnten.23

Was ursprünglich als Abkürzung zur Schaffung gesellschaftlichen Zusammenhalts und zur Legitimierung repressiver (Militär-)Diktaturen willkommen geheißen wurde, hat sich längst verselbständigt und droht alle muslimischen Gesellschaften auseinanderzureißen. Die staatlich sanktionierte, besonders durch die Golfstaaten vorangetriebene Radikalisierung der gesamten islamischen Welt hat in allen muslimischen Mehrheitsgesellschaften zu sehr hohen Gewaltraten und vielerorts zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt. Iqbal spricht in diesem Kontext schon 2014 von 50.000 zivilen Toten und 6.000 gefallenen Soldaten allein in Pakistan. Ähnlich hohe Opferzahlen sind für sehr viele mehrheitlich muslimische Staaten zu nennen, wobei Algerien und Indonesien besonders hohe Opferzahlen zu verzeichnen hatten.

Die mangelnde Bereitschaft, sich des problematischen islamischen Erbes kritisch anzunehmen, gekoppelt mit der Bereitschaft, die ideologischen Versprechungen des politischen Islams für bare Münze zu nehmen, hat zu einer tiefgreifenden Radikalisierung des Denkens in der islamischen Welt geführt. Das öffentliche intellektuelle Klima in allen mehrheitlich muslimischen Staaten ist geprägt von Intoleranz, Moralisierung und weitgehend akzeptierten Denkverboten.24 Das Erschreckende ist aber, dass liberale westliche Staaten diesen Phänomenen im Grunde hilflos gegenüberstehen. Angesichts hohem und stark wachsendem Migrationsdruck und einer Vielzahl militärisch erfolgloser Interventionen in der islamischen Welt sind sich politische und kulturelle Eliten im Westen einig, dass eine pauschale Ablehnung des Islams als solchen um jeden Preis zu vermeiden sei.25

Dies hat dazu geführt, dass die innerislamische „nützliche Geschichte“ einer an sich friedlichen, von wenigen Radikalen gekaperten Religion den Diskurs dominiert.26 Dass man bestehende Allianzen mit hochproblematischen Herkunftsstaaten wie der Türkei oder Saudi-Arabien für unaufkündbar hält sowie eigene normative Überzeugungen wie Religionsfreiheit, Diversität und Flüchtlingsschutz verabsolutiert, trägt ein Übriges dazu bei, dass man militärisch wie geheimdienstlich die immer gleichen, erfolglosen Kämpfe ausficht – ohne den Willen und die Bereitschaft dazu, den eigentlichen Gegner zu erkennen.

1 .Tilman Nagel, Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam (Berlin: Duncker & Humblot, 2014), S. 9f.

2 .Anwar Iqbal, „Political Islam: Why militants now symbolise Muslims”, The Dawn, Islamabad, 5. Juli 2014.

3 .In seiner großen Philippika zur Niederlage im Sechstagekrieg 1967 gegen Israel: Sadiq Jalal al-Azm, Self-Criticism after the Defeat (London: Saqi Books, 2012 [1969]), S. 38–40.

4 .Sadiq Jalal al-Azm, „Islam, Terrorism, and the West Today” und „ Time Out of Joint. Western Dominance, Islamist Terror, and the Arab Imagination”, in Collected Essays on Islam and Politics. Vol. 3: Is Islam Secularizable? Challenging Political and Religious Taboos (Berlin: Gerlach Press, 2014), S. 87–100 und S. 165–186.

5 .Bernard Lewis, „The Egyptian Murder Case [Review of Autumn of Fury: The Assassination of Sadat’by Mohamed Heikal]”, The New York Review, 31. Mai 1984.

6 .Das Unvermögen, freiheitliche Gemeinschaften aufzubauen, hat weit-reichende Gründe, siehe Albert Habib Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age 1798–1939 (Cambridge: Cambridge University Press, 1962).

7 .Lewis, „The Egyptian Murder Case [Review of Autumn of Fury: The Assassination of Sadat]”.

8 .Faisal Devji, Muslim Zion: Pakistan as a Political Idea (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2013). Siehe ebenfalls das traurige Editorial in der pakistanischen Tageszeitung The Dawn: „The effort to force a single religious identity out of half a dozen ethnic groups, each having a distinct language and culture, had the consequences that all such efforts do. Whether Jinnah wanted an Islamic state or not, however, is now irrelevant. Islam is the state religion and it is written in the Constitution. … But has this constitutional Islam helped Pakistan? Apparently, not.” Anwar Iqbal, „Pakistan ka matlab kya – II”, The Dawn, Islamabad, 26. Juli 2014.

9 .Statt vieler seien hier nur die jährlichen Analysen größerer einheimischer Forscherkollektive genannt, die von UNDP seit 2002 veröffentlicht werden: United Nations Development Programme and Arab Fund for Economic and Social Development, The Arab Human Development Report 2002: Creating Opportunities for Future Generations (New York: UNDP – Stanford University Press, 2002); Idem, Arab Human Development Report 2016: Youth and the Prospects for Human Development in a Changing Reality (New York: UNDP, 2017). Sehr eindrücklich ist auch die Analyse der sozioökonomischen Missstände in Magdi Amin et al., After the Spring. Economic Transformations in the Arab World (New York: Oxford University Press, 2012).

10 .Eine der wenigen positiven – und im Nachhinein richtigen – Einschätzungen ist: „It becomes increasingly hard, now, to explain to younger people what that day – and the days to follow – felt like in real time, as we attempted to absorb first the devastation, and shortly thereafter, its implications. But one could do a lot worse than to show them this New Yorker folio of writers reacting to 9/11. And lest anyone claim the whole nation was overcome with revanchist zeal, just read the words of Susan Sontag, clear and (though it’s a word she’d hate) courageous. I read them every year, on this day”; Jonny Diamond, „Susan Sontag reacting to 9/11 in The New Yorker remains essential reading”, The Literary Hub, New York, 11. September 2019: https://lithub.com/susan-sontag-reacting-to-9-11-in-the-new-yorker-remains-essential-reading/.

11 .„Tuesday, and After – New Yorker writers respond to 9/11”, The New Yorker, 16. September 2001.

12 .Siehe zum Beispiel: Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt (Berlin: Propyläen, 2005).

13 .Sami Zubaida, Law and Power in the Islamic World (London: I.B. Tauris, 2005), S. 167–173.

14 .Dass es gerade diese praktischen Probleme und nicht Wertedivergenzen sind, die zur Unzufriedenheit und Instabilität führen, ist in Amin et al. mit vielen Nachweisen dargelegt (Amin, After the Spring). Siehe auch Ebrahim Afsah, „Contested Universalities of International Law. Islam’s Struggle with Modernity”, Journal of the History of International Law, Vol. 10 (2008), S. 259–307.

15 .Mohammed Arkoun, Pour une critique de la raison islamique (Paris: Maisonneuve, 1984), S. 218.

16 .Fouad Ajami, The Arab Predicament. Arab Political Thought and Practice since 1967, 17. Auflage (Cambridge: Cambridge University Press/Canto, 2007), S. 68.

17 .Ebd., S. 81.

18 .Hallaq ist hier sicher der etablierteste islamistische Apologet. In expliziter Anwendung post-moderner, von Saïd wie Foucault aufgestellter Glaubenssätze, sieht er eine jahrhundertlange Verschwörung westlicher Denkhegemonie am Werk: „To write the history of Shari’a is to represent the Other. […] Our language fails us in our endeavor to produce a representation of that history. […] Incriminated in this terminological and linguistic distortion is also a vast array of concepts that, charged with latent meanings, seem to be supremely ideological. […] The term of choice is ‚reform’, articulating various political and ideological positions that inherently assume the Shari’a to be deficient and in need of correction and modernizing revision.” Wael B. Hallaq, Shari’a: Theory, Practice, Transformations (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), S. 1ff.

19 .„The violence … is certainly a troubling symptom of a contemporary Muslim political culture that imports far too much of its energy from the insults, whether perceived or real, of western ‚Zionists’ and ‚Crusaders.’” David Nirenberg, „Islam and the West: Two Dialectical Fantasies”, Journal of Religion in Europe, Vol. 1 (1) 2008, S. 3–33, hier S. 8; Cass R. Sunstein, „Why they Hate Us: The Role of Social Dynamics”, Harvard Journal of Law and Public Policy, Vol. 25 (2) 2001, S. 429–440.

20 .Hierzu erschreckend drastisch, aber korrekt Hisham Melhem, „The Barbarians Within Our Gates. Arab Civilization Has Collapsed. It Won’t Recover in My Lifetime” Politico, 18. September 2014.

21 .Rational wird hier im Sinne des rational organisierten Verfassungs- und Verwaltungsstaats der Moderne verwendet, so wie er sich erstmals in Westeuropa konstituiert und von hier seinen globalen Siegeszug angetreten hat. Zum eingeschränkten Rationalitätsbegriff im religiösen Recht siehe Baber Johansen, „The Muslim Fiqh as a Sacred Law”, in Baber Johansen (Hrsg.), Contingency in a Sacred Law: Legal and Ethical Norms in the Muslim Fiqh (Leiden: Brill, 1999), S. 1–76, hier S. 45–56. Zu den Schwierigkeiten in der islamischen Welt, diesen Vernunftbegriff zu akzeptieren, siehe Pervez Hoodbhoy, Islam and Science: Religious Orthodoxy and the Battle for Rationality (London: 1991); Russel Hardin, „The Crippled Epistemology of Extremism”, in Alber Breton et al (Hrsg.), Political Extremism and Rationality (Cambridge: Cambridge University Press, 2002), S. 3–22.

22 .Kamel Daoud, „Saudi Arabia, an ISIS That Has Made It”, New York Times, 20. November 2015.

23 .Anwar Iqbal, „Pakistan ka matlab kya – II“, The Dawn, 26. Juli 2014: https://www.dawn.com/news/1121773

24 .Hisham Melhem, „The Arab World Has Never Recovered From the Loss of 1967”, Foreign Policy, 5. Juni 2017; The Editors, „Review Article on the UNDP Arab Human Development Report: How the Arabs Compare”, Middle East Quarterly, Vol. IX (4) 2002, S. 59–67.

25 .Siehe hierzu das Vorwort in Nagel, Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam.

26 .Hierzu kritisch Tilman Nagel, „Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenzziehung”, in Hans Zehetmair (Hrsg.), Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005), S. 19–35.

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