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Narzisstische Selbstverstümmelung
ОглавлениеSeit der Invasion Ägyptens durch Napoleon ist es unzweifelhaft, dass die westliche Dominanz, auch völlig ohne böse Absicht oder tieferen Plan des Stärkeren, weitreichende Konsequenzen für den Schwächeren gehabt hat. Selbstverständlich ist die koloniale wie postkoloniale Geschichte voll von Beispielen dunkler Machenschaften, die häufig farbenfrohe Verschwörungstheorien hervorbringen, mit deren Hilfe der Zukurzgekommene sich den Zustand der Welt erklären möchte. Doch braucht es gar keine Verschwörungstheorien, um den desolaten Zustand der politischen Systeme in der islamischen Welt zu belegen. Diese sind ausnahmslos hinter den Erwartungen ihrer Bewohner zurückgeblieben, unabhängig von ihrer jeweiligen ideologischen Ausrichtung oder internationalen Sponsoren. Für den gegenwärtigen Kontext ausschlaggebend ist aber die Frage, warum sich seit spätestens 1979 diese Unzufriedenheit ausschließlich in der Forderung nach immer mehr öffentlicher Religiosität äußert und nicht zum Beispiel nach Reformen der öffentlichen Verwaltung oder nach größerer politischer Teilhabe:
Es ist interessant zu beobachten, dass die Muslimbrüder mit diesem größeren Projekt auf keinen Widerstand stoßen. Ein Gradmesser der Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft war der fast einmütige Wunsch nach Befolgung der Scharia. […] Was aber interessant ist, beide Seiten berufen sich auf religiöse Quellen und Autoritäten: Es scheint keine Säkularen zu geben.13
Die Frage nach den Ursachen dieses merkwürdigen Zustands ist zentral für ein besseres Verständnis der weiteren Entwicklung mehrheitlich muslimischer Gesellschaften, nicht zuletzt für ein besseres Verständnis der anhaltend hohen Akzeptanz von Gewalt als Mittel politischer und ideologischer Klärung. Warum weite Teile glauben, dass gerade religiöse Vorstellungen adäquate Lösungen für praktische gesellschaftliche Probleme wie etwa Wasser- und Stromversorgung, Umweltverschmutzung oder Gesundheitsversorgung bereithalten sollten, ist an sich verwunderlich.14
Aus dem Unwillen und der Unfähigkeit, in anderen Weltteilen entwickelte Lösungsansätze in die eigene, muslimische Welt einzuführen, erwachsen Entfremdung, Scham und Wut. Sehr große Bevölkerungsteile schließen aus dieser Frustration, dass Gewalt nach innen wie außen ein adäquates Mittel zur Durchsetzung tradierter Normen sei, welche als einziger Anker in einer feindlichen, unverständlichen Welt angesehen werden. Mohammed Arkoun bezeichnete diese Bereitschaft bereits vor vierzig Jahren als eine „Selbstverstümmelung, die diese Gesellschaften unter dem Vorwand, ihr Sein zu schützen, sich selber zufügen.”15
Der staatliche Kollaps in der islamischen Welt und der damit einhergehende enorme Migrationsdruck in den Westen hat die Frage nach den Ursachen dieses kollektiven Wunsches nach Selbstverstümmelung nun endgültig auch zu unserem Problem gemacht. Wie alle komplexen gesellschaftlichen Phänomene ist der moralische, gesellschaftliche und ökonomische Kollaps der arabisch-islamischen Welt nicht plötzlich passiert. Er muss vielmehr als Kulmination eines jahrhundertelangen Widerstrebens betrachtet werden, unangenehmen Realitäten der eigenen Schwäche und Rückständigkeit ins Auge zu schauen: „Daher wurden auf der Höhe des antikolonialen Kampfes Muslime zunehmend zu widerständigen Muslimen: Als andere Wege der Ausflucht und des Widerstands sich schlossen, bot die Religion den Willen zu widerstehen und die Sprache zu widersprechen.“16