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Islamismus – erkannte, unterschätzte und ausgeblendete Gefahren
ОглавлениеSandra Kostner und Elham Manea
Die von Al-Qaida verübten Terroranschläge am 11. September 2001 erschütterten die im Westen dominierende Vorstellung, dass der Islamismus allenfalls eine Bedrohung für mehrheitlich muslimische Länder darstelle. Wenngleich es schon vorher islamistisch motivierte Anschläge im Westen gegeben hatte, namentlich den Bombenanschlag auf das World Trade Center im Februar 1993 wurde mit dem Islamismus aufgrund der überschaubaren Zahl der Anschläge und Opfer keine ernstzunehmende Gefahr verbunden, die eine entsprechend umfangreiche sicherheits- und gesellschaftspolitische Reaktion erfordert. Das änderte sich am 11. September schlagartig.
Die damalige US-Regierung unter George W. Bush sah in den Anschlägen eine Kriegserklärung, auf die sie ihrerseits mit der Ausrufung eines globalen „Krieges gegen den Terror“ reagierte. Erstes Kriegsziel war das von den Taliban beherrschte Afghanistan, das der Forderung der US-Regierung nach Auslieferung von Osama bin Laden nicht nachgekommen war. Dass die NATO erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausgerufen und zahlreiche westliche Länder unmittelbar nach den Anschlägen ihre uneingeschränkte Solidarität mit den USA erklärt hatten, erwies sich für die US-Regierung als hilfreich bei ihren Bemühungen, andere Länder dazu zu bringen, mit den USA eine internationale „Koalition gegen den Terror“ zu bilden. Militärische Operationen in Ländern, die islamistischen Terrororganisationen Zuflucht gewährten, dienten zuvorderst der Wiederherstellung beziehungsweise Aufrechterhaltung der Sicherheit in westlichen Gesellschaften. Der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck führte zur Rechtfertigung der deutschen Beteiligung am „Krieg gegen den Terror“ eine neue verteidigungspolitische Maxime ein, die lautete: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Diese Aussage bringt die Handlungsrationale auf den Punkt, die im Kern alle Regierungen akzeptierten, die sich der Antiterrorkoalition anschlossen: Sicherheit im Westen rechtfertigt Militäroffensiven in Ländern, mit denen ein islamistisches Terrorpotenzial verbunden wird.
Zur Eindämmung der sicherheitspolitischen Gefahren durch den gewaltorientierten Islamismus erließen oder verschärften westliche Regierungen ihre Antiterrorgesetze. Überdies wurde die internationale Zusammenarbeit intensiviert, um Terroranschläge zu verhindern. Viele Länder etablierten zudem Präventions- und Deradikalisierungsprogramme, um insbesondere junge männliche Muslime davon abzuhalten, sich dschihadistischen Ideologien zuzuwenden beziehungsweise im Fall der Deradikalisierung, sie von diesen Ideologien wegzuführen.1
Was für ein Fazit lässt sich nach zwanzig Jahren bezüglich der Maßnahmen ziehen, die westliche Länder ergriffen haben, um die islamistische Gefahr einzudämmen? Werfen wir zunächst einen Blick auf die seit 2001 verübten islamistischen Terroranschläge. Deren Zahl summiert sich auf mehrere Tausend. Die meisten dieser Anschläge wurden im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika verübt; und die meisten Opfer der islamistischen Terroristen sind Muslime. Aber auch Europa wurde nach 9/11 in deutlich größerem Maße als zuvor zum Aktionsgebiet islamistischer Terroristen. Insbesondere in den ersten Jahren nach 9/11 und dann wieder in den Jahren 2015 bis 2017 verdichtete sich die Zahl der Anschläge. Im kollektiven Gedächtnis verankert sind vor allem die Anschläge in Madrid (März 2004, 191 Tote), London (Juli 2005, 52 Tote), Paris (Januar 2015, 12 Tote bei den Anschlägen auf Charlie Hebdo und einen koscheren Lebensmittelmarkt), Paris (November 2015, 130 Tote), Brüssel (März 2016, 32 Tote), Nizza (Juli 2016, 86 Tote), Berlin (Dezember 2016, 12 Tote), Manchester (Mai 2017, 23 Tote) und Barcelona (Juli 2017, 14 Tote). Diese und viele kleinere Anschläge haben weitere sicherheitspolitische Reaktionen nach sich gezogen, wie, um eine besonders augenfällige Reaktion herauszugreifen, die zahlreichen Poller, die in sämtlichen Städten Europas nunmehr das Stadtbild prägen.
Der „Krieg gegen den Terror“, der vor allem dem Westen mehr Sicherheit bringen sollte, hat Europa verstärkt ins Visier von gewaltbereiten Islamisten gebracht. Dass es nicht noch zu mehr Anschlägen kam, ist der nach 9/11 entstandenen geheimdienstlichen Sicherheitsarchitektur zu verdanken. Die USA als treibende Kraft des Antiterrorkrieges kann auf eine bessere Bilanz verweisen. Nach 9/11 verzeichnete das Land „nur“ zwei größere Anschläge: in San Bernardino im Dezember 2015 mit 14 Todesopfern und in Orlando im Juni 2016 mit 49 Todesopfern.
Betrachtet man die im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“ durchgeführten Militäreinsätze, allen voran in Afghanistan und im Irak, so muss man nach zwanzig Jahren feststellen, dass Unsummen investiert wurden (geschätzte 6,4 Billionen Dollar investierten allein die USA in den fast zwanzigjährigen Militäreinsatz in Afghanistan) und hohe Opferzahlen unter Militärangehörigen und in noch weitaus größerem Maß unter der Zivilbevölkerung zu verzeichnen sind (circa 2.500 US-Soldaten und 48.000 afghanische Zivilisten). Im Rahmen des „Costs of War“-Projekts haben Wissenschaftler zudem errechnet, dass infolge des 2003 von der Bush-Regierung begonnenen Irakkriegs über 4.500 US-Soldaten und circa 200.000 irakische Zivilisten ihr Leben verloren.2
Einem hohen Einsatz an Mitteln und Menschenleben steht ein äußerst ernüchterndes Ergebnis gegenüber: Weder der Krieg in Afghanistan noch der im Irak brachte mehr Sicherheit. Im Gegenteil: Der Sturz Saddam Husseins leitete nicht die angestrebte Demokratisierung des Iraks ein, sondern führte zu einem politischen Vakuum, das letztlich die Voraussetzungen dafür schuf, dass gewaltbereite Islamisten erstarken konnten. Die brutalste Gruppierung – der „Islamische Staat“ (IS) – rief im Juni 2014 ein Kalifat aus, das Teile des irakischen und syrischen Staatsgebiets umfasste. Der IS übte dort, wo er Territorien kontrollierte (bis Dezember 2017 im Irak und bis März 2019 in Syrien), eine Schreckensherrschaft aus, die er aus seiner extremistischen Interpretation islamischer Glaubenslehren ableitete. Für diese Interpretation sowie für die intensive dschihadistische Online-Propaganda des IS zeigten sich weltweit vor allem junge Muslime empfänglich (insgesamt schlossen sich ungefähr 30.000 ausländische Dschihadisten aus 100 Ländern dem IS an). Allein aus Deutschland reisten über 1.000 Dschihadisten nach Syrien und in den Irak aus, um sich dem IS anzuschließen. Der IS stellte Deutschland beziehungsweise Europa jedoch nicht nur wegen ausreisender und später zurückkehrender Dschihadisten vor Herausforderungen. Seine Existenz hat auch zu einer deutlichen Zunahme an terroristischen Anschlägen geführt.3
Wenngleich Al-Qaida durch den Antiterrorkampf organisatorisch nachhaltig geschwächt werden konnte, stellt die Ideologie des Terrornetzwerks immer noch eine Inspirationsquelle für radikale Islamisten dar. Die am 7. Oktober 2001 unter dem Namen „Operation Enduring Freedom“ gestartete Militäroffensive in Afghanistan beendete das radikalislamistische Taliban-Regime. Es zeigte sich jedoch schnell, dass der Sieg über die Taliban teuer erkauft war. Ernüchtert und nicht länger bereit, die notwendigen Ressourcen einzusetzen, um zumindest eine fragile Stabilität in Afghanistan aufrechtzuerhalten, haben die USA und in der Folge auch ihre Verbündeten kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag von 9/11 ihre Truppen aus dem Land abgezogen. Sie taten dies ungeachtet der Tatsache, dass dies absehbar dazu führen wird, dass die Taliban wieder die Herrschaft übernehmen. Die Rückkehr der radikalen Islamisten an die Macht ist letztlich sowohl militärisch als auch ideologisch als eine Niederlage des Westens zu werten.
Insgesamt fällt das Fazit nach zwanzig Jahren Antiterrorkampf demnach ziemlich bescheiden aus. Dennoch gibt es auch Positives zu verzeichnen, nämlich dass westliche Regierungen infolge von 9/11 erkannt haben, dass von dschihadistischen Islamisten eine Gefahr für ihre Gesellschaften ausgeht, der sie entschlossen entgegentreten müssen. Man kann den Regierungen nicht vorwerfen, dass sie sich gescheut hätten, ressourcenintensive Maßnahmen zu ergreifen, ablesbar an den mit großen Kosten verbundenen Militäreinsätzen. Warum Mitteleinsatz und Erfolg in keinem adäquaten Verhältnis stehen, liegt in erster Linie daran, dass zu viele der ergriffenen Maßnahmen auf eine Symptombehandlung, also auf Gewalt und Terror, abzielten. Die Fokussierung auf diese Symptome steht im Zusammenhang damit, dass es den Regierungen nach 9/11 zunächst einmal darum ging, ihre Länder vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Hinzu kam, dass der Beginn des Afghanistankrieges Anfang Oktober 2001 das Augenmerk auf militärische Lösungen richtete, die sich letztlich als enorme Fehlallokation von Ressourcen herausstellten. Was dadurch aus dem Blick geriet, ist die Ursachenbehandlung, ergo die ideologische Grundlage des Terrorismus: der Islamismus. Dessen Gefahrenpotenzial wurde zudem teilweise aus Sorge davor ausgeblendet, eine Weltreligion und ihre Anhänger zu stigmatisieren; teilweise wurde es unterschätzt, weil mit Islamismus nur Gewalt und Terror verbunden wurde, nicht aber die legalistische, also gewaltfreie, Variante, die jedoch zentrale Ziele mit der dschihadistischen gemein hat.
Beide Varianten des Islamismus streben eine theokratische Staats- und Gesellschaftsordnung an, die sie entsprechend ihrer fundamentalistischen Islaminterpretation gestalten möchten und für die sie alleinige und absolute Gültigkeit beanspruchen.4 Die angestrebte Ordnung ist offenkundig nicht mit freiheitlich-demokratischen Rechtsstaatsprinzipien vereinbar, die insbesondere auf der gleichen Freiheit und Selbstbestimmung von Individuen, auf der Trennung von Staat und Religion, auf Pluralismus und auf den Bürgerinnen und Bürgern als Souverän aufbauen.
Die stark von der Muslimbruderschaft inspirierte legalistische Variante setzt darauf, die Strukturen der Gesellschaft sukzessive in ihrem Sinne zu verändern. Legalistische Islamisten agieren dabei bevorzugt unter dem Radar der Öffentlichkeit, zumindest solange sie sich in einer Minderheitenposition befinden. Sie zeichnen sich durch ein konziliantes Auftreten ebenso aus wie durch die Verwendung der Begriffe, die als Wesensmerkmale westlicher Gesellschaften gelten: also Freiheitsrechte, Demokratie und Minderheitenschutz. Sie verwenden diese Begriffe gezielt, um Vertreter westlicher Regierungen und Institutionen glauben zu machen, dass ihre Forderungen im Einklang mit diesen Wesensmerkmalen stehen, ja, dass sie sich letztlich sogar auf diese Merkmale zurückführen lassen. Die Botschaft, die dergestalt gesendet wird, lautet: Westliche Gemeinwesen, die den Forderungen legalistischer Islamisten nicht nachkommen, verstoßen gegen ihre eigenen Grundprinzipien und machen sich unglaubwürdig. Dabei wird insbesondere auf das Menschenrecht der Religionsfreiheit und den Minderheitenschutz verwiesen.
Die Botschaft verfängt leider allzu oft, wie zahlreiche Beiträge in diesem Band anhand konkreter Beispiele aus den letzten zwanzig Jahren illustrieren. Untermauert wird sie damit, dass Kritik an der islamistischen Agenda beziehungsweise die Zurückweisung von Forderungen moralisch diskreditiert wird, indem wahlweise der Vorwurf der Islamophobie oder des antimuslimischen Rassismus erhoben wird. An diesem Punkt stehen viele Politiker, Vertreter von Institutionen und Journalisten in der Tat vor der Herausforderung, dass es in ihren Gesellschaften mittlerweile ausgesprochen muslimfeindliche Kräfte gibt, die alle Muslime in Geiselhaft für das Vorgehen der legalistischen Islamisten und die Gewalttaten der dschihadistischen Islamisten nehmen. Dass man diesen Kräften keinen Vorschub leisten will, ist nachvollziehbar. Nur: Islamisten wissen um diese Sorge und haben gelernt, diese geschickt für ihre Belange zu nutzen, weshalb sie Kritik an ihrer freiheits- und demokratiefeindlichen Agenda als „Angriff“ auf „den“ Islam und „die“ Muslime zu diskreditieren versuchen. Hilfreicher als sich aus Sorge vor Diskreditierungen zum Schweigen bringen zu lassen, wäre es, wenn man sich der Frage widmen würde, warum in sämtlichen westlichen Gesellschaften überhaupt solch muslimfeindliche Milieus entstehen konnten. Man müsste sich dann damit auseinandersetzen, dass deren Entstehung beziehungsweise deren Anwachsen auch ein Resultat des zögerlichen und entgegenkommenden Umgangs mit dem legalistischen Islamismus ist.
Ein weiterer Grund für die entgegenkommende Haltung gegenüber legalistischen Islamisten ist, dass die von ihnen eingebrachten Forderungen oftmals eng mit muslimischen Glaubenslehren und -praktiken verschmolzen sind, sodass schwer zu erkennen ist, ob es sich um reine Glaubensausübung oder um eine politische Instrumentalisierung des Glaubens handelt. Das augenfälligste und in nahezu allen Ländern vieldiskutierte Beispiel hierfür ist das Kopftuch. Dieses kann von Frauen aus spirituellen, identifikatorischen und traditionsbezogenen Gründen getragen werden. Zugleich wird es aber von Islamisten propagiert, und wo immer sie die Macht haben, wird es Frauen mithilfe von sozialem Druck aufgenötigt beziehungsweise von Gesetzes wegen aufgezwungen.
Das Dilemma, vor dem Regierungen und Institutionen stehen, ist, dass das Tragen des Kopftuchs einerseits unter den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt, dass es andererseits jedoch von legalistischen Islamisten als Mittel eingesetzt wird, um ihrer Agenda – insbesondere in Institutionen – zur Sichtbarkeit zu verhelfen, und auf diese Weise Einfluss auf diese Institutionen zu nehmen. Um nicht auch die Frauen in ihrer Glaubensausübung einzuschränken, die das Kopftuch aus nicht-islamistischen Gründen tragen, nahmen westliche Regierungen immer wieder davon Abstand, Lehrerinnen, Richterinnen, Staatsanwältinnen und anderen Amtsträgerinnen des Staates das Kopftuchtragen zu verbieten. Hinzu kommt, dass ein solches Verbot alle Religionen – man denke an die jüdische Kippa oder den Turban der Sikhs – gleichermaßen betreffen muss, da ansonsten das für Rechtsstaaten essentielle Gleichbehandlungsgebot verletzt wird. Das gilt gleichermaßen für das Verbot für Kinder und Jugendliche, in der Schule religiöse Kleidungsstücke zu tragen.
Ein solches Verbot wurde von der österreichischen Regierung beschlossen und im Herbst 2019 in Kraft gesetzt. Aufgrund der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (die jüdische Kippa wurde vom Gesetzgeber explizit von diesem Verbot ausgenommen) und des Eingriffs in die Religionsfreiheit hat der Verfassungsgerichtshof Österreichs im Dezember 2020 das Verbot des Tragens religiöser Kopfbedeckungen an Schulen für unter zehnjährige Kinder als verfassungswidrig erklärt.5 Dieses Urteil zeigt zweierlei: erstens, wie verfassungsrechtlich dilettantisch die österreichische Regierung bei der Ausgestaltung des Verbots vorgegangen war; und zweitens, wie westliche Freiheits- und Rechtsstaatsprinzipien legalistischen Islamisten Handlungsspielräume eröffnen – vor allem, wenn die Politik derart dilettantisch agiert.
Viel bedeutsamer als das „Kinderkopftuch“, das als sichtbarer Indikator für Islamisierungsprozesse gewertet werden kann, ist das Ausmaß, in dem es Islamisten gelingt, Kinder und Jugendliche für ihre Islaminterpretation und die daraus abgeleiteten gesellschaftspolitischen Ziele zu gewinnen. Sie verfolgen letztlich eine islamistische Version des Marsches durch die Institutionen, der als Generationenprojekt angelegt ist. Anders gesagt: sie setzen auf den Faktor Zeit, um ihre Agenda ganz allmählich und schleichend voranzubringen. Dazu bedarf es des Zugangs zu den Köpfen von jungen Menschen, die auf der Suche nach Sinnstiftung und Identität besonders anfällig für ideologische Botschaften sind, die ihnen vermitteln, dass sie, wenn sie den islamistischen Regeln folgen, als „wahre“ Gläubige bessere, gar überlegene Menschen sind, also zur muslimischen und damit gleichbedeutend zur menschlichen Elite gehören.
Um Einfluss auf Kinder und Jugendliche zu nehmen, bauen Islamisten Bildungsstrukturen auf, allen voran Koranschulen. Auch hier nutzen sie das im Rahmen der Religionsfreiheit bestehende Recht, Glaubenslehren an junge Menschen weiterzugeben. Dieses Recht einzuschränken ist schwierig, solange religiöse Gruppen nicht offen auf die Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinarbeiten beziehungsweise nicht gegen Gesetze verstoßen. Nach einem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2000 darf der Staat selbst für die Anerkennung von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts nur Rechtstreue, nicht aber innere Zustimmung zum freiheitlichen Verfassungsstaat einfordern. Diese Entscheidung ist das Ergebnis einer von den Zeugen Jehovas eingereichten Klage. Diesen war bis dato der Körperschaftsstatus verweigert worden, weil sie den säkularen Staat als „Instrument des Teufels“ ablehnen und ihre Mitglieder dazu aufrufen, ihr Wahlrecht weder aktiv noch passiv auszuüben. Das Gericht begründete diese Entscheidung damit, dass der Staat zu sehr in die Rechte von Religionsgemeinschaften eingreift und das staatliche Neutralitätsgebot verletzt, wenn er innere Haltungen zum Bewertungsmaßstab macht.6 Diese Entscheidung ist verfassungsrechtlich nachvollziehbar. Sie erschwert es Regierungen jedoch, gegen legalistische Islamisten vorzugehen, weil: wenn der Staat selbst für die Verleihung des Körperschaftsstatus keine innere Zustimmung einfordern darf, wie soll er dann gegen die Verbreitung islamistischer Lehren in Koranschulen oder Moscheen vorgehen, solange dort nach außen rechtstreu agiert wird?
Das Kriterium der Rechtstreue gibt dem Staat zwar ausreichend Handlungsspielraum, um gegen Koranschulen und Moscheen mit dschihadistischer Ausrichtung vorzugehen, nicht aber gegen diejenigen mit legalistischer Ausrichtung. Das kommt den legalistischen Islamisten entgegen, die ja gerade besonders stark auf die Indoktrination junger Menschen setzen, um ihren freiheits- und demokratiefeindlichen politischen Machtanspruch voranzubringen – ein Machtanspruch, der bis zur Weltherrschaft reicht.7 Die Herausforderung, die sich hier für den Staat ergibt, ist ganz anderer Natur als die hinsichtlich der Zeugen Jehovas, die sich nicht nach außen rechtstreu geben, um mithilfe ideologischer Indoktrination auf eine andere politische Gesellschafts- oder gar Weltordnung hinzuarbeiten. Hinzu kommt, dass die Zeugen Jehovas mit circa 170.000 Mitgliedern eine kleine Religionsgemeinschaft darstellen.
Regierungen und Institutionen müssen sich in diesem Zusammenhang bewusst machen, dass legalistische Islamisten, Begriffe wie Freiheit und Demokratie strategisch verwenden, um zu signalisieren, dass ihre Agenda kompatibel mit den westlichen Grundwerten ist. In der Realität stellen diese Werte für sie nur nützliche Instrumente dar, um die eigenen, mit diesen Werten inkompatiblen Ziele voranzutreiben. Betonen sie die herausragende Bedeutung der Religionsfreiheit, geht es ihnen dabei nicht um die religiöse Selbstbestimmung von Individuen, sondern darum, sich mithilfe dieses Freiheitsrechts Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Agenda zu erschließen. Wie viel Islamisten von religiöser Selbstbestimmung halten, illustriert ein Blick in die Länder, in denen sie politisch oder sozial die Macht haben, ihre Dogmen durchzusetzen.
Islamisten wissen, dass das Menschenrecht auf Religionsfreiheit in allen westlichen Ländern einen hohen Stellenwert einnimmt, und versuchen dementsprechend es für ihre Belange zu instrumentalisieren. Die Instrumentalisierungsoptionen, die sich ihnen in einzelnen Ländern eröffnen, hängen nicht nur vom politischen Handeln ab, sondern auch ganz maßgeblich davon, wie Religionsfreiheit verfassungspolitisch und -rechtlich konkret ausgestaltet ist. Exemplarisch für diese Unterschiede stehen: das französische Laizitätsprinzip, das auf eine strikte Trennung von Staat und Kirche abhebt, das britische Liberalitätsprinzip, bei dem die Freiheit des Individuums im Mittelpunkt steht, und das deutsche wohlwollende Neutralitätsprinzip, das unter Wahrung der staatlichen Neutralität Raum für individuelle Religionsausübung auch in der staatlichen Sphäre ermöglichen möchte. Diese unterschiedlichen Prinzipien sind der Grund dafür, dass Lehrkräfte und Justizangehörige in Frankreich kein Kopftuch tragen dürfen, während in Großbritannien kopftuchtragende Lehrerinnen nichts Ungewöhnliches sind, und auch schon die ersten kopftuchtragenden Richterinnen ernannt wurden. Deutschland nimmt eine Mittelposition ein, die im Wesentlichen aus einem nicht hinreichend geklärten Verhältnis von individueller Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität resultiert.
So hat das Bundesverfassungsgericht 2015 entschieden, dass Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs grundsätzlich erlaubt werden muss. Im Februar 2020 entschied das Gericht hingegen, dass es rechtens ist, Rechtsreferendarinnen das Kopftuchtragen zu verbieten. Damit hat das Gericht auch die von einzelnen Bundesländern (Baden-Württemberg 2017, Nordrhein-Westfalen 2021) bereits verabschiedeten Neutralitätsgesetze für die Justiz unterstützt. Die unterschiedliche Priorisierung von Religionsfreiheit und Neutralität begründet das Bundesverfassungsgericht folgendermaßen: „Anders als im Bereich der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule, in der sich gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln soll, tritt der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber.“8
Das vom Bundesverfassungsgericht angeführte Argument, dass Schulen die „religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln“ sollen, wird auch gerne von Islamisten bemüht. Das ist wenig überraschend, wissen sie doch, dass heutzutage Pluralität, wahlweise Vielfalt oder Diversität, Schlüsselbegriffe sind, deren Verwendung ihnen hilft, ihre Agenda in staatliche Institutionen, allen voran in die Schulen, zu tragen. Hält man sich vor Augen, wie wichtig Islamisten gerade der Zugang zu Bildungsinstitutionen ist, muss man bezweifeln, ob das Bundesverfassungsgericht erkannt hat, wem (Personen) und was (Inhalten) es mit dem Verweis auf das religiöse Pluralitätsgebot ebenjenen Zugang eröffnet hat. Dem Gericht ist zuzustimmen, dass es zwischen Bildung und Justiz einen Unterschied hinsichtlich der ausgeübten Hoheitsrechte gibt, aber die Beeinträchtigungswirkung im schulischen Kontext hat es deutlich unterschätzt.
Das staatliche Neutralitätsgebot wird demzufolge in Deutschland priorisiert, wenn der Staat dem Bürger in seiner hoheitlichen Funktion gegenübertritt. Wenn der Staat hingegen als Verantwortlicher für das Schulwesen auftritt, treten Neutralitätserfordernisse hinter das Recht auf individuelle Religionsfreiheit und das Bildungsziel „religiöse Pluralität erleben“ zurück. Diese unterschiedliche Priorisierung ist auch darauf zurückzuführen, dass Artikel 7 des Grundgesetzes das Neutralitätsprinzip ohnehin durchbricht. So räumt Artikel 7 dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht nicht nur als einzigem Schulfach Verfassungsrang ein. Dieser legt zudem fest, dass der Religionsunterricht zwar dem staatlichen Aufsichtsrecht unterliegt, aber für die inhaltliche Ausgestaltung die Religionsgemeinschaften zuständig sind.
Als der Parlamentarische Rat die Entscheidung traf, den bekenntnisorientierten Religionsunterricht als Grundrecht zu verankern, dachten seine Mitglieder selbstredend nicht daran, dass Islamisten einst versuchen könnten, über diesen Unterricht Einfluss auf muslimische Kinder und Jugendliche zu gewinnen. Das gilt gleichermaßen für die in Artikel 4 garantierte Religionsfreiheit, die Regelungen des Religionsverfassungsrechts und das wohlwollende Neutralitätsprinzip. Die insgesamt überaus religionsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes durch die Verfassungsgerichtsbarkeit wäre kaum denkbar gewesen, hätten die Kirchen als mit weitem Abstand größte Religionsgemeinschaften die grundsätzliche Trennung von Staat und Religion nicht akzeptiert und keinerlei innere Loyalität zum Staat entwickelt.
Legalistische Islamisten versuchen, von der Religionsfreundlichkeit des deutschen Staates zu profitieren, beispielsweise von der Möglichkeit bekenntnisorientierten Religionsunterricht in der Schule anzubieten. Viele Bundesländer haben in den letzten Jahren verschiedene Modelle entwickelt, um islamischen Religionsunterricht als Schulfach einzuführen. Mit diesem Unterricht wurden unter anderem die Hoffnungen verbunden, dass er „die Deutungshoheit der Koranschulen“ brechen und ein Instrument der Radikalisierungsprävention sein könne.9 Beide Hoffnungen haben sich – zumindest bislang – nicht wirklich erfüllt.
Nichterfüllten Hoffnungen stehen veritable Probleme mit den muslimischen Verbänden gegenüber, die der Staat als Kooperationspartner braucht. Das größte Problem ist, dass viele Einzel- beziehungsweise Dachverbände eine legalistisch-islamistische Orientierung aufweisen. Mittlerweile sind viele Entscheidungsträger für dieses Problem sensibilisiert, was sie aber nicht notwendigerweise davon abhält, mit problematischen Verbänden zusammenzuarbeiten. Obwohl der Staat über die Verfassungs- und Wertekonformität der Lehrbücher und des Lehrpersonals wacht und damit die Möglichkeit einer islamistischen Einflussnahme klar begrenzt, führt die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Verbänden regelmäßig dazu, dass liberale Lehrinhalte und Lehrkräfte aus den Schulen herausgehalten werden. Nicht zu vergessen ist auch der Status- und Legitimationsgewinn, den Verbände erfahren, wenn der Staat sie zu Kooperationspartnern macht.
Analog zum Körperschaftsstatus stellt sich auch beim bekenntnisgebundenen Religionsunterricht die Frage nach der inneren Loyalität der Kooperationspartner zum freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat. Dieser sollte von jeder Kooperation mit Organisationen absehen, bei denen fraglich ist, ob sie die zentralen Verfassungsgrundätze, insbesondere den Wesensgehalt der Grundrechte sowie das Prinzip der Volkssouveränität, teilen. Mit anderen Worten: Wenn es um Bildungsinstitutionen geht, darf im Falle einer zweifelhaften inneren Loyalität keine Zusammenarbeit erfolgen. Vor dem Hintergrund der von legalistischen Islamisten praktizierten Mimikry-Strategie (Entscheidungsträgern Verfassungstreue signalisieren, um verfassungsinkompatible Ziele zu erreichen) ist genau zu prüfen, ob Anhaltspunkte für die Verwendung dieser Strategie vorliegen. Ist das der Fall, ist von jeglicher Zusammenarbeit Abstand zu nehmen.
Bei in staatlichen Schulen erteiltem Unterricht reicht es unseres Erachtens nicht, wenn, wie das Bundesverwaltungsgericht ausführt, der Religionsunterricht von den Kooperationspartnern des Staates nicht dazu genutzt wird, die Schülerinnen und Schüler von den „elementaren Verfassungsprinzipien zu entfremden“.10 Den prägenden Charakter der Schule bedenkend, ist hier deutlich über die Minimalanforderung der „Nichtentfremdung“ hinauszugehen, was im Sinne der Gemeinwohlförderung bedeutet, dass bekenntnisgebundener Religionsunterricht dazu beitragen soll, die Akzeptanz zentraler Verfassungsgrundsätze in der Schülerschaft zu stärken.11
Generell sollten staatliche Stellen die Stärkung der Akzeptanz der grundlegenden Verfassungsprinzipien zum Bewertungsmaßstab für die Zusammenarbeit (beispielsweise in Gremien, Kommissionen, Rundfunkräten) und die Vergabe von Fördermitteln machen. Selbstredend sind religiöse Verbände nicht verpflichtet, ihre Glaubensinhalte so zu interpretieren, dass sie die Akzeptanz von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat bei ihren Mitgliedern fördern. Der Staat kann ihnen nicht vorschreiben, wie sie ihren Glauben auszulegen und zu vermitteln haben. Er kann aber sehr wohl die Berufung von Personen in Kommissionen und die Vergabe von Projektmitteln davon abhängig machen, dass die dergestalt geförderten Personen und Organisationen zur Vitalität und Dauerhaftigkeit der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung beitragen.
Dass auch zwanzig Jahre nach 9/11 immer noch Personen und Gruppen aus dem legalistischen Islamismusspektrum staatliche Projektgelder erhalten, legt nahe, dass die Gefahr, die von dieser Islamismusvariante ausgeht, weiterhin unterschätzt beziehungsweise ausgeblendet wird. Es scheint teilweise noch immer die irrige Annahme vorzuherrschen, dass der Dschihadismus mithilfe des legalistischen Islamismus bekämpft werden kann. Hinzu kommt die Sorge aufseiten staatlicher Entscheidungsträger, dass die Nichtberücksichtigung der entsprechenden Gruppen in der breiteren muslimischen Community den Eindruck erwecken könnte, Muslime würden benachteiligt. Islamisten verstärken diese Sorge, indem sie Nichtberücksichtigungen als Zeichen islamophober Einstellungen beziehungsweise als Ausdruck von antimuslimischem Rassismus anprangern. Diese Vorwürfe verfehlen ihre Wirkung nicht in Gesellschaften, in denen dem Kampf gegen Rassismus große Bedeutung zukommt. So positiv dieser Kampf grundsätzlich zu sehen ist, so problematisch wird es, wenn es Personen oder Gruppen gelingt, ihn für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass Entscheidungsträger die Folgen eines solch strategisch motivierten Vorwurfs mehr fürchten, weil sie unmittelbar eintreten und sie direkt treffen, als die langfristigen gesellschaftlichen Folgen, die aus der Förderung von Islamisten resultieren.
Es gibt aber auch Positives zu vermelden: nämlich, dass jüngst das Bewusstsein für die vom legalistischen Islamismus ausgehenden Probleme nicht nur zugenommen hat, sondern in einigen Ländern, allen voran sind hier Frankreich und Österreich zu nennen, auch zur Implementierung konkreter Maßnahmen geführt hat. So richtete Österreich beispielsweise 2020 die Dokumentationsstelle Politischer Islam ein. Frankreich beschloss im Juli 2021 ein Gesetz zur „Stärkung der Prinzipien der Republik“, das neben der härteren Ahndung von Hassaufrufen im Internet vor allem auch dazu dienen soll, „den Einfluss der Türkei und anderer Länder auf französische Moscheen [zu] begrenzen“. Die mit diesem Gesetz verbundene Hoffnung brachte der französische Innenminister Gérald Darmanin folgendermaßen zum Ausdruck: „Wir geben uns die Mittel, um gegen die zu kämpfen, die Religion zweckentfremden, um die Werte der Republik in Frage zu stellen.“12 Selbst die gegenüber legalistischen Islamisten zurückhaltend agierende deutsche Bundesregierung setzte kurz vor dem Ende der laufenden Legislaturperiode zunächst für ein Jahr einen Expertenkreis ein, der sich mit dem politischen Islamismus befassen soll. Der vom Bundesinnenministerium eingerichtete Expertenkreis trat erstmals im Juni 2021 zusammen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) begründete die Einrichtung des Expertenkreises mit den Worten:
Wir müssen entschlossen gegen jede Ideologie vorgehen, die sich gegen die Werte und Normen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung richtet. Es ist wichtig, dass nicht nur gewalttätige Formen von Extremismus, sondern auch solche, die sich ideologischer Mittel bedienen, als Gefahr für die Werte unseres Landes erkannt und identifiziert werden. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die neben den Sicherheitsbehörden viele staatliche und zivilgesellschaftliche Stellen fordert. Der Expertenkreis ist damit ein weiterer Teil des Gesamtansatzes zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus, in dem polizeiliche Maßnahmen durch Prävention komplettiert werden.13
Ob die Bundesregierung diesen Worten auch Taten – sprich konkrete Maßnahmen – folgen lässt, ist noch offen. Es ist aber zumindest schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung getan worden, weil das Problempotenzial des legalistischen Islamismus – auch als geistiger Verwandter beziehungsweise ideologisch Verbündeter des Dschihadismus – erkannt und benannt wurde.