Читать книгу Lehren aus 9/11 - Группа авторов - Страница 20
Nützliche Geschichtsklitterung
ОглавлениеDies geschieht durch eine allgegenwärtige, in vielen Varianten auftretende, doch im Kern stets gleiche dreistufige Geschichtsklitterung: Zuerst wird die Verbundenheit und Gleichwertigkeit aller Kulturen behauptet und dabei insbesondere auf den angeblich zentralen Beitrag arabisch-islamischen Denkens zum europäischen Erbe verwiesen. Im nächsten Schritt wird behauptet, dass der Kern islamischer Kultur, also das islamische Recht, mit bösem Vorsatz vom Westen verzerrt und diffamiert, dass es zu Unrecht als rückständig und impraktikabel dargestellt werde und dass es vielmehr eine realistische, „authentischere“ und normativ höherwertige Alternative zum dominanten, seelenlosen, westlichen Model der Moderne darstelle.18 Abschließend wird angesichts dieser vorgeblichen Gleichwertigkeit jeglicher strukturierte Vergleich, ebenso wie die praktische Irrelevanz islamischer Rechts- und Politikmodelle, in den real existierenden staatlichen und internationalen Strukturen als Beweis „struktureller Gewalt“ seitens des stärkeren, hegemonial agierenden Westens – einschließlich seiner Universitäten! – angesehen. Hieraus wird die Legitimität von durchaus auch physischer „Gegengewalt“ begründet.19
In der islamischen Welt dient diese – mittlerweile fast unwidersprochen akzeptierte – Sicht auf die Welt und die eigene Geschichte dem vielleicht nachvollziehbaren, doch beklagenswerten und mittelfristig vergeblichen Versuch, ein positives Selbstbild und den Anschein gesellschaftlicher Kohäsion zu erhalten. Man könnte dies als Schaffung einer „brauchbaren Vergangenheit“ in einer kruden Nachfolge Nietzsches beschreiben, d.h. als Schaffung einer historischen Erzählung, die die politisch-sozialen Interessen des Status quo stützt. Krude ist dieser Versuch, weil er die eigene Geschichte natürlich nicht zum besseren gesellschaftlichen Selbstverständnis und zur Generierung historischer Lehren nutzen will, sondern lediglich zur eigenen Erbauung – und gleichzeitig zur Abwertung des Fremden.
Besonders problematisch erscheint diese Sicht angesichts der unleugbaren Schwierigkeiten der gesamten arabisch-islamischen Welt, im zunehmend vergleichbar gewordenen Wettstreit der Staaten zu bestehen.20 Die Anschläge des 11. September 2001 waren weder der Beginn noch das Ende einer zunehmend aggressiver und schizophrener werdenden Ablehnung nicht nur des Westens, sondern des Prinzips rational, d.h. nicht religiös organisierter Gemeinwesen an sich.21 Die Golfmonarchien spielen hier eine herausragende Rolle. Sie haben sich seit dem Schock der fundamentalistischen Besetzung der Großen Moschee von Mekka 1979 intern von einem bereits sehr hohen Niveau aus immer weiter radikalisiert und den religiösen Eifer zur Verminderung interner Spannungen erfolgreich genutzt.22