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Ein Attentat nach dem Vorbild frühislamischer Kriegsführung

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Der Anschlagsplan, eine bis ins Einzelne ausbuchstabierte Choreographie, beinhaltet praktische, aber vor allem religiöse Anweisungen. Er ist in drei Etappen unterteilt und beginnt mit der Nacht vor dem Attentat. Die Attentäter werden angewiesen, den Körper und die Seele auf das Ereignis vorzubereiten. Dazu gehören die große Waschung, das Rasieren der Körperhaare und das Parfümieren. Sie werden ermahnt, auf ihre Koffer, Papiere und Ausrüstungen zu achten und die Waffen zu prüfen. Explizit wird vom Messer als Tatwaffe gesprochen und eine Prophetenüberlieferung über das Schlachten zitiert.22 In der Nacht sollen die Attentäter wachen, beten und den Koran rezitieren. Explizit wird auf mögliche schwierige Situationen hingewiesen, die im Vorfeld positiv antizipiert werden:

[...] richte dein Augenmerk darauf, wie du agierst, wenn du in eine schwierige Lage gerätst, wie du dort standhältst und immer wieder bestehst. Und wisse, daß das, was dir zugestoßen ist, dich nicht verfehlen konnte, und das, was dich verfehlt, dir nicht zustoßen konnte, und dass diese Prüfung von Gott – und er ist erhaben und groß – stammt, um deinen Rang zu erhöhen und dir für deine Sünden Sühnung zukommen zu lassen. Darüber hinaus wisse, dass dies nur einige Augenblicke dauern wird und damit mit Gottes Erlaubnis schnell vergehen wird. Glückwunsch dem, der der großen Belohnung Gottes teilhaftig wird. Er, der Erhabene spricht: ‚Oder meint ihr, ihr würdet ins Paradies eingehen, ohne daß Gott zuvor diejenigen von euch, die um seinetwillen Krieg geführt haben, in Erfahrung gebracht hat [...].23

Zur seelischen Ertüchtigung gehört der Appell an den „unbedingten Gehorsam“ und das Beschwören der zukünftigen Glückseligkeit:

Sei heiter, denn zwischen dir und deiner Hochzeit liegen nur wenige Augenblicke, mit denen das glückselige, gottgefällige Leben und die ewige Gnade des Propheten, den Rechtschaffenden, den Märtyrern und den Frommen beginnt.24

Die Geringschätzung des Irdischen gegenüber dem Jenseits wird betont:

Reinige dein Herz und säubere es von Makeln und vergiß oder ignoriere etwas, dessen Name Welt ist. Die Zeit des Spielens ist vorbei, es ist die wahre Verabredung gekommen. Wie viel Zeit unseres Lebens haben wir vergeudet.25

Die zweite Etappe handelt vom Weg zum Flughafen und dem Verhalten der Attentäter im Terminal. Sie werden ermahnt, unablässig den Koran zu rezitieren, schweigend zu beten, Vertrauen in Gott zu haben und furchtlos zu sein. Nur Gott habe ein Recht darauf, gefürchtet zu werden. Mögliche Anspannungen und vielleicht sogar aufkommende Zweifel unmittelbar vor der Tat werden mit dem Verweis auf kommende Glückseligkeiten relativiert:

Zeige keine Anzeichen der Verwirrung und nervlicher Anspannung, sondern sei froh, glücklich, heiter und zuversichtlich, weil du eine Tat ausführst, die Gott liebt und die er gutheißt. Danach wird der Tag kommen, den du mit Gottes Erlaubnis mit den schwarzäugigen Jungfrauen im Paradies verbringen wirst.26

Die dritte Etappe beginnt mit dem Besteigen des Flugzeugs und endet mit dem Tod. Wieder werden Gebete gegen die Unsicherheit empfohlen, wieder wird die Tat gerechtfertigt. Auch die Verheißung der Jungfrauen wird wiederholt:

Und wißt, dass sich die Paradiese für euch bereits mit ihrem schönsten Schmuck geschmückt haben und die Paradiesjungfrauen nach euch rufen: ‚Oh komm herbei, du Freund Gottes!’ Dabei tragen sie ihre schönste Kleidung.27

Im Sammelband von Kippenberg und Seidensticker wurde der Text von Religions- und Islamwissenschaftlern analysiert und Bezüge zu islamischen Traditionen, theologischen Texten und radikalen Gelehrten wie Hasan al-Banna und Sayyid Qutub hergestellt. Der Religionswissenschaftler Bruce Lincoln fasste die Erkenntnis, die von den anderen Autoren geteilt wurde, folgendermaßen zusammen: Auch wenn man die Attentäter gern als Verkörperung des unmoralischen Bösen sähe, so sei doch unzweifelhaft, dass ihre Motive „zutiefst religiös“ seien.28 Der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker definiert 10 % des Textes als nicht primär religiös, während 90 % einen religiösen Inhalt hätten. Zu den 10 % nicht primär religiösen Passagen zählt er „religionsneutrale“ pragmatische Anweisungen, mentale Vorbereitungen sowie Anleitungen zu „religiös gefärbten“ Handlungen, die auch kultischer Natur sein können.29 Darunter fällt die oben erwähnte Check-Liste für die Ausrüstung ebenso wie Bekleidungsregelungen, die einerseits praktischer Art sind, andererseits aber mit der islamischen Tradition begründet werden. Ein typisches Beispiel ist folgendes:

Straffe deine Kleidung sehr gut. Denn dies ist die Vorgehensweise der rechtschaffenen Muslime aus der Frühzeit – Gott möge sein Wohlgefallen an ihnen haben. Diese strafften ihre Kleidung vor dem Kampf. Danach schnüre deine Schuhe gut und trage Socken, damit du im Schuh Halt hast und nicht herausrutscht. All diese Dinge sind Vorkehrungen, die uns befohlen werden.30

Diese Textpassage endet mit einem Koranzitat. Die von Seidensticker bemerkte Religionsneutralität, das Straffen der Kleidung, das Schuhe-Binden und das Socken-Tragen wird also an die islamische Tradition zurückgebunden, die den Attentätern selbst bei diesen profanen Handlungen als Vorbild dienen soll. Atta und seine Glaubensbrüder bewegen sich damit vollständig, selbst hinsichtlich ihrer wertneutralsten Verrichtungen, dem Schuhe-Binden und Socken-Anziehen, in einer religiös aufgeladenen Sphäre. Dies trifft auch auf die Religionsneutralität der mentalen Vorbereitungen zu. Seidensticker ordnet ihnen etwa vier Prozent des Textes zu, gibt aber einschränkend an, dass es schwer ist, sie überhaupt aus dem „religiös imprägnierten Ko-Text“ herauszulösen. Die letzte Kategorie der nicht primär religiösen Textinhalte bezieht sich allesamt auf rituelle islamische Handlungen wie Waschungen oder Gebete. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive müssen diese nicht primär religiösen Passagen daher auch als religiös bezeichnet werden.

Albrecht Fuess, der eine Professur für Islamwissenschaften an der Universität Marburg innehat, vergleicht die „Geistliche Anleitung“ mit klassischen islamischen Schlachtreden. Hinsichtlich der Verwendung von Koranzitaten und Verweisen auf die Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed bezeichnet er sie als „typische hutba“, also als Predigt.31 Sie enthalte aber auch weitere religiöse Elemente wie Gebete oder die Aufforderung, den Angriffsakt im Flugzeug mit dem einem lauten „Allahu Akbar“ zu beginnen, da dies bei den Ungläubigen Angst hervorrufe. In der islamisch-politischen Rede, so Fuess, sei der Rückbezug auf die glorreiche Vergangenheit der islamischen Frühzeit ein gern verwendetes Stilmittel. Dabei verschwänden zeitliche Realitätsebenen, und die Ereignisse der Vergangenheit vermischten sich mit denen der Gegenwart der Attentäter. Einen Unterschied zu den beschworenen Kämpfen Mohammeds und seiner Gefährten sowie der frühen Muslime gäbe es jedoch, meint Fuess: eine Rückkehr der Kämpfer aus dem Kampf sei nicht mehr vorgesehen, sondern gänzlich ausgeschlossen.32

Auffällig ist die zweifache Bezugnahme der „Geistlichen Anleitung“ auf die Paradiesjungfrauen, die den Märtyrer bei seiner Ankunft begrüßen. Moez Khalfaoui, Professor für Islamisches Recht an der Universität Tübingen, hat sich in einem 2006 erschienen Aufsatz dezidiert mit diesem Aspekt befasst und dabei auch den Gelehrten al-Ghazali aus dem 11. Jahrhundert referiert, der das Paradies als Lebensraum der Paradiesjungfrauen weiter ausschmückt. „Die Schönheit des Paradieses“, so Khalfaoui, „besteht vor allen Dingen aus Jungfrauen.“33 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen auch die Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker und Andrea Novak aus Wien.34 Sie sind die Belohnung für denjenigen, der sein Leben für Gott geopfert hat. Khalfaoui erwähnt, dass der aktive Part betont wird, mit dem die Jungfrauen auf den Belohnten zugehen. Dies sei einem modernen Frauenbild geschuldet, das Atta und andere radikale Muslime gewöhnlich verurteilen.

Nimmt man die beiden auf Atta zurückgehenden Texte zusammen, so offenbart sich ein auffälliger Unterschied zwischen den Frauen der realen Welt, von der der Dschihadist Abstand nimmt („[...] ignoriere etwas, dessen Name Welt ist.“) und die er noch nicht einmal an seinem Grab sehen möchte, und denjenigen, die ihn mit erotischem Zauber (schwarzäugig, mit ihrem schönsten Schmuck geschmückt) in der Ewigkeit begrüßen. Für den Dschihadismus, der sich durch eine strenge Interpretation islamischer Texte und eine asketische Praxis auszeichnet, könnte man daher die These aufstellen, dass es gerade der Verzicht auf irdische Vergnügen besonders in sexueller Hinsicht ist, der einen Mann berechtigt, diesen Vergnügungen auf einem höheren Niveau in der Ewigkeit nachzugehen. In der dschihadistischen Populärkultur, d.h. in Videos, Liedtexten und Ansprachen, nimmt die Vorstellung, nach dem Tod im Kampf unmittelbar zu den himmlischen Jungfrauen zu gelangen, einen großen Raum ein. Sie stellt eine wichtige Motivation für das Opfer des eigenen Lebens dar.

Lehren aus 9/11

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