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Blinde Flecken der Theoriebildung zu islamischem Extremismus
ОглавлениеEiner von ihnen ist der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy. Er sieht die Ursache des islamischen Extremismus in der westlichen Moderne und ihrer Entkoppelung von Religion und Kultur im Prozess der Säkularisierung. In seinem 2008 erschienen Buch La sainte ignorance, das 2010 unter dem Titel Heilige Einfalt in deutscher Übersetzung publiziert wurde, vertritt er die These, dass die durch den Säkularismus kulturell entleerte Religion individuell als etwas rein Religiöses angeeignet werden kann und dadurch Fundamentalismen jedweder Art Vorschub leiste.1 Roy bezieht sich dabei nicht nur auf den Islam. In dem 2016 herausgegebenen Werk Le djihad et la mort, das man als Fortsetzung und Zuspitzung des oben genannten Werkes verstehen könnte, ist dies anders. Es wurde 2017 unter dem bezeichnenden Titel Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod in deutscher Sprache veröffentlicht und spielt auf eine viel zitierte Aussage junger Dschihadisten an, die Roy als Nihilismus interpretiert.2 Das Buch wurde unter dem Eindruck einer Situation geschrieben, in der Tausende junger Europäer Abu Bakr al-Baghdadi den Treueeid leisteten und bereit waren, für ihn zu foltern, zu morden und zu sterben. Darin wiederholt Roy seine ursprüngliche These, dass eine „[...] fundamentalistische Verhärtung der Religionen [...]“ stattfinde, die „[...] dem Triumph eines das Religiöse ausschließenden Säkularismus geschuldet ist.“3
In einer zweiten These behauptet Roy, es handele sich beim modernen Dschihadismus um die Islamisierung einer ohnehin vorhandenen Radikalität unter Jugendlichen, denen es an Perspektiven mangele. Die Religion sei dabei vollkommen nebensächlich. Er schreibt: „Sie werden nicht radikal, weil sie bestimmte Texte falsch verstanden haben oder weil sie manipuliert wurden: Sie sind radikal, weil sie radikal sein wollen, weil sie die schiere Radikalität verlockend finden.“4 Unmittelbar fühlt man sich an die Revolutionsromantik der 1960er-Jahre erinnert, und dies ist von Roy durchaus beabsichtigt. Er schreibt:
Die Revolte wird im Namen einer globalen und virtuellen Gemeinschaft von Unterdrückten geführt: ‚des internationalen Proletariats’ oder ‚der muslimischen Ummah’, obwohl die Beziehung zwischen den Militanten und der jeweiligen Gemeinschaft mehr als angespannt ist.5
Roys prominentester Gegenspieler in Frankreich ist der Sozialwissenschaftler Gilles Kepel, dessen zahlreiche Publikationen aktuelle Entwicklungen sowohl in der arabischen Welt als auch in den französischen Banlieues thematisieren.6 Kepel sieht durchaus, dass soziale Marginalität für Extremismen anfällig macht, möchte der ideologischen Komponente des Dschihadismus aber ebenso Geltung verschaffen. Er wirft Roy vor, die gegenwärtige Radikalisierung des Islam auszublenden, und in der Tat kann Roy nicht erklären, welche sozialrevolutionäre Strategie sich hinter einem Selbstmordanschlag verbergen könnte. Roys abschließendes Fazit, dschihadistische Attentäter seien Psychopaten und Todessüchtige, die Gewalt nicht mehr als Mittel zur Erreichung eines Zieles, sondern als ultimatives Ziel an sich verstünden, wirkt wie ein hilfloser Versuch, etwas Unbegreifliches durch Pathologisierung fassbar zu machen. Seine Zukunftsvision ist dennoch oder gerade deshalb erstaunlich optimistisch. Wie sich die 68er-Bewegung aufgelöst habe, weil sie keinen Zugang zur Arbeiterschaft gefunden haben, so werde sich der Dschihadismus wieder verflüchtigen, weil deren Akteure nicht für die Ummah sprächen, meint Roy. Das ist allerdings wenig wahrscheinlich, wenn man sich empirische Daten aus Europa und außereuropäischen Staaten vor Augen führt.
Anders als Kepels Argumentation hat Roys Theorie die deutsche Debatte explizit und implizit stark beeinflusst. Da ist zunächst die Vorstellung, dass Dschihadismus nichts mit Religion im eigentlichen Sinne zu tun habe. Roy glaubt, dass eine mangelhafte religiöse Bildung bei Dschihadisten immer offensichtlich sei7, und diese These wird seit vielen Jahren von deutschen Islamwissenschaftlern und Deradikalisierungsexperten wiederholt. Ein Beispiel, das öffentlichkeitswirksam zur Untermauerung herangezogen wurde, war eine jugendliche WhatsApp-Gruppe, deren Mitglieder 2016 einen Anschlag auf ein Sikh-Heiligtum in Essen verübten. Eine Gruppe von Wissenschaftlern befasste sich dezidiert mit den versendeten Nachrichten der jungen Attentäter und fand heraus, dass das religiöse Wissen der Jugendlichen rudimentär war.8 Das ist zweifellos richtig, aber kann man diesen Fall generalisieren? Allein sprachlich wird bei den dokumentierten Auszügen aus der internen Kommunikation deutlich, dass die jungen Leute in ihrer Alterskohorte ohnehin eher durch ein unterdurchschnittliches Bildungsniveau aufgefallen sein müssen. Unbestreitbar fanden sich in den Reihen deutscher Dschihadisten immer Personen, die die Tragweite dessen, was sie taten, nicht überblicken konnten; doch für den modernen Dschihadismus an sich ist dies nicht symptomatisch.
Roys Revoluzzerthese wurde in Deutschland auf eine gefällige Benachteiligungstheorie verengt und fügt sich mittlerweile geschmeidig in ein Rassismustheorem ein, das zum Standardnarrativ der Einwanderungsgesellschaft geworden ist.9 Andererseits wurde es als Jugendphänomen verharmlost, was vielleicht darauf hinweist, dass es häufig Pädagogen oder Soziologen waren, die mit der Analyse extremistischer Milieus betraut wurden.10
In weiten Teilen der internationalen, aber auch der deutschen Debatte wurde möglichen Hintergründen des islamischen Terrorismus ohnehin kein besonderer Wert beigemessen, da man sich primär darauf konzentrierte, den „Kampf gegen den Terror“ zu kritisieren und Muslime vor einem vermeintlichen Generalverdacht zu schützen.11 In Deutschland, wo die Kreuzzugsmetaphorik George W. Bushs ohnehin auf Befremden stieß, etablierte sich die Auffassung, dass Gewalt im Namen des Islam vor allem etwas mit der Ausgrenzung von Muslimen durch die Mehrheitsgesellschaft zu tun habe. Mittlerweile werden dafür selbst in Kreisen der CDU die zweifelhaften Termini des „antimuslimischen Rassismus“ und der „Islamophobie“ verwendet. Der Ball liegt seitdem im Spielfeld der Nichtmuslime, und eine Vielzahl von mit Steuergeldern finanzierte Nichtregierungsorganisationen müht sich damit ab, Lehrkräfte und andere Beschäftigte in staatlichen Einrichtungen mit kultursensibilisierenden und antirassistischen Trainings zu einer größeren Akzeptanz von Muslimen zu erziehen. Die Anzahl derjenigen, die von Sicherheitsdiensten als „Gefährder“ klassifiziert werden, ist trotz all dieser Maßnahmen sowie der militärischen Niederlage des IS nur unwesentlich gesunken, sodass Nachfragen nach den Grundprämissen derjenigen erlaubt sein sollten, die sich als Experten für Prävention und Deradikalisierung verstehen.
Im Folgenden sollen die beiden wichtigsten Thesen, die Roy und andere zur Erklärung des islamischen Terrorismus vorlegten, überprüft werden. Die erste behauptet, Dschihadisten seien religiöse Analphabeten, und die zweite betont ihren prekären Status, ihre Vulnerabilität und sozio-ökonomische Marginalität. Dazu empfiehlt es sich, zu den Ursprüngen der gegenwärtigen Ausprägung des Dschihadismus zurückzukehren, nämlich zum Anschlag auf das Welthandelszentrum am 11. September 2001 und ihren in Hamburg lebenden wichtigsten Akteuren. Dieser Anschlag wurde in entscheidendem Maß von einer Gruppe arabischer Studenten konzipiert, die mehrere Jahre in Hamburg lebten und sich zusammen auf die Tat vorbereiteten. Drei von ihnen absolvierten zuvor eine Pilotenausbildung in den USA und übernahmen die Steuerung der entführten Flugzeuge.