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Verwirrte, einsame Wölfe
ОглавлениеTrotz der überwältigenden Belege dafür, dass islamische Extremisten für die allermeisten terroristischen Gewalttaten im 21. Jahrhundert verantwortlich sind, wird nach jedem Anschlag von vielen Politikern, Journalisten und Kommentatoren behauptet, dass Terrorismus „nichts mit dem Islam zu tun“ habe. Das fing schon mit US-Präsident George W. Bush an, der am 17. September 2001, wenige Tage nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, eine Moschee in Washington, D.C. besuchte und dort sagte:
These acts of violence against innocents violate the fundamental tenets of the Islamic faith. […] The face of terror is not the true faith of Islam. That’s not what Islam is all about. Islam is peace. These terrorists don’t represent peace. They represent evil and war.4
Dass die Täter selbst verkünden, vom Koran und vom Beispiel Mohammeds inspiriert zu sein, dass sie in ihren Manifesten und Videobotschaften reichlich Koranverse und Hadithen zitieren, dass sie betonen, ihren Glauben mit ihren Taten verteidigen oder verbreiten zu wollen, und dass sie in vielen Fällen laut „Allahu Akbar!“ rufen, während sie ihre Opfer töten – all das wird als ursächlich irrelevant zur Seite geschoben. Stattdessen werden die Täter dargestellt als „einsame Wölfe“ oder „verwirrte Personen“, die nichts mit der Gemeinschaft der Muslime zu tun haben und vom Islam und dem Koran nichts verstanden haben.
Nehmen wir zum Beispiel den Angriff am 12. Juni 2016 auf einer Schwulendiskothek in Orlando, Florida, bei dem 49 Menschen getötet wurden. In seiner Reaktion auf das Massaker bezeichnete Präsident Barack Obama die Tat als ein Beispiel von „hausgemachtem Terrorismus“ (homegrown terrrorism) und damit als ein amerikanisches Problem. Derartige Taten, so argumentierte er weiter, werden von „verwirrten und gestörten“ Individuen begangen, die sich über das Internet „selbst radikalisieren“.5 Das Konzept der „Selbstradikalisierung“ wird, wie die Metapher des „einsamen Wolfs“, nach islamischen Angriffen häufig verwendet, um zu suggerieren, dass es sich um den Akt eines isolierten Individuums handelt, das sich ohne jegliche Verbindung zur weiteren muslimischen Gemeinschaft völlig von sich aus radikalisiert hat. Das Argument erinnert an die gebetsmühlenartig vorgetragenen Abwehrfloskeln der amerikanischen Waffenlobby, die nach jedem Schusswaffenmassaker argumentiert: Waffen töten nicht, sondern Menschen töten (guns don’t kill, people do) – als ob diese Gewalt nichts mit dem freien Verkauf von Waffen in den USA zu tun hätte und nur auf die einzelnen Täter zurückgeführt werden könnte, die auch nach Ansicht der Rüstungslobby ausnahmslos „verwirrt“ und „gestört“ seien.
Hatte das Massaker von Orlando nichts mit dem Islam zu tun? Während er mordete, schwor der Täter Omar Mateen in mehreren Telefongesprächen dem Islamischen Staat die Treue. Er bekundete seine Solidarität mit den Tätern des Anschlags auf den Marathon in Boston und mit dem ersten amerikanischen Selbstmordattentäter in Syrien, einem Anhänger der Al-Nusra-Front, den Omar Mateen persönlich kannte, weil sie die gleiche Moschee in Fort Pierce in Florida besuchten. Auf seiner Facebookseite schrieb Mateen: „Die wahren Muslime werden den schmutzigen Weg des Westens nie akzeptieren. Du tötest unschuldige Frauen und Kinder bei Luftangriffen. Jetzt wirst du die Rache des Islamischen Staates spüren.“ Er beendete seinen Beitrag mit: „Möge Allah mich aufnehmen.“ Auch das Verhalten von Mateen vor dem Angriff zeigt, dass er ein religiöser Muslim war. Nach Angaben seines Imams ging er drei- bis viermal pro Woche in die Moschee, das letzte Mal zwei Tage vor dem Angriff. Zweimal, in den Jahren 2011 und 2012, war er auf einer Pilgerreise in Saudi-Arabien. Aber laut Mir Seddique Mateen, Omars Vater, hatte die Tat seines Sohnes natürlich „nichts mit Religion zu tun“, und der Präsident und große Teile der amerikanischen Presse folgten dieser Auffassung. Als alternative Erklärung wies der Vater, der selbst mit den Taliban sympathisierte, auf ein Ereignis einige Zeit vor dem Angriff hin. Omar habe sich sehr aufgeregt, als er sah, wie sich zwei Männer in der Öffentlichkeit küssten, als ob das beweisen würde, dass Omars Motive nichts mit dem Islam zu tun hatten. Gewalttätige Homophobie ist leider der islamischen Welt keineswegs fremd. Alle zehn Länder auf der Welt, in denen auf Homosexualität die Todesstrafe steht, sind mehrheitlich islamisch, und in vielen anderen islamischen Ländern wird sie mit langen Gefängnisstrafen geahndet. Der weltweite Spartacus Reiseführer für Homosexuelle gibt für kein einziges mehrheitlich islamisches Land eine positive Reiseempfehlung.6
Ein weiteres Argument, mit dem ein Zusammenhang zwischen Terror und Islam abgestritten wird, ist der Hinweis darauf, dass die meisten Opfer Muslime sind. Barack Obama twitterte in diesem Sinne in Bezug auf den sogenannten „Islamischen Staat im Irak und dem Levant“ (ISIL): „ISIL spricht für keine Religion. Seine Opfer sind überwiegend Muslime, und keine Religion lehrt ihre Anhänger, unschuldige Menschen zu töten.“7 Auch das deutsche Bundesinnenministerium benutzt dieses Argument, um die These zu untermauern, der Terror habe nichts mit dem Islam zu tun:
Der Islam ist wie das Christentum eine friedliebende Religion. Muslime lehnen Terrorismus und seine Ziele ebenso ab, wie andere Teile unserer Bevölkerung. Dies belegen unabhängige Umfragen. Der Islam als Glaubenslehre wird lediglich von Extremisten und Terroristen, die in jeder Glaubensrichtung vertreten sind, missbraucht, um Menschen von ihren Zielen zu überzeugen und für terroristische Handlungen zu gewinnen. […] Weltweit gesehen sind die meisten Opfer des angeblich im Namen des Islam verbreiteten Terrorismus Muslime.8
Da der größte Teil des islamistischen Terrors in islamischen Ländern stattfindet, sind die meisten Opfer tatsächlich Muslime. Dies können Muslime sein, die einer anderen religiösen Richtung angehören, die sich gegen die Scharia stellen und für Meinungsfreiheit und Frauenrechte eintreten, Muslime, die rivalisierenden Terrorgruppen angehören, oder solche, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aber wenn das bedeuten würde, dass die Gewalt nichts mit dem Islam zu tun haben kann, dann müssten wir auch sagen, dass die Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten oder die Verfolgung von Ketzern durch die Inquisition nichts mit dem Christentum zu tun hatten. Und die Mafia hat dann auch nichts mit der sizilianischen Kultur zu tun, da ja die meisten ihrer Opfer Sizilianer sind.