Читать книгу 53 mal eins - Группа авторов - Страница 8
Оглавление04 Um Pallottis Geist ringen
„Das Orginal stirbt in den Epigonen.“ Dieser Satz eines polnischen Schriftstellers begleitet mich schon einige Zeit. Das Wort „Epigone“ bedeutet ursprünglich „Nachgeborener“, ist aber in unserem Sprachgebrauch heute negativ geworden und bezeichnet einen „Nachmacher“. Einen, dem nichts Neues einfällt und der so das Vergangene ohne eigene Gestaltungskraft imitiert.
Wir Pallottiner lieben den heiligen Vinzenz Pallotti – mit seinen Eigenheiten, mit seinen Stärken und mit seiner Leidenschaft. Wir schätzen sein offenes Kirchenbild und seine Liebe zu Gott. Wir lieben ihn für seine Weite und für seine unendliche Sehnsucht nach Gott. – Zumindest lieben wir ihn so, wie wir glauben, dass er war und wir ihn zu erkennen meinen. Denn: Nie haben wir den ganzen Menschen, nie alle seine Dimensionen und seine Vielschichtigkeit; wir wählen aus. Manches in der Biographie des Heiligen zieht unsere Aufmerksamkeit stärker auf sich, und für manches haben wir nur einen blinden Fleck übrig.
Manchmal, scheint mir, legen wir auch etwas in die Person und in das Leben unseres Heiligen hinein, weil wir gar zu gerne hätten, dass er so denke wie wir. Nie haben wir den „ganzen“ Menschen, den „ganzen“ Heiligen. Wir leben in einer anderen Zeit und haben einen anderen Lebenshintergrund. Unsere Lebenssicht färbt ab auf unser Bild von Pallotti.
Und das ist erlaubt. Es ist auch gut so; es geht auch gar nicht anders.
„Das Original stirbt in den Epigonen.“ Würden wir Pallotti imitieren, kopieren, ihn „nachmachen“, so wie wir ihn uns vorstellen, hätte er uns und unserer Zeit wenig zu sagen. Wir würden im 19. Jahrhundert stehen bleiben. Wir würden die Antworten für damals finden, unsere Zeit und unsere Nöte aber gingen leer aus.
Wer Vinzenz Pallotti und seinem Ideal, seinem Traum treu bleiben will, muss sich in gewisser Hinsicht auch vom Blick in die Vergangenheit lösen. Er braucht die Zwiesprache mit den Menschen, die heute leben, mit den Nöten, die heute nach Antwort schreien. Was einen Heiligen frisch und lebendig hält, ist, wenn sein Geist in seinen „Geisteskindern“, in seinen Nachfolgern, lebendig bleibt. Wenn die Größe seiner Liebe, seiner Menschenzugewandtheit, seines Opfergeistes und seiner Gottesleidenschaft auch unser Kennzeichen ist.
Die „Übersetzungsarbeit“ eines Heiligen, ihn in der Sprache der Jetztzeit, der Gegenwart, zu übertragen, ist wesentlich schwieriger und mühseliger. Es braucht Gestaltungskraft, Mut und eine gute Portion Vertrauen in den Heiligen Geist. Leichter ist es, zurück zu schauen und „historische Studien“ zu betreiben.
Wer sich noch an den Mathematikunterricht erinnert, kennt das „Parallelverschieben“: Eine geometrische Figur wird von einem Ort zu einem anderen (parallel) verschoben. Dabei bleibt die Gestalt der Figur unverändert, aber sie befindet sich in einem neuen Umfeld.
Es ist die Aufgabe in der pallottinischen Familie, dass wir um Pallottis Geist ringen: Wie würde seine Person und sein Handeln in der heutigen Zeit, an unserem Ort, an diesen Menschen, sichtbar werden: die Größe seines Geistes, seine Liebe zu den Menschen, seine Weite und Offenheit, seine mutige Tatkraft, seine unendliche Sehnsucht nach Gott, sein Ergriffensein von Gottes Barmherzigkeit …
Wie würde es unser Leben verändern? Zu welchen Taten würde es uns anspornen? Welche Spuren würden wir hinterlassen?
Das „Orginal“ soll leben. Sein Geist soll erfahrbar werden in den „Nachgeborenen“.
P. Helmut Scharler SAC