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Clemens Sedmak Wege in die Freiheit, Wege in der Freiheit

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Der im Dezember 2011 verstorbene tschechische und tschechoslowakische Präsident Václav Havel hat sich jahrzehntelang für Freiheit als europäischen Grundwert eingesetzt und ist so „Wege in die Freiheit“ gegangen. Im Zuge seiner Präsidentschaft war es ihm um „Wege in der Freiheit“ zu tun. Es kann wohl unschwer plausibel gemacht werden, warum ein mitteleuropäischer Dichter und Denker, Philosoph und Politiker, der sein Leben in den Dienst der Freiheit in Europa gestellt hat, an den Anfang eines Bandes über Freiheit als europäischen Grundwert gestellt werden soll. Václav Havel hat immer wieder darauf hingewiesen, wie kostbar das Gut der Freiheit ist und wie leicht es verloren gehen kann.

Zwei europäische Romane zeigen zwei Formen auf, durch die Freiheit unterminiert werden kann: Auf die Weise von „Nineteen Eighty-Four“ eines George Orwell durch Überwachung und Angst; und auf die Weise der „Brave New World“ eines Aldous Huxley, durch lustmaximierende Gestaltungslosigkeit. Diese beiden Szenarien könnten – in Havels Sprache – als totalitäres bzw. als posttotalitäres System bezeichnet werden.1 „Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit.“2 Systeme, die diese Freiheit einschränken oder aushebeln, sind bestrebt, Uniformität und Konformität zu schaffen. Damit wird das vergewaltigt, was Havel als „authentische Existenz“ des Menschen bezeichnet, als jene Daseinsform, die „in der Wahrheit“ leben lässt.3 „In der Wahrheit“ zu leben bedeutet, sich stets der ständigen Verantwortung bewusst zu sein, die ein Mensch trägt.4 Verantwortung als achtsame Übernahme von Freiheit ist Grundlage für Identität, ist Schwerpunkt, Bauprinzip, Achse, Kitt.5 Oder noch deutlicher – in einem Brief aus dem Gefängnis an Ehefrau Olga gesagt: „Verantwortung ist das Messer, mit dem wir unseren uneinholbaren Umriß in das Panorama des Seins einschneiden.“6 Es ist Teil dieser Verantwortung, bereit zu sein, das Leben für den Sinn, den es gefunden hat, zu opfern.7 Dies hat sich in der jüngeren Geschichte der Tschechoslowakei immer wieder gezeigt. Der „Prager Frühling“ war Ausdruck des menschlichen Strebens nach Freiheit. Innere Freiheit ist die Überzeugung, etwas verändern zu können: „Jeder von uns hat […] die Möglichkeit zu begreifen, daß auch er – und sei er noch so bedeutungslos und machtlos – die Welt verändern kann.“8 Diese Freiheit zeigt sich vor allem in der moralischen Existenz und in der Kultur, oder anders gesagt: in der Qualität des Wortes, wie Havel anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels bemerkte.9 Bei dieser Gelegenheit – wir befinden uns im Oktober 1989 – konnte Havel, der den Preis nicht persönlich entgegennehmen konnte, den Deutschen ausrichten:

Sie leben in einem Land, in dem es eine große Freiheit des Wortes gibt. […] ich lebe in einem Land, wo das Gewicht und die radioaktive Strahlung des Wortes tagtäglich von den Sanktionen bestätigt werden, die das freie Wort auf sich zieht.10

Ein Indikator für die Freiheit ist damit das Wort, der Umgang mit dem Wort. Der Umgang mit dem Wort ist aber auch Motor der Freiheit, Grundlage – und in manchem auch Ziel.

Freiheit ist der Müdigkeit und Abgestumpftheit entgegengesetzt – die „Charta 77“ war gerade auch ein Kampf gegen die Apathie – und wurde von Jan Patocka mit dem Stichwort der „Solidarität der Erschütterten“ bezeichnet.11 Freiheit hat mit Solidarität zu tun. So verbindet sich das Thema des ersten Bandes dieser Reihe mit dem Thema des zweiten. Der Zusammenhang von Freiheit und Solidarität wird bei den „Wegen in die Freiheit“, dann aber auch wieder bei den „Wegen in der Freiheit“ deutlich. In seiner Rede vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrates im Plenarsaal des Bundestages am 24. April 1997 in Bonn konnte der tschechische Präsident ausführen:

Freiheit im tiefsten Sinne des Wortes bedeutet jedoch mehr, als ohne Rückhalt zu sagen, was ich denke. Freiheit bedeutet auch, daß ich den anderen sehe, mich in seine Lage hineinzuversetzen, in seine Erfahrungen hineinzufühlen und in seine Seele hineinzuschauen vermag und imstande bin, durch einfühlsames Begreifen von alledem meine Freiheit auszuweiten. Denn was ist das gegenseitige Verständnis anderes als die Ausweitung der Freiheit und die Vertiefung der Wahrheit?12

Die Freiheit wird damit dort bedroht, wo die Wahrheit bedroht wird; sie wird dort bedroht, wo das Bemühen um Verstehen und Verständigung schwächer wird. Anders gesagt: Freiheit ist ein Auftrag, auch eine Last und Bürde. Dieses Motiv kennen wir aus der biblischen Exoduserzählung. Das Volk Israel wird von Mose aus Knechtschaft und Unterdrückung in Ägypten herausgeführt, hinein in die Wüste – und das Volk beginnt zu murren und sich in der Gestaltungsnotwendigkeit, die die Freiheit mit sich bringt, nach der Sicherheit und Enge des versklavten Lebens zurückzusehnen (vgl. Ex 15,22–17,7). Nicht von ungefähr hat Erich Fromm die Flucht und Furcht vor der Freiheit thematisiert.13 „Wege in die Freiheit“ sind eine mühevolle, aber doch mit klarem Ziel ausgestattete Unternehmung. Das lange Jahre zweigeteilte Nachkriegseuropa hat diesen Weg beschritten. Nun stellt sich die Frage nach der Gestaltung des Lebens in der Freiheit. Havel greift dieses Motiv immer wieder auf. In seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1990 spricht er diesen Topos der Last von Freiheit an:

Die Menschen haben in diesen Ländern [Osteuropa] die ersehnte Freiheit erkämpft. Doch in dem Augenblick, in dem sie sie gewonnen haben, ist ihnen, als ob sie auf einmal überrascht seien; sie waren ihr in einem Maße entwöhnt, daß sie plötzlich nicht wissen, was sie mit ihr anfangen sollen: Sie fürchten sie.14

Wir stoßen in manchen osteuropäischen Ländern, durchaus auch im 21. Jahrhundert im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Herausforderungen, teilweise auf eine nostalgische Sehnsucht nach anderen Zeiten. Der Euphorie der Befreiung weicht die Ernüchterung, mit der Freiheit nun etwas anzufangen.15 Vor dieser Herausforderung stehen nicht nur junge Demokratien, sondern Europa insgesamt.

Immer wieder drückt Havel seine Sorge darüber aus, dass sich die Europäische Union zu einer technokratischen und materialistischen Entität entwickle, die im Zuge der Schaffung von Einheit die Freiheit einschränken würde.16 Europa befindet sich an einem Scheideweg – kann es gelingen, Freiheit in der Einheit zu leben? Entscheidend wird das europäische Bewusstsein von Einheit und Zusammengehörigkeit sein. Gerade in der Schaffung von Einheit aus Vielfalt liegt der besondere Charme Europas. „Europa setzt sich überwiegend aus kleinen Nationen zusammen, deren geistige und politische Geschichte sie mit Tausenden von Fäden gegenseitig zu einem einzigen Gewebe verknüpfen.“17 Die Anerkennung der Unteilbarkeit des europäischen Schicksals, damit die Anerkennung, dass individuelle Freiheit und kollektive Freiheit einerseits und die verschiedenen nationalen Souveränitäten andererseits miteinander verknüpft sind, wird über die Zukunft Europas entscheiden.

Es scheint tatsächlich die Fähigkeit zu sein, die verschiedenen Formen von Freiheit miteinander ins Gleichgewicht zu bringen, die über den guten Umgang mit Freiheit entscheidet. In der Literatur über Freiheit finden wir immer wieder (unterschiedliche) Unterscheidungen von zwei Formen von Freiheit – etwa: die Unterscheidung von „Freiheit von“ und „Freiheit zu“; die seinerzeit von Isaiah Berlin eingeführte Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit (erstere: Verwirklichungschancen, letztere: Abwesenheit von Restriktionen und Interventionen) ist nach wie vor relevant. Positive Freiheit ist nach Berlin mit individueller Selbstbestimmung verbunden, negative Freiheit mit Fragen der Einmischung und deren Unterlassung.18 Charles Taylor hat diese Unterscheidung in die Begriffe „exercise-concept“ (positive Freiheit als Verwirklichungsbegriff) und „opportunity-concept“ (negative Freiheit als Möglichkeitsbegriff) gegossen.19 An dieser Terminologie sieht man auch, dass die beiden Konzeptionen von Freiheit eng miteinander verbunden sind, hat doch die Verwirklichung von Zielen mit der Unterlassung von Behinderung zu tun. Es geht immer wieder um die Herausforderung eines Gleichgewichts zwischen diesen Freiheitsformen. Unterscheiden kann man auch „äußere Freiheit“ und „innere Freiheit“, wobei die äußere Freiheit mit der inneren Freiheit verbunden ist: „Der beste Widerstand gegen die Totalität ist es einfach, sie aus der eigenen Seele zu vertreiben.“20 Das hat auch viel mit Bildung zu tun, die ein Bewusstsein für Kontingenz und damit ein Verständnis für die uns zur Verfügung stehenden Freiräume entwickeln lässt.21 Diesen Sensus für die innere Freiheit und für die Verpflichtungen, die sich aus dieser Freiheit ergeben, verdanken wir vor allem auch der europäischen Aufklärung. Das Grundanliegen der Autonomie wird auch politisch für das Selbstverständnis Europas und für das Selbstverständnis des Menschen entscheidend. Freiheit kann mit guten Gründen als Signatur des Menschlichen verstanden werden.22

Auch wenn – um wieder eine Freiheitsunterscheidung anzuführen – zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit unterschieden werden kann, sind diese doch miteinander verbunden und gerade im Hinblick auf die Frage nach dem Begriff der politischen Freiheit nicht zu trennen. Dieser Band, der sich mit Freiheit als einem europäischen Grundwert auseinandersetzt, wendet sich vor allem Aspekten der politischen Freiheit zu. Politische Freiheit ist die Ausübung von Spielräumen durch Individuen im Rahmen einer Gemeinschaftsordnung. Politische Freiheit hat wesentlich mit dem Zusprechen von Rechten zu tun, das individuelle Subjekte in ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit in den Blick nimmt.23 Dabei geht es um die Sicherung von Aspekten wie Einzigartigkeit und Vielfalt. So verwundert es nicht, wenn Václav Havel bemerkt:

Seit eh und je war der größte Feind des Kommunismus die Selbständigkeit, die Verschiedenheit, die Andersartigkeit, kurzum die Freiheit.24

An dieser Verbindung von Freiheit und Umgang mit Andersartigkeit sieht man auch den weiter oben erwähnten Zusammenhang zwischen Freiheit und Empathie. Damit wird Freiheit Grundlage für gedeihliches menschliches Zusammenleben. Einschränkungen der Freiheit sind entsprechend zu rechtfertigen, die Beweislast liegt in liberalen Konzeptionen auf Seiten derjenigen, die Freiheit einzuschränken suchen. Eine solche Einschränkung kann über die Verletzung von Freiheiten anderer oder Schadensvermeidung (auch im Zusammenhang mit einer Ethik der Intervention) gerechtfertigt werden. Die Konzeption von Freiheit als Schlüsselbegriff sowohl in Fragen der Anthropologie, als auch in Fragen der Theorien von Gerechtigkeit und Entwicklung verdanken wir Amartya Sen, der Entwicklung als Freiheitsgeschehen beschrieben hat.25 Freiheit ist die Fähigkeit, ein gutes Leben zu führen. Das Bekenntnis zur Freiheit geht dann auch mit der Verpflichtung einher, Formen von Unfreiheit zu bekämpfen.26 Grundlage der Souveränität von Gemeinschaftsgebilden ist die Selbstbestimmung des Einzelnen, von innen wie von außen her:

Die Souveränität der Gemeinde, der Region, des Volkes, des Staates, jegliche höhere Souveränität hat nur dann Sinn, wenn sie von der in der Tat einzigen originalen Souveränität abgeleitet ist, nämlich von der Souveränität des Menschen, die ihren politischen Ausdruck in der Souveränität des Bürgers findet.27

Diesem Gedanken ist dieser Band gewidmet. Gerechtigkeit ist mit Freiheit verbunden, ob als rechtliche Freiheit, reflexive Freiheit, soziale Freiheit oder moralische Freiheit.28 Ich darf nun einen kurzen Überblick über den Band geben, der Beiträge zu Wert, Begriff, Diskussion und Wirklichkeit von Freiheit versammelt.

Im ersten Abschnitt werden begriffliche Klärungen vorgenommen, aus philosophischer, gesundheitswissenschaftlicher und politologischer Sicht. Den Anfang macht der Philosoph Otto Neumaier unter dem Titel „Freiheit, Vernunft und Verantwortung“. Notwendig ist die begriffliche Klärung, da wir zwar gerne von Freiheit, Verantwortung und Vernunft sprechen, ohne uns aber hinreichend darüber klar zu sein, was unter den dadurch bezeichneten Phänomenen zu verstehen sei und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. So heißt es etwa nicht nur, Freiheit sei eine notwendige Voraussetzung für Verantwortung, sondern auch umgekehrt, Verantwortung sei notwendig, damit die Menschen nicht zügellosen Gebrauch von ihrer Freiheit machten. Andererseits wird in neuerer Zeit aufgrund von Ergebnissen neurobiologischer Experimente darüber diskutiert, ob unser Handeln auf Willensfreiheit beruht oder kausal-deterministisch als Funktion von Vorgängen im Zentralnervensystem erklärt werden kann bzw. werden muss (wobei sich die Diskussion zum Teil um die Frage dreht, ob diese Annahmen miteinander kollidieren oder kompatibel sind); auch dabei ist der Status der Verantwortung ebenso umstritten wie jener der Freiheit. So heftig die Diskussionen über diese Fragen geführt werden, so der Autor, so wenig haben sie uns bisher einer Antwort näher gebracht. Die Erfahrung mit früheren unfruchtbaren Debatten legt die Vermutung nahe, dass dies zumindest zum Teil an der Unklarheit der verwendeten Ausdrücke liegt, dass also ein vermeintliches Sachproblem vorerst (auch) ein Sprachproblem ist. Um dem abzuhelfen, versucht Neumaier in seinem Beitrag zunächst zu klären, was unter moralischer Verantwortung zu verstehen ist, um im Anschluss daran zu zeigen, inwiefern dafür Freiheit notwendig ist, unter welchen Voraussetzungen uns moralische Verpflichtungen einen Freiraum lassen und in welchem Sinne es sogar gerechtfertigt ist zu sagen, dass uns die Bereitschaft zur Übernahme moralischer Verantwortung frei macht.

Nach einer solchen ersten grundsätzlichen begrifflichen Klärung des Verhältnisses von Freiheit und Verantwortung aus philosophischer Sicht bereitet die Ergotherapeutin und Gesundheitswissenschafterin Ursula Costa in ihrem Beitrag „Freiheit und Handlung – Handlungsfreiheit“ Zugänge zur Handlungsfreiheit aus Sicht der „Occupational Science“ (Beschäftigungswissenschaft, Handlungswissenschaft) und der Ergotherapie auf. Die Handlungswissenschaften sehen den Menschen als handelndes Wesen und stellen somit die menschliche Handlung mit ihren vielfältigen Bedingungen, Einflussfaktoren und Wechselwirkungen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. In Freiheit zu handeln bedeutet dann, das verwirklichen zu können, was für den Einzelnen/die Einzelne, für seinen/ihren und in seinem/ihrem Lebenskontext von Bedeutung ist. Handlungsfreiheit wird dabei auch als Möglichkeit und Fähigkeit verstanden, in Übereinstimmung mit dem eigenen Inneren und der jeweiligen Umgebung sich für oder gegen eine Handlung entscheiden zu können. Zu einem Forschungsprogramm aus handlungswissenschaftlicher Sicht gehört auch, den persönlichen und kontextuellen Bedingungen für Handlungsfreiheit nachzugehen; deren Stellenwert diskutiert Costa am Ende des Beitrags gezielt auf die europäische Perspektive bezogen, was eine besondere Betonung von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung mit sich bringt, eine Berücksichtigung einer herausfordernden und bereichernden Vielfalt an Hintergründen und Entwicklungen, aber auch besondere Charakteristika der physischen und sensorischen Umwelt. Dem Beitrag liegt die These zugrunde, dass Handlungsfreiheit Ermöglichungsbedingung für ein „gehaltvolles Leben“ ist.

Dann schließt der Politikwissenschafter Mario Claudio Wintersteiger mit seiner Analyse „Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit“ den ersten Abschnitt ab. Er bemüht sich um eine Topographie vormoderner, moderner und postmoderner Liberalität. Der Hauptfokus des gewählten phänomenologisch-hermeneutischen Zugriffs liegt dabei auf dem traditionsreichen Ringen der (pluralistischen) Freiheiten mit der (antipluralistischen) Freiheit des modernen Revolutions-„Mythos“. Mit politisch-ästhetischem Spürsinn erörtert Wintersteiger, wie zunächst der neuzeitlich-absolutistische Zeitgeist den langsamen Niedergang der alten Freiheiten einläutete und wie später die Revolutionsideologie selbst die neuen Freiheitsrechte zu bedrohen begann. Anhand des romantischen Lebensgefühls verdeutlicht der Autor, auf welche Weise versucht werden konnte, einige ästhetisch inspirierte Freiheiten gegenüber den modernen Zwängen zu behaupten. Abschließend umreißt Mario Wintersteiger, wie das Schwinden des progressivistischen Geschichtsbildes nunmehr bestimmte Freiheiten wieder eröffnet und wie sich diese Freiheiten im Zeichen der Postmoderne gestalten.

Der zweite Abschnitt des Bandes beleuchtet die historischen Fundamente des Freiheitsbegriffs. Alle darin versammelten Beiträge verweisen auf die Kontextualität dieses Begriffs. Die Altphilologin und Theologin Christina M. Kreinecker bietet eine vergleichende Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff der griechischen und der römischen Antike. Hier steht Freiheit stets im Kontext zentraler anderer Werte und Haltungen, wie etwa Würde und Ansehen im römischen oder Autonomie und Gleichheit im griechischen Bereich. Die Freiheit eines Menschen ist im römischen Verständnis konstitutiv an die eigene Rechtsstellung und das persönliche Ansehen gebunden. Dabei erweist sich der römische Freiheitsbegriff als exklusiv und relational, da er Abhängigkeiten beinhaltet und sich einerseits in der Zugehörigkeit zu einer Civitas, andererseits in der Abgrenzung vom Sklave-Sein ausdrückt. Dem gegenüber steht das griechische Verständnis von Freiheit, welches das Prinzip Gleichheit als Gleichberechtigung aller Bürger interpretiert und Aspekte wie Redefreiheit und Demokratie als die primäre Staatsform zur Verwirklichung von Freiheit betont. Kreinecker vertritt dabei die These, dass die antike Argumentation von Freiheit als „Zugehörigkeit“ einem Freiheitsbegriff heute, etwa dem der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der Form, nicht aber dem Inhalt nach ähnelt.

Der Moraltheologe Werner Wolbert demonstriert in seinem Beitrag die Problematik analogen (homonymen) Gebrauchs von neutestamentarischen Termini wie „Sklaverei“ in unterschiedlichen Kontexten. Das Spiel mit zwei Bedeutungen von „Sklaverei“ macht im Kontext provokatorischer Paränese (Ermahnung) durchaus Sinn, vor allem, wenn die Adressaten nicht Sklaven sind, sondern Freie, speziell Angehörige einer Oberschicht. Die Sklaverei des Geistes – etwa als egoistisches Karrierestreben – mag (noch) schlimmer sein als die des Leibes. Und auch der freigelassene Sklave kann in diesem Sinne einer neuen Sklaverei verfallen. Der analoge Gebrauch zweier Formen der Sklaverei kann aber auch dazu führen oder missbraucht werden, wie Wolbert an der Geschichte der christlichen Beurteilung der Sklaverei aufzeigt, um diese als ethisch unbedenklich, ja gottgewollt zu rechtfertigen. Diese Geschichte, die auch abschlägige Interpretationen birgt, zeigt, dass in der christlichen Ethik, die auf Vernunft und Offenbarung basiert, nicht den Texten der Offenbarung das letzte Wort alleine gebühren kann.

In Abrundung dieses zweiten Teils rekonstruiert der Historiker Wolfgang Schmale in seinem Beitrag Anfänge und Fundamente des modernen Begriffs der Freiheit aus der Sicht der europäischen Geistesgeschichte. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht dabei die Drehung der begrifflichen Bestimmung der Rechts- und Freiheitskategorien in der anthropozentrischen Wende des 16. Jahrhunderts. Grundsätzlich, so Schmale, beginnt die Argumentationsrichtung nunmehr beim Menschen und seiner Existenzsicherung, für die ein begriffliches und rechtlich-substantielles Korrelat gesucht wird, die Richtung führt nicht mehr wie im mittelalterlichen Diskurs von Gott zum Menschen. Für beide geistesgeschichtlichen Universen gilt gleichermaßen, so Schmales These, dass Freiheit ein relationaler Begriff ist – und eine relationale Praxis. Sie steht in Abhängigkeit des historischen Kontextes und damit auch der Interessen in einer Gesellschaft. Mit erhellenden Befunden und Verweisen, z.B. auch auf dem Gebiet der Ästhetik, geht der Historiker den Entwicklungen des Freiheitsverständnisses nach. Er rekonstruiert mit diesem Zugriff Vorgeschichte und Entwicklung des modernen Menschenrechtsdenkens und der entsprechenden Rechtspraxis in Europa. Schmale ist aber auch sehr aktuell, wenn er etwa die Vorstellung, dass es historisch betrachtet einen absoluten Fortschritt an Freiheit nicht gebe, durch illustrierende Verweise auf gegenwärtige Freiheitseinschränkungen wie Missbrauch elektronischer Daten, überzogene Überwachung u.a.m. als falsch entlarvt. Dieses inhaltliche Thema wird in einem Beitrag aus dem vierten Teil des Bandes wieder aufgenommen und für die europäische Reisefreiheit fortgeführt. Relationale Begrifflichkeit und relationale Praxis verweisen auf verschiedene gesellschaftliche Diskurse, in denen der Freiheitsbegriff konkretisiert ist. Diese Auseinandersetzung leistet der dritte Abschnitt („Gesellschaftliche Diskurse“) dieses Bandes.

Der dritte Teil wird von einem Beitrag des Soziologen Daniel Bischur eingeleitet. Ausgehend von John Stuart Mills Konzept der Freiheit des Individuums als einer allgemeinen Freiheit, das eigene Leben innerhalb der Gesellschaft selbst gestalten zu können, hebt dieser Beitrag die Bedeutung eines solchen anti-paternalistischen Freiheitsbegriffs und dessen Wurzeln in der Philosophie der Aufklärung hervor. Hierbei vertritt Bischur die These, dass trotz der Probleme eines solchen Freiheitskonzeptes – die Rationalitätsgebundenheit des Denkens der Aufklärung, die Begründung der Grenzen der Freiheit für das moderne, vergesellschaftete Individuum – eine Besinnung darauf für eine gegenwärtige Diskussion von Freiheit unabdingbar ist. Diese Bedeutung wird dann unter Verweis auf Max Weber dahingehend zugespitzt, dass Freiheit hier in der Begrenzung von (absoluten) Geltungsansprüchen von Moralen sichtbar gemacht wird.

Der Politikwissenschafter Markus Pausch trägt eine empirisch orientierte Studie zu politischer Partizipation und individuellem Wohlbefinden bei. Er geht von der These aus, dass politische Freiheit sowohl für das Individuum als auch für ein demokratisches Gemeinwesen von großer Bedeutung ist. Allerdings bietet nicht jede Demokratie das gleiche Maß an Partizipationsmöglichkeiten. Direktdemokratische, föderale Strukturen schneiden dahingehend nachweislich besser ab als rein repräsentative oder zentralistische. Neben den äußeren Voraussetzungen bedarf es aber auch innerer bzw. individueller Fähigkeiten, i. e. politische Kompetenzen, die es erlauben, mit dem Recht auf Teilhabe und mit freien Wahlen umzugehen. Anhand von empirischen Daten zeigt Pausch, dass gleiche politische Freiheitsrechte pluralistische Gesellschaften stabilisieren und, dass sie auch, sofern sie genutzt werden, zum subjektiven Wohlbefinden und zu politischer Autonomie beitragen. Sie ermöglichen dem zoon politikon Mitbestimmung um der Selbstbestimmung willen. Durch Analysen der Voraussetzungen und der Ergebnisse politischer Partizipation werden Wohlbefinden und Autonomie empirisch fassbar.

Einen philosophischen Akzent setzt der englische Religionsphilosoph Christopher Hamilton in seinem Beitrag „Zur Befreiung des Denkens: Philosophie als spirituelle Praxis“. Er beschreibt Nietzsches „Morgenröte“ als einen therapeutischen Versuch, den Leser zu befreien oder ihm jene Werkzeuge an die Hand zu geben, die er braucht, um frei zu sein. In Ablehnung dreier Schlüsselkonzeptionen von Freiheit, die im europäischen Denken tief verwurzelt sind („Freiheit als eine Art von innerer Freiheit des Willens“; „Freiheit im Sinne von tun, was man will“; „Freiheit als politisches Handeln“), leitet Nietzsche, so der Autor, seine Freiheitskonzeption von anderen Quellen ab. Hamilton charakterisiert den nietzscheanischen Freiheitsbegriff als eine Art Quietismus, eine Behauptung, dass wahre Freiheit aus einer Art mindfulness dem täglichen Leben gegenüber besteht, was dem Ursprung nach eher dem östlichen als dem westlichen Denken entspringe. Daraus folgert Hamilton, dass es in Nietzsches Ansicht auch keine eindeutige Komponente gibt, aus der sich das Frei-Sein eines menschlichen Wesens ableiten lässt. Dem Philosophen zufolge wissen wir deshalb nicht genau Bescheid, worüber wir sprechen, wenn wir über die menschliche Freiheit sprechen. Die „Morgenröte“ wird damit zu einem befreienden sich-selbst-unterlaufenden Stück Selbstironie, dessen Ziel es ist, eine Transformation des Individuums zu bewirken, eine Transformation des Selbst.

Der vierte Abschnitt ist „Anwendungen“ des Freiheitsdiskurses gewidmet. Der Beitrag des Rechtswissenschafters Christoph Bézemek „Freiheit als europäischer Begriff in rechtswissenschaftlicher Perspektive“ steht am Beginn dieses Abschnitts. Er bezieht seine Argumentationskraft aus historisch errungenen und geklärten Komponenten des Freiheitsbegriffs. Die Argumentation konzentriert sich aber darauf, die gesicherten Bruchstücke in den Kontext aktueller Grundrechtsverständnisse zu setzen. Als Essenz des zutage tretenden Freiheitsbegriffs hält der Autor fest, dass Freiheit als europäischer Begriff in rechtswissenschaftlicher Perspektive eine Vorstellung von Freiheit des Individuums im Gefüge des demokratischen Rechtsstaates sei, die rechtliche Absicherung der Position des Einzelnen gegen Willkür und Gewalt, ein rechtlich gewährleisteter Raum, die eigene Individualität auch im staatlichen Verband leben zu können. Sie bedeutet aber nicht, seinen Egoismus auf Kosten anderer betreiben zu können – im Gegenteil habe Europa nach den drastischen historischen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Modell gesellschaftsgeleiteter Freiheit etabliert. Davon zeugt, so Bézemek, eine Rechtsordnung, die die Freiheiten des Einzelnen mit den Freiheiten anderer in Ausgleich zu bringen bestrebt ist, die einmahnt, dass Freiheit nie frei von Verantwortung geübt werden kann und die dafür Sorge tragen möchte, dass Freiheit nie wieder dazu missbraucht werden kann, Unterdrückung und Willkür Vorschub zu leisten.

Der Politikwissenschafter Helmut P. Gaisbauer bringt eine Studie zur Mikrodynamik des europäischen Integrationsprozesses im Politikfeld der inneren Sicherheit in den Band ein. Detailliert geht er den Folgewirkungen der Entscheidung zur Aufhebung der Personenkontrollen an der deutsch-französischen Grenze nach, die rasch zur Etablierung des sogenannten Schengen-Regimes geführt hat und zahlreiche weitere Entwicklungen vor allem im Bereich der Polizeizusammenarbeit ausgelöst hat. Die Etablierung von Reisefreiheit, so die These, die Gaisbauers Arbeit unterliegt, löste eine Art sicherheitspolitische Kettenreaktion aus, die in vielerlei Hinsicht Einfluss auf andere Sphären der Freiheit ausübte, häufig in negativer Hinsicht im Sinne einer Gefährdung oder Einschränkung etablierter Rechte und Freiheiten. Mit diesem Grundtenor bietet der Beitrag eine Detailstudie zu aktuellen Tendenzen der Freiheitseinschränkungen – ein Thema, das in Wolfgang Schmales Beitrag nur anekdotisch aufgeführt werden konnte. Er belegt damit gleichsam auch dessen These, dass es einen absoluten Fortschritt an Freiheit nicht gäbe.

Abschließend kommt ein Afrikanist zu Wort: Für Arno Sonderegger besteht aus Sicht des Afrikawissenschafters ein wesentliches Werteproblem Europas in der dominanten Art, in der Europa Außenräume definiert, um sich davon abzuheben. Dies mag, so seine Ansicht im Beitrag „Vom Wert und Kampf um Autonomie: Freiheit und Afrika“, vielleicht aus einem eindeutigen (und daher zweifelhaften) Identitätsbewusstsein resultieren, hat aber jedenfalls den bedauerlichen Effekt, dass bestehende globale Ungleichheiten aufrechterhalten bleiben. Demgegenüber fragt Sonderegger: Wer braucht „europäische“ Werte? Brauchen wir nicht vielmehr wirklich universelle, humane Werte? Vor dem Hintergrund dieser Frage formuliert der Autor eine Eurozentrismuskritik entlang dreier Themenstränge: in Afrika verwurzelte Vorstellungen von Freiheit im Zusammenhang mit allgemeineren Freiheitsdiskursen; politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Autonomie im Kontext der euroafrikanischen Beziehungsgeschichte sowie des nationalistisch und panafrikanisch inspirierten Freiheitsdiskurses.

Dieser letzte Beitrag ist zugleich eine Erinnerung an die Notwendigkeit europäischer Demut. Ich zitiere ein letztes Mal Václav Havel. Unpersönliche Macht schränkt nach seinem Verständnis die Freiheit ein. Diese Form der Macht ist wahrhaft keine außereuropäische Angelegenheit:

Das genaue Gegenteil ist wahr: es waren gerade Europa und der europäische Westen, die der Welt all das gegeben, ja vielfach direkt aufgezwungen haben, worauf diese Macht heute steht: von der neuzeitlichen Wissenschaft, dem Rationalismus, Szientismus, der industriellen Revolution und überhaupt der Revolution als Fanatismus der Abstraktion, über die Intemierung der Lebenswelt in das Badezimmer bis zum Konsumkult, der Atombombe und dem Marxismus.29

Das sollte Europa zu denken geben und uns Europäer(innen) zu Bescheidenheit und Behutsamkeit mahnen.

1 Vgl. Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen. Reinbek bei Hamburg 1990, 10–13.

2 Ebd., 16.

3 Vgl. ebd., 29.

4 Vgl. ebd., 73; V. Havel, Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis. Reinbek bei Hamburg 1990, 205.

5 Vgl. Havel, Briefe an Olga, 92.

6 Ebd., 94.

7 Vgl. V. Havel, Am Anfang war das Wort. Texte von 1969 bis 1990. Reinbek bei Hamburg 1990, 105. Das kann freilich nicht aufgetragen oder verlangt werden: „Wenn Menschen in Grenzsituationen bereit sind, für ihre Freiheit auch Blut zu vergießen, haben sie meist eine größere Chance, die Freiheit zu gewinnen, als wenn sie nicht dazu bereit sind […]. Sofort aber füge ich eine wichtige Sache hinzu: eine solche Entscheidung kann man nicht für andere fällen. Wenn Sie unserer gemeinsamen Freiheit das Leben opfern wollen, können Sie das tun. Wenn ich es opfern will, kann ich das tun. Aber weder Sie noch ich haben das Recht, irgend jemand anderen dazu zu zwingen, das zu tun, beziehungsweise ihn gar nicht zu fragen und sein Leben zu opfern.“ (V. Havel, Fernverhör. Reinbek bei Hamburg 1987, 128.)

8 Havel, Am Anfang war das Wort, 165.

9 Vgl. ebd., 210f.

10 Vgl. ebd., 211.

11 Ebd., 112.

12 V. Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung. Reinbek bei Hamburg 1998, 211f.

13 Vgl. Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit (Orig.: Escape from Freedom). München 2000.

14 V. Havel, Angst vor der Freiheit. Reden des Staatspräsidenten. Reinbek bei Hamburg 1991, 104f.

15 Havel bei einer Rede in Oslo: „Auf die anfängliche Freude über die eigene Befreiung folgt unweigerlich die Phase der Enttäuschung und Depression; erst jetzt, wo wir alles wahrheitsgetreu beschreiben und beim Namen nennen dürfen, erkennen wir das ganze Ausmaß der grauenvollen Erbschaft, das uns das totalitäre System hinterlassen hat; erst jetzt wird uns bewußt, wie schwer es sein und wie lange es brauchen wird, alle Schäden, die es angerichtet hat, wiedergutzumachen“ (Angst vor der Freiheit, 129).

16 Vgl. V. Havel, Fassen Sie sich bitte kurz. Reinbek bei Hamburg 22007, 359.

17 Havel, Angst vor der Freiheit, 168f

18 Vgl. Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty. Oxford 1969, 121ff.

19 Vgl. Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt am Main 1992, 120–122.

20 Havel, Am Anfang war das Wort, 109.

21 Vgl. Peter Bieri, Wie wollen wir leben? Salzburg 2011.

22 Vgl. Heinrich Schmidinger/Clemens Sedmak (Hrsg.), Der Mensch – ein freies Wesen? Autonomie – Personalität – Verantwortung. Darmstadt 2005.

23 Vgl Herlinde Pauer-Studer, Art. „Freiheit“, in: Gosepath, Stefan/Hinsch, Wilfried/Rössler, Beate (Hrsg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Berlin 2008, 334–340; siehe auch dies., Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit. Frankfurt am Main 2000.

24 Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung, 36.

25 Vgl. Amartya Sen, Development as freedom. New York 1999.

26 Vgl. ebd., 15–17.

27 V. Havel, Sommermeditationen. Berlin 1992, 27.

28 Vgl. das Projekt Axel Honneths: A. Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011.

29 Havel, Am Anfang war das Wort, 95.

Freiheit

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