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Innere Mission
ОглавлениеIn Deutschland versuchte Johann Hinrich Wichern (1808–1881), Sohn eines Mietkutschers und späteren Notars, auf der Grundlage eines neuen Verständnisses von Kirche zwei Probleme zu lösen, die sich seiner Meinung nach wechselseitig hervorbrachten: Entchristlichung und soziale Verwahrlosung. Nach dem Studium der Theologie wandte Wichern sich der diakonischen Arbeit zu. Seit 1833 leitete er das „Rauhe Haus“ in Hamburg-Horn, einem Vorort seiner Vaterstadt. Außerdem entfaltete er eine reiche schriftstellerische und publizistische Tätigkeit. 1839 erschien seine Schrift „Das Wesen der christlichen Kirche“, 1844 die Darstellung über „Notstände der protestantischen Kirche und die Innere Mission“. Im gleichen Jahr 1844 begann Wichern mit der Herausgabe der „Fliegenden Blätter. Mittheilungen über freie Vereine, Anstalten usw.“. Die „Fliegenden Blätter“ führten eine Fülle von Informationen über die damals schon reiche karitative Arbeit in den Ländern Deutschlands zusammen, um das Gewinnen neuer Ufer anzuregen. „Eine Durchlesung einer Reihe von Nummern derselben“, urteilte der 1849 gegründete „Central-Ausschuß für die Innere Mission“, „wird mehr als jede andere Interpretation zur Aufklärung darüber dienen, was die innere Mission sei, und was sie wolle“ (Rundschreiben vom 5. Juni 1849). Wichern war ein hochrangiger Sozialexperte, dessen Kompetenz auch von der Staatsbürokratie in Anspruch genommen wurde. Er überblickte sowohl die Formen der Armenpflege in der Erweckungsbewegung, die Arbeit mit Waisenkindern, Behinderten, sozial Gestrauchelten und Strafgefangenen, als auch die außereuropäischen Entwicklungen. Im Frühjahr 1848 sah man Wichern als Mitglied einer staatlichen Expertenkommission in Oberschlesien.
Wicherns Verständnis der Inneren Mission war denkbar weit gespannt. Mit der späteren Verengung auf einen speziellen Arbeitszweig der Kirche hatte es nichts zu tun. Innere Mission bedeutete für Wichern einen fundamentalen Neuansatz in der Geschichte der Kirche. Nach dem Siegeszug des Christentums seit Konstantin dem Großen, der äußeren Mission, gelte es, das Reich Gottes nach innen auszubreiten. Kirche, Staat, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft – jeder Bereich des sozialen und individuellen Lebens sollte von der Macht des Gottesreiches ergriffen und durchsättigt werden. Was in den Schriften der 1840er Jahre gedanklich vorbereitet war, entwickelte Wichern am Nachmittag des 22. September 1848 auf der Freien kirchlichen Versammlung in Wittenberg in einer Stegreifrede zu einer Vision. „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“, lautete der Spitzensatz, den die Zuhörer mit tosendem Beifall quittierten. „Es kommt mir vor“, schrieb Wichern an diesem Tag seiner Ehefrau, „als könnte ich hier den Beruf meines Lebens schließen“ (Briefe und Tagebuchblätter, Bd. 1, Hamburg 1901, 453). In der Tat, alles Weitere reichte nicht mehr an den Kairos des 22. September 1848 heran, nicht die Programmschrift „Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation. Verfaßt im Auftrage des Central-Ausschusses für die innere Mission durch J. H. Wichern“ von 1849, nicht die schnell einsetzende Bildung von Stadt-, Kreis-, Provinzial- und Landesvereinen der Inneren Mission und auch nicht der Versuch auf der Oktoberversammlung 1871 in Berlin, an den Geist von Wittenberg 1848 anzuknüpfen.
Wicherns Programm brachte einen erheblichen Organisationsschub der Diakonie, vermochte sich in der praktischen Durchführung aber nicht wesentlich über den sozialkaritativen Horizont der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erheben. Die Vision der allumfassenden Christianisierung der Gesellschaft wurde sozialkaritativ entschärft. Statt die Gesellschaft von Grund auf zu erneuern, blieb es bei dienender Liebe an deren Opfern. Wichern rückte in die oberen Ränge der Kirchen- und Staatshierarchie ein. Er war Vortragender Rat im preußischen Ministerium des Innern und Oberkonsistorialrat im Evangelischen Oberkirchenrat zu Berlin. Seit 1858 stand er an der Spitze des Central-Ausschusses für die Innere Mission.
Armen- und Krankenpflegevereine, Diakonissen- und Brüderanstalten waren, als Wichern starb, reichlich vorhanden. Doch gemessen an dem Ziel, flächendeckend christliche Assoziationen der Hilfsbedürftigen selbst zu veranlassen, also eine umfassende emanzipatorische Bewegung aller Bürger anzustoßen, konnte dieses Ergebnis nicht befriedigen. Die soziale Wiedergeburt fand nicht statt, weil, wie Wichern klagte, die Innere Mission nicht vom Standpunkte der volksumfassenden Geschichte des Reiches Gottes aus betrachtet werde.
Innerhalb der von Wichern prinzipiell beklagten Grenzen entfaltete sich die Diakonie am eindrucksvollsten in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld. Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910), Sohn eines westfälischen Adeligen und Ministers des Königreichs Preußen, schuf nach Übernahme der Leitung der in Bielefeld gegründeten Anstalt für Epileptiker und des Diakonissenmutterhauses seit 1872 in wenigen Jahrzehnten eine ganze „Stadt der Barmherzigkeit“. Arbeit am Reich Gottes war auch sein Motiv. Doch der Rahmen blieb diakonischkirchlich, mochte Bodelschwingh auch noch so weit in die Gesellschaft hineinwirken und für Bethel immer größere Arbeitsfelder erschließen: Fürsorge für Wanderarbeiter, Gründung einer Theologischen Schule im Jahr 1905, Äußere Mission, Pressewesen und vieles andere.