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7. Kapitel: Kirche im Deutschen Kaiserreich Deutschland unter preußisch-protestantischer Führung

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Der Preußisch-Österreichische Krieg von 1864 bis 1866 besiegelte das Ausscheiden der habsburgischen Monarchie aus der deutschen Staatenwelt. Preußen erweiterte sein Staatsgebiet um die neuen Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau, gebildet aus Kurhessen, Nassau und Frankfurt. In den nichtpreußischen Staaten sah man den Preußen-Sog nicht ohne Sorge. Richard Rothe aus Heidelberg schrieb nach der Schlacht von Königgrätz: „Mit Eurem Schwarz-Weiß wird eben von nun an ganz Deutschland, wenn auch im Süden nur sehr langsam, colorirt werden“ (Rogge – Ruhbach, Verselbständigung 176). Die Bildung des Norddeutschen Bundes 1866/67 bedeutete den entscheidenden Schritt zur Gründung des Deutschen Reiches. Dem Norddeutschen Bund gehörten 22 Mittel- und Kleinstaaten nördlich der Mainlinie mit 450.000 Quadratkilometern und rund 30 Millionen Einwohnern an. Leiter der Außenpolitik und Befehlshaber der Bundesarmee war Preußens König, Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes seit 1867 Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck (1815–1898). Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 schlossen sich die Staaten Süddeutschlands dem Norddeutschen Bund an. Im Dezember 1870 nahm er die Bezeichnung Deutsches Reich an. Am 18. Januar 1871 erfolgte in der Salle des Glaces, dem Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, die Proklamation des seit 1861 regierenden Königs von Preußen, Wilhelms I. (1797–1888), zum deutschen Kaiser.

Die politischen Ereignisse waren konfessionspolitisch von erheblicher Tragweite. Wenn die Religion auch im Kaiserreich ein Medium der gesellschaftlichen „Deutungskultur“ (Thomas Nipperdey) blieb, so war damit in erster Linie der Protestantismus gemeint. Die Steigerung des landesherrlichen Summepiskopats durch Wilhelm I. unterstrich diese Tatsache. Wie Wilhelm I. den Zusammenhang von Thron und Altar sah, hatte er bei seiner Krönung zum König von Preußen am 18. Oktober 1861 in Königsberg demonstriert. Sein Vater, Friedrich Wilhelm IV., hatte sich noch mit einer Huldigung begnügt. Hingegen lag bei der Krönung Wilhelms I. die Krone auf dem Altar. Von dort nahm er sie auf, um sie sich aufs Haupt zu setzen. In der protestantischen Kirchenpolitik hatte der sonst so mächtige Kanzler des Deutschen Reiches und Ministerpräsident Preußens, Bismarck, nicht viel zu sagen. Wilhelm I. betrachtete sie als seine eigene Domäne. Der von 1888 bis 1918 regierende Enkel, Wilhelm II. (1859–1941), glaubte sogar, in seiner Eigenschaft als summus episcopus das Predigtrecht zu besitzen. Zum Calvin-Jubiläum 1909 hielt er eine Ansprache im Berliner Dom. Er verfasste Briefe und Sendschreiben zu Fragen der Theologie. Um massiv in den Gang der Kirchenpolitik einzugreifen, war Wilhelm II. jedoch nicht kompetent genug. Doch nicht das war konfessionspolitisch entscheidend, sondern die Stärkung des Protestantismus durch den Thron.

Ein neues Verhältnis bildete sich zwischen Protestantismus und Nation. Bis zu den nationalen Einigungskriegen hatten die deutschen Protestanten mit ihren dynastisch-landeskirchlichen Bindungen das aus der Französischen Revolution erwachsene Prinzip der nation une et indivisible, der unteilbaren Nation, beargwöhnt. Doch seit den 1860er, erst recht seit den 1870er Jahren war die Nationalidee mächtig aufgebrandet. Sie steigerte sich in dem knappen halben Jahrhundert des Kaiserreichs bis zur Überidentifikation, zum Nationalprotestantismus. Der „oppositionelle Nationalismus“ der Zeit von 1848/49 wandelte sich nach 1871 zum „offiziellen Nationalismus“ (Wolfgang Altgeld). In diesem Transformationsprozess musste man sich über die besondere Affinität des Liberalprotestantismus zum Nationalen nicht sonderlich wundern. Die protestantischen Konservativen zogen dann schnell mit. Die deutsche Geschichte von Luther bis Bismarck und Wilhelm II. erschien jetzt als providenzielle Führung durch Gott: als Weg von der Reformation zum Deutschen Reich.

Mitunter musste die protestantische Loyalität zum Deutschen Kaiserreich harte Proben bestehen. Der neue Staat war nicht das „heilige evangelische Reich deutscher Nation“, wie Adolf Stoecker (1835–1909) in einem Privatbrief vom 27. Januar 1871 gemeint hatte. Das Reich war auf mitunter schockierende Art modern: rücksichtslos gegen die Tradition, wenn die Staatsräson sowie die Interessen der Wirtschafts- und Kulturpolitik es geboten.

Die Einführung der Zivilehe in Preußen am 9. März 1874 und am 6. Februar 1875 im Reich führte zur Absenkung der kirchlichen Trauziffern und der Täuflingsrate. Das Ziel der Zivilstandsgesetzgebung, die Maßregelung der katholischen Kirche, traf auch das protestantische Kirchenwesen.

Der durch die Reichsgründung beschleunigte Modernisierungsschub war vom Protestantismus mit seinen Ansprüchen auf die „Deutungskultur“ nicht leicht zu bewältigen. Die Wirtschaft wuchs, die Städte wuchsen, die Bevölkerung vermehrte sich stark, von 39 Millionen im Jahr 1866 auf 67,8 Millionen im Jahr 1914. Politische und kulturelle Vielfalt, neue Klassen und Schichten waren die Folge. Der Beitrag des Protestantismus zur „inneren Reichsgründung“, der Versuch, der im Kern substanzlosen Macht- und Einheitsideologie des Reiches inneren Halt zu geben, blieb ambivalent und fragwürdig. Er überzeugte oft nur im eigenen Gesinnungsmilieu, in einem Milieu, das zerklüfteter denn je war, aufgesplittert in Parteiungen, Bünde und Gruppen. Eine zusätzliche Sorge bildete die Omnipotenz des Staates. „Die Staatsidee“, schrieben die „Deutsch-Evangelischen Blätter“, die bis 1908 erschienen, in ihrer ersten Ausgabe vom 1. Juli 1876, „steht in unleugbarer Versuchung sich zu überspannen, für die große Bildungs- und Erziehungsaufgabe der Schule sich der kirchlichen Mithülfe zu entschlagen und unter allen im Staatsgebilde waltenden Lebensmächten der evangelischen Kirche das geringste Maaß von Freiheit zuzutheilen.“

Einen permanenten Spannungsherd innerhalb des Protestantismus bildete die Vormachtstellung der preußischen Unionskirche. Nichtpreußische und nichtunierte Protestanten sahen in Preußens Kirche ein ähnliches Sendungsbewusstsein wie beim Staat. Regelrechten Widerstand hatten in den Kirchen der neupreußischen Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau nach 1866 die Pläne ausgelöst, sie in die Preußische Landeskirche einzugliedern. Der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin wollte es so, der Kultusminister Heinrich von Mühler (1813–1874) ebenfalls und überdies der König. Die Kirchen der neupreußischen Provinzen verdankten es Bismarck und einigen seiner Ministerkollegen, dass sie in Bekenntnisstand und Organisation nicht von der Kirche Preußens aufgesogen wurden. Bismarcks Beweggründe waren politisch. Er konnte bei der staatlichen Integration der annektierten Gebiete keine kirchlichen Streitigkeiten gebrauchen. Einer allmählichen Angleichung ihrer Kirchenverfassungen an diejenigen der älteren preußischen Provinzen konnten sich die Kirchen der neuen Provinzen allerdings nicht entziehen.

(Alt-)Preußens kirchenpolitische Vormacht war ein janusköpfiges Geschenk der Reichsgründung. Einerseits war die preußische Landeskirche die treibende Kraft bei der wünschenswerten Überwindung des landeskirchlichen Partikularismus. Andererseits weckte ihre Dominanz ständig Misstrauen, vor allem in den lutherischen Landeskirchen. Der alte Traum von der Einung der deutschen Protestanten, 1848 in Wittenberg belebt, 1866 neu aufgenommen und 1871 nochmals aufgegriffen, hieß in zeitgenössischer Formulierung: Schaffung einer dem deutschen Nationalstaat gemäßen Deutschen Reichskirche. Johann Hinrich Wichern warnte davor, eine diesem großen Ziel dienende Zusammenkunft ausgerechnet nach Berlin, in das Zentrum der preußisch-deutschen Macht, einzuladen – vergebens. Jene „freie kirchliche Versammlung evangelischer Männer“, die bekannte Oktoberversammlung von 1871, fand eben doch in Berlin statt, in der Kaiserlichen Garnisonkirche. Beherrscht war sie von preußischen Politikern und Theologen. Moritz August von Bethmann Hollweg, von 1858 bis 1862 Kultusminister Preußens und von 1848 bis 1872 Präsident der Kirchentage, führte den Vorsitz. Hofprediger Rudolf Kögel (1829–1896) aus Berlin hielt die Liturgie, der kurmärkische Generalsuperintendent Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (1806–1873) die Predigt. Zusätzlich führte Kultusminister Heinrich von Mühler während der Versammlung „Hintergrundgespräche“ in seinem Haus. Unter den ca. 1.200 Teilnehmern sprachen sich nur 563 für die Gründung eines deutsch-evangelischen Kirchenbundes aus. Der Einigungsschwung war gehemmt durch eine reaktive Mechanik des Misstrauens: der unierten Preußen gegen die lutherischen Preußen und umgekehrt sowie der nichtpreußischen Lutheraner gegen Preußens Kirche überhaupt. Ein Jahr später, im Oktober 1872, besann sich das unierte Preußentum noch einmal auf die Institution des Kirchentags. In Halle stattfindend, vermochte der Kirchentag jedoch nur die Repräsentanten der Preußischen Union zu versammeln. Der Kirchentag als Dauereinrichtung war am Ende. Erst im September 1919 erfuhr er unter veränderten staatlichen und kirchlichen Verhältnissen im sächsischen Dresden seine Wiederbelebung. Offenbar war der Gedanke von 1870/71, dass die Reichsgründung unter Preußens Führung auch die Einigung des Protestantismus unter Führung von Preußens Kirche nach sich ziehen könne, nicht realistisch.

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