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2. Deutsche und polnische Nation nach dem Wiener Kongress

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Zentrale politische Themen in Deutschland nach dem Wiener Kongress waren einerseits die Forderungen nach der Einführung von Verfassungen und andererseits das aus dem Impuls der Befreiungskriege entstandene Selbstverständnis als deutsche Nation. Die Nationalbewegung rekrutierte sich aus dem dem emanzipierten Bürgertum entstammenden Liberalen und Studenten und manifestierte sich in zahlreichen Festen, wie dem Wartburgfest anlässlich des 300. Jahrestages der Reformation. Daneben bildeten sich zahlreiche Vereinigungen, die sich häufig in Form von halböffentlichen „Tafeln“ versammelten. Zur Hymne der sich nun gründenden Gesangvereine wurde das 1813 von Arndt gedichtete Lied »Was ist des Deutschen Vaterland«, das den potenziellen territorialen Konflikt zwischen deutscher und polnischer Nation jedoch noch nicht thematisierte. Der Spielraum dieser sich formierenden nationalen und liberalen Öffentlichkeit wurde allerdings durch die Karlsbader Beschlüsse vom September 1819 stark begrenzt, die als Reaktion auf den politisch motivierten Mord des Studenten Karl Ludwig Sand an dem Schriftsteller August von Kotzebue erlassen wurden.

Aus denjenigen Gebieten des Herzogtums Warschau, die 1815 Preußen zufielen, entstand das Großherzogtum Posen. Bei der Grenzziehung wurden allerdings einige Kreise mit überwiegend deutscher Bevölkerung der Provinz Westpreußen zugeschlagen. Das Großherzogtum hatte eine Fläche von ca. 29.000 km2, von den 790.000 Einwohnern waren im Jahr 1816 521.000 Katholiken, 218.000 Protestanten und 50.000 Juden.7 Die Grenzen zwischen den Konfessionen und den Sprachgruppen waren nicht deckungsgleich, auch wenn die Mehrheit der Polen katholisch und die meisten Deutschen protestantisch waren. Die jüdische Bevölkerung sprach vor allem Jiddisch, ging aber mit der Einführung der Schulpflicht für jüdische Kinder und der Einführung der Freizügigkeit für naturalisierte Juden 1833 zunehmend zum Deutschen über. Es gab aber auch eine katholisch-deutschsprachige Bevölkerung, die etwa fünf Prozent der Einwohner des Großherzogtums ausmachte ( S. 121). Als ab Mitte des 19. Jahrhunderts in den statistischen Erhebungen auch nach der Muttersprache gefragt wurde, gaben ca. 20 Prozent der Bevölkerung an, zweisprachig zu sein.8

Die Idee zur Einrichtung des Großherzogtums war bereits 1807 von dem späteren Statthalter Antoni Radziwiłł lanciert worden. In dem Besitznahmepatent durch Friedrich Wilhelm III. vom 19. Mai 1815 hieß es:

„Auch Ihr habt ein Vaterland. […] Ihr werdet Meiner Monarchie einverleibt, ohne Eure Nationalität verleugnen zu dürfen. […] Ihr werdet wie die übrigen Provinzen Meines Reichs eine provinzielle Verfassung erhalten. Eure Religion soll aufrecht erhalten […] werden. […] Eure Sprache soll neben der deutschen in allen öffentlichen Verhandlungen gebraucht werden, und jedem unter Euch soll nach Maßgabe seiner Fähigkeiten der Zutritt zu den öffentlichen Ämtern des Großherzogthums, so wie zu allen Ämtern, Ehren und Würden Meines Reiches offenstehen. Mein unter Euch geborener Statthalter wird bei Euch residiren. Er wird Mich mit Euren Wünschen und Bedürfnissen, und Euch mit den Absichten Meiner Regierung bekanntmachen.“9

Großpolen wurde so eine Sonderstellung innerhalb Preußens gewährt, die sich in der Ernennung eines polnischen Statthalters neben dem Amt des Oberpräsidenten der Provinz zeigte. Der Statthalter Fürst Antoni Radziwiłł stammte aus einem der reichsten und bekanntesten polnischen Adelsgeschlechter. Er hatte 1792 in Göttingen ein Studium begonnen und heiratete 1796 Luise Friederike von Preußen, eine Nichte Friedrichs II. Neben seinem Gut in Antonin besaß er auch ein Stadtpalais in Berlin, das 1871 zum Sitz der Reichskanzlei wurde. Das Amt des Statthalters war gewiss ein Rückschritt gegenüber Radziwiłłs früheren Projekten zur Restitution polnischer Staatlichkeit, dennoch sah er darin den Ausgangspunkt für eine Annäherung zwischen polnischer Gesellschaft und preußischem Staat. Allerdings war die Sonderstellung der Region von Anfang an eingeschränkt, denn neben dem Statthalter gab es die Position des Oberpräsidenten als Leiters der Provinzialverwaltung, insofern wurde das Großherzogtum zugleich auch als eine „gewöhnliche“ preußische Provinz betrachtet.

Zunächst war die polnische Sprache als Amts- und Unterrichtssprache zugelassen und öffentliche Äußerungen polnischer Nationalität wurden respektiert. Das zeigte sich auch in ersten Überlegungen preußischer Beamter, wie mit den polnischen Untertanen zu verfahren sei. So wollte der Landrat von Thein 1815 einen tiefen Gegensatz zwischen Deutschen und Polen im Großherzogtum sehen, formulierte aber die politische Handlungsanweisung:

„Selbst der [polnische] Edelmann lässt sich lenken und ist brav und thätig, aber er muss als Pohle behandelt werden. Der teutsche Hund und das pohlnische Schwein sind sich zu gehässig, als je in Gemeinschaft ihrem Herrn nüzlich zu werden. Man dulde ihre pohlnischen Sitten, ihre Sprache, ihre Abgaben und Gerichtshöfe […], und die Nation wird dann gewiss das Glück des preussischen Scepters nicht verkennen.“10

Zugleich kam es jedoch zu einer schrittweisen administrativen Integration Großpolens in den preußischen Staatsverband. So wurde der napoleonische Code civil 1817 durch das preußische Allgemeine Landrecht ersetzt und die von Wilhelm von Humboldt angeregten Reformen trugen auch im Großherzogtum zur Intensivierung des Unterrichtswesens, zur Einführung von Gymnasien und zur Verbreitung des Schulbesuchs in den Unterschichten bei. Hemmend wirkte sich hier jedoch der Umstand aus, dass jede Maßnahme der Verwaltung daraufhin geprüft werden musste, welche Konsequenzen sie für die staatliche Kontrolle über die polnische Bevölkerung hatte. So wurde die Städteordnung erst in der revidierten Form von 1831 in der Provinz eingeführt. 1824 wurde – wie in den übrigen preußischen Provinzen – ein Provinziallandtag eingerichtet, dieser trat jedoch im Großherzogtum (als letzter Provinz) erst 1827 zum ersten Mal zusammen. Er bestand aus 24 Mitgliedern der Ritterschaft, 16 Vertretern der Städte und acht Abgeordneten aus den Landgemeinden. Die Repräsentanten des Adels waren zum größten Teil Polen, während in den anderen beiden Gruppen kaum polnische Vertreter zu finden waren. Allerdings hatte die nationale Zuschreibung zunächst nur eine nachgeordnete Bedeutung.

Das auf dem Wiener Kongress errichtete Königreich Polen, für das sich später der Name „Kongresspolen“ einbürgerte, war als Ergebnis eines international vereinbarten Aktes entstanden, der nicht nur die Garantie nationaler Institutionen enthielt, sondern auch eine Verfassung vorsah. Deren vorläufige Prinzipien hatte Fürst Adam Jerzy Czartoryski skizziert und sie wurden von Alexander I. im Mai in Wien bestätigt. Mit seiner Proklamation in Warschau am 20. Juni besaß das Königreich alle zentralen Attribute eines selbstständigen Staates: ein eigenes Territorium, eigene staatliche Institutionen einschließlich Parlament und Militär und eine eigene Staatsbürgerschaft. Die am 24. Dezember feierlich verkündete Verfassung band den russischen Selbstherrscher in Polen an die Einhaltung der dort fixierten Bestimmungen. Allerdings orientierte sich die Konstitution in ihrer letzten Version weniger an der polnischen Maiverfassung von 1791, sondern stärker an der napoleonischen Verfassung des Herzogtums von 1807. Indem Alexander I. sie gleichsam oktroyierte, behielt er zudem die Möglichkeit, sie aus eigener Entscheidung zu ändern und durch organische Statuten zu ergänzen. Polen erhielt den Status einer konstitutionellen Monarchie in Personalunion mit dem Zarenreich, Autonomie in der Innenpolitik und umfangreiche Rechte hinsichtlich Zoll, Armee und Währung. Die Außenpolitik hingegen lag in der alleinigen Zuständigkeit des Königs, das heißt des Zaren. Die Verfassung garantierte grundlegende Bürgerrechte wie die Freiheit der Person, Glaubensfreiheit, Pressefreiheit sowie Zusicherung der polnischen Sprache für alle öffentlichen Aktivitäten und das Recht, ausschließlich Polen in die Ämter des Königreichs zu berufen. Der Sejm bestand – wie zur Zeit der Adelsrepublik – aus dem König, dem vom König ernannten Senat sowie der Abgeordnetenkammer, zu deren Wahl das Zensuswahlrecht über 100.000 adlige und nichtadlige Wahlbürger zuließ, was – etwa im Vergleich zu Frankreich – ein hoher Bevölkerungsanteil war. Allerdings verfügte der König und Zar über umfangreiche Befugnisse. Neben der Ernennung von Ministern, Senatoren und Bischöfen hatte er das ausschließliche Recht zu Gesetzesinitiativen und ein Vetorecht gegen Beschlüsse des Sejms. Das Gebiet des Königreichs Polens umfasste 128.700 km2 und hatte 3,3 Millionen Einwohner. Es gliederte sich 1816 in acht Woiwodschaften, die – nach der Niederschlagung des Aufstands von 1830/31 ( S. 37) – 1837 in Gouvernements nach russländischem Muster umbenannt wurden. Da der König zugleich der Zar war, wurde das Amt des Statthalters und Vizekönigs geschaffen. Zum ersten Statthalter wurde jedoch nicht Adam Jerzy Czartoryski, sondern der als zarentreu geltende General Józef Zajączek ernannt, der bereits dem Vierjährigen Sejm von 1788 bis 1792 angehört und dann unter Napoleon in Ägypten, Italien und Frankreich gekämpft hatte. Jenseits der östlichen Grenze des Königreichs Polen genossen bis 1831 auch die „weggenommenen“ polnischen Gebiete, also die Westgouvernements, die im Zuge der Teilungen Polens vom Zarenreich annektiert worden waren, relativ große Freiheiten. Insgesamt handelte es sich dabei um mehr als die Hälfte der Fläche der alten Adelsrepublik und eine ethnisch und konfessionell heterogene Bevölkerung von etwa sechs Millionen Menschen. Im ersten Jahrzehnt nach dem Wiener Kongress war Wilna ein bedeutendes Zentrum der polnischen Kultur und des polnischen Lebens im Zarenreich.

Die durch den Wiener Kongress geschaffene Freie Stadt Krakau bestand bis 1846 und bildete eine Republik, die außenpolitisch durch Russland, Preußen und Österreich vertreten wurde. Ihr Gebiet umfasste ca. 1.200 km2 und hatte 1815 um 90.000 überwiegend polnische und katholische Einwohner (bis 1843 stieg die Einwohnerzahl auf ca. 146.000). Amtssprache und Verwaltung waren polnisch. Mit ihrer Gründung erhielt die Freie Stadt Krakau zugleich eine Verfassung. Die Legislative bildete eine nach dem Zensuswahlrecht gewählte Abgeordnetenversammlung und die Exekutive der aus zwölf Mitgliedern bestehende Regierende Senat. Das Rechtssystem basierte auf dem Code Napoléon. Wirtschaftlich profitierte die Krakauer Republik von ihrem Status einer zollfreien Zone, der sie auch zum Zentrum des Schmuggels in Ostmitteleuropa werden ließ.11 Abgesehen davon, wurde Krakau, nicht zuletzt durch die Universität, zu einem Magneten für Polen aus anderen Teilungsgebieten und entwickelte sich zum symbolischen Zentrum der polnischen Nation nach 1815. Zu großen Ereignissen wurden die Überführungen der Leichname von Józef Poniatowski (1817) und Tadeusz Kościuszko (1818) in die Königsgruft der Kathedrale auf dem Wawel. In den Jahren 1820–1823 wurde der Kościuszko-Hügel (kopiec Kościuszki) als Erinnerungsort an die polnischen Freiheitskämpfe errichtet.

Der habsburgische Anteil Polens war auf dem Wiener Kongress weitgehend auf den Gebietsgewinn von 1772 zurückgeführt worden. 1846 wurde dann das Gebiet der Freien Stadt Krakau an Galizien angeschlossen, das nun insgesamt eine Fläche von 45.900 km2 umfasste. Es war damit der Fläche wie der Einwohnerzahl nach die größte Provinz der österreichischen Monarchie. Die ethnische und religiöse Bevölkerungsstruktur war ausgesprochen heterogen: 1815 bildeten Polen mit 47 Prozent, Ruthenen (Ukrainer) mit 45 und Juden mit 6 Prozent die größten Gruppen, daneben sind auch Rusinen (Bewohner der Karpatenregion), Deutsche, Armenier, Ungarn und Moldauer zu nennen. Die Polen wohnten überwiegend im westlichen Landesteil, die Ruthenen dagegen im östlichen. Das konfessionelle Mosaik hing eng mit der ethnischen Struktur zusammen. Die Polen waren überwiegend römisch-katholisch, die Ruthenen dagegen uniert, das heißt griechisch-katholisch.

Von allen drei Teilungsgebieten Polens war Galizien in vielerlei Hinsicht das am wenigsten entwickelte. Es war landwirtschaftlich geprägt und im Gegensatz zu Preußen – aber auch zu Russland – unternahm Österreich wenige Anstrengungen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung dieser Provinz. Auch die Bildung wurde vernachlässigt. Die 1815 wieder eröffnete Universität in Lemberg galt als „germanisiert“ und war vor allem auf die Beamten-„Produktion“ eingestellt. Die Elementarschulen wurden vernachlässigt, in den 1840er Jahren besuchten nur etwa 17 Prozent der Kinder die Schule.12 Anders als in Preußen und Russland entstanden in Galizien durch die Politik Kaiser Franz’ I. keine nationalen polnischen Institutionen. Als politische Repräsentation bestand die Ständeversammlung in Lemberg, die alle zwei Jahre zusammentrat. Die Verhandlungen wurden auf Polnisch geführt, aber in Kontakten mit Wien wurde auf Deutsch kommuniziert. Insbesondere der Adel hatte sich bereits nach den Teilungen relativ problemlos in der neuen politischen Wirklichkeit zurechtgefunden, was auch an dem „pluralistischen geistigen und politischen Klima der österreichischen Monarchie“ liegen mochte, das „in vielerlei Hinsicht der polyphonen Identität der alten polnisch-litauischen Adelsrepublik“13 entsprach.

Mit den Bestimmungen des Wiener Kongresses waren staatsrechtliche Strukturen entstanden, die in ihrem Kern bis 1918 unverändert blieben. Die Grenzen der drei Teilungsmächte trennten Gebiete, die die polnischen Eliten als das Territorium ihrer Nation betrachteten. Folglich strahlten die politischen Entwicklungen innerhalb der Teilungsmächte im 19. Jahrhundert auf alle polnischen Regionen aus. Das betraf nicht nur das politische Verständnis Polens, sondern hatte in den adligen begüterten Familien auch eine besitzrechtliche Dimension: Die Radziwiłłs, aber auch andere Magnatenfamilien, besaßen große in den nach 1795 preußisch, österreichisch oder russisch gewordenen Regionen und überschritten schon allein aus diesem Grund regelmäßig die Grenzen zwischen den Teilungsgebieten.

7 Angaben nach: KEMLEIN, Sophia: Die Posener Juden 1815–1848: Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft, Hamburg 1997, S. 58.

8 GRZEŚ, Bolesław u.a.: Niemcy w Poznańskiem wobec polityki germanizacyjnej 1815–1920, Poznań 1976, S. 18.

9 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung Nr. 61, 23.5.1815. Hier zit. nach LAUBERT, Manfred: Die preußische Polenpolitik von 1772–1914, Berlin 1920, S. 46.

10 Zit. nach LAUBERT, Manfred: Zwei Denkschriften von 1813 und 1814 über die Verwaltung der späteren Provinz Posen, in: Historische Monatsblätter für die Provinz Posen 9 (1908), S. 1–10, hier S. 6.

11 CHWALBA, Andrzej: Historia Polski, Bd. 3: 1795–1918, Kraków 2008, S. 253.

12 RÖSKAU-RYDEL, Isabel: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien. Bukowina, Moldau, Berlin 1999, S. 46.

13 PUCHALSKI, Lucjan: Österreich und Galizien, in: LAWATY, Andreas/Orłowski, Hubert (Hrsg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, München 22006, S. 172–182, hier S. 179.

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