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3. Restauration und Reformen
ОглавлениеDie Jahre zwischen 1815 und 1848 bildeten in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht eine Phase vielfach beschriebener, tief greifender Umbrüche. Gegenüber dem Streben nach liberalen Gesellschaftsstrukturen, demokratischer Partizipation und konstitutionellen Garantien nahmen sich die Restauration des Gleichgewichts der Großen Mächte und ihre Apotheose in der zunächst von den östlichen Großmächten ins Leben gerufenen Heiligen Allianz wie ein Anachronismus aus. Ein differenzierender Blick fördert jedoch Nuancen zutage, die das Bild einer alles dominierenden Repression zur Aufrechterhaltung der „legitimen Ordnung“ modifizieren. In den Jahren der napoleonischen Herrschaft hatten sich in Deutschland und Polen zahlreiche Reformansätze entwickelt, die auch nach 1815 nicht gänzlich von der Bildfläche verschwanden. So spielte das Herzogtum Warschau, obwohl es nicht von langer Dauer war, doch eine wichtige Rolle in der Transformation der polnischen Reformimpulse. Auch wenn die Maiverfassung von 1791 nicht wieder eingeführt wurde, blieb doch das Streben nach einer Verfassung erhalten und führte zur Verfassung von 1815 in Kongresspolen. Als Zivilrecht hatte der Code Napoléon auch über das Ende des Herzogtums hinaus im Königreich Polen und in Krakau Bestand. So schien es nach dem Wiener Kongress auch Spielräume für die Nutzung der den Polen zugesicherten Garantien zu geben, bevor das Pendel unter Schlagworten wie „Demagogenverfolgung“ und „geheime Vereinigungen“ zurückschwang.
Die Verfassung für das Königreich Polen hob Kongresspolen von allen anderen Teilen des Zarenreiches ab. In Finnland etwa hatte es Zar Alexander I. bei der vagen Ankündigung belassen, das Großherzogtum sei durch die Verbindung mit dem Zarenreich in den Rang einer Nation erhoben worden. Verglichen mit der Situation Finnlands, aber auch mit der Praxis des Herzogtums Warschau, erschienen die Einschränkungen, die die polnische Konstitution erkennen ließ, nicht besonders gravierend. So lag die Gesetzesinitiative beim Zaren, der auch ein Vetorecht gegen Sejmbeschlüsse hatte. Wenn der Sejm des Königsreichs auch erst 1818 eröffnet wurde, so geschah das immer noch einige Jahre früher als die Einführung der preußischen Provinziallandtage.
Andere Einschränkungen gaben allerdings aus Sicht der polnischen Eliten Anlass zur Kritik: Zum einen erregte die offizielle russische Bezeichnung des Königreichs als Zarstwo anstelle von Korolestwo Anstoß. Zum anderen wurden neben dem in der Verfassung genannten Amt des Statthalters weitere Positionen eingeführt, die von der Verfassung nicht vorgesehen waren. Die wichtigste war die des Oberbefehlshabers der zarischen Truppen in Polen; diese Position wurde dem Großfürsten Konstantin übertragen, dem Bruder Alexanders, der inoffiziell die Macht im Königreich ausübte. Er hatte 1820 die polnische Gräfin Joanna Grudzińska geheiratet und dann auf die Thronfolge in Sankt Petersburg verzichtet. Da ihm zugleich der Oberbefehl in den „westlichen Gouvernements“ – das heißt in den früher zur Adelsrepublik gehörenden Gebieten Litauens, Weißrusslands und der Ukraine – übertragen wurde, bestand die von den polnischen Eliten geforderte Einheit der ehemals polnisch-litauischen Gebiete nur in militärischer Hinsicht. Daneben agierte noch Nikolaj N. Nowosilzew als kaiserlicher Kommissar, der das Recht hatte, an den Sitzungen des Staatsrats teilzunehmen. Trotz seiner reformerischen Impulse – er hatte mit Czartoryski zu den engsten Beratern Alexanders gehört – wurde er, wie die polnische Historiografie hervorhebt, von den polnischen Eliten sehr negativ beurteilt, da er zugleich auf eine Auflösung des Königreichs hingearbeitet habe und oppositionelle Strömungen unterdrücken ließ.14 Allerdings kann man die Entwicklung des Königreichs Polen durchaus im Kontext einer Europäisierung des Zarenreichs sehen. Auf dieser Linie lag es, wenn Nowosilzew 1819 einen Verfassungsentwurf für das Russländische Reich auf der Basis der polnischen Verfassung von 1815 vorlegte. Allerdings zielte dieser Verfassungsplan eben nicht auf eine Wiederherstellung Polens, sondern beruhte auf einer Abgrenzung von den Interessen der polnischen Eliten. Das Projekt wurde 1820 modifiziert, aber nicht eingeführt, da namentlich konservative Kräfte in Russland darin trotz allem einen Schritt zur Wiederherstellung Polens in seinen alten Grenzen sahen und gewissermaßen eine Polonisierung Russlands befürchteten.15
Weitere Diskrepanzen zum Wortlaut der Verfassung ergaben sich aus der widersprüchlichen Politik Alexanders: So hatte er 1818 während des ersten Sejms die Angliederung der „weggenommenen Gebiete“ an das Königreich Polen in Aussicht gestellt. Diese Ankündigung wurde jedoch ebenso wenig umgesetzt, wie die bereits auf Napoleon zurückgehende Abtrennung des Gebiets um Białystok von Polen nicht rückgängig gemacht wurde. Nach dem Tod Zajączeks 1826 blieb das Amt des Statthalters bis zum Novemberaufstand vakant. Auch wurde der Sejm nicht, wie vorgesehen, alle zwei Jahre einberufen, und nachdem sich eine parlamentarische Opposition artikuliert hatte, ließ Alexander 1825 durch Verfassungsänderung die Öffentlichkeit aus den Parlamentsberatungen ganz ausschließen. Auch wenn die „weggenommenen Gebiete“ von der Reformpolitik im Königreich ausgenommen blieben, spielte dort die Universität Wilna – ähnlich wie die anderen Neu- oder Wiederbegründungen von Universitäten in den russländischen Randgebieten (in Dorpat, Helsinki und in Warschau) – eine wichtige Rolle für die Modernisierung der Gesellschaft. Als Kurator der Universität Wilna wirkte Adam Jerzy Czartoryski von 1803 bis 1824. Sie wurde – deutschen Universitäten nicht unähnlich – zu einem Zentrum nichtöffentlicher Assoziierungen. Wenn sich diese studentischen Geheimgesellschaften als patriotisch verstanden, unterschieden sie sich damit nicht prinzipiell von studentischen Gemeinschaften in anderen Teilen Europas. Sie gewannen jedoch an Bedeutung, nachdem im Königreich Polen die Formierung einer öffentlichen Opposition im Sejm 1820 erfolglos geblieben war. Nicht zuletzt auf diese studentischen Aktivitäten zielte das 1822 erlassene Verbot von Freimaurerlogen und Geheimgesellschaften im gesamten russländischen Imperium. Als 1823 in Wilna die „Philomaten“ ( S. 143), zu denen Adam Mickiewicz zählte, verhaftet wurden, trat Czartoryski, dessen Einfluss auf den Zaren schon zuvor deutlich geschwunden war, als Kurator der Universität zurück und wurde durch Nowosilzew ersetzt, der die studentischen Vereinigungen verfolgen ließ. Czartoryski orientierte sich von da ab nach Westeuropa, da er von der Verschärfung des Konflikts zwischen Polen und dem Zarenreich überzeugt war. Den Schlusspunkt der gescheiterten Versuche zur Umgestaltung des Zarenreichs bildete der Dekabristenaufstand 1825 bei der Inthronisation Nikolajs I.
Die Entwicklung in Preußen verlief in mancher Hinsicht parallel zur russländischen. Die Verfassungsversprechen, die Friedrich Wilhelm III. Kanzler von Hardenberg gegeben hatte, wurden mit den Karlsbader Beschlüssen hinfällig und die studentischen Aktivitäten an den Universitäten waren schon zuvor in den Blick des österreichischen Reichskanzlers Metternich geraten, der als Inbegriff der Reaktion nach 1815 galt. Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass auch die preußischen Zusagen für das Großherzogtum Posen nur partiell umgesetzt wurden. In seiner Rede bei der Huldigung der Stände am 3. August 1815 hatte der Statthalter Radziwiłł für eine Akzeptanz der preußischen Herrschaft geworben, die sich dadurch auszeichne, dass sie die Vermehrung des Gemeinwohls wie des privaten Wohlstands und die Wahrung von Recht und Moral anstrebe.16 Die polnische Gesellschaft solle sich daher mit der preußischen Herrschaft versöhnen. Allerdings hatte Radziwiłł keine Entscheidungskompetenzen, sondern nur beratende Funktion, er konnte allein Entscheidungen des Oberpräsidenten widersprechen. Dieses Amt hatte bis 1824 Joseph von Zerboni di Sposetti inne. Er stammte aus Breslau und war zuvor in der Verwaltung Südpreußens ein Vertrauter Radziwiłłs gewesen, sodass sich aus dieser Konstellation keine unmittelbaren nationalen Konflikte ergaben. Insgesamt jedoch ging Radziwiłłs Einfluss auf die Politik Berlins – obwohl er auch dem preußischen Staatsrat angehörte – Anfang der 1820er Jahre zurück. Abgesehen von Verwaltungsangelegenheiten, konzentrierte er sich auf die Vermittlung zwischen polnischer Gesellschaft und preußischer Verwaltung und förderte das polnische Schulwesen und das gesellschaftliche Leben in Posen. Radziwiłł machte sich zudem als Komponist einen Namen, er vertonte als erster Goethes »Faust«. Dass Radziwiłł die anfänglichen Erwartungen der polnischen Gesellschaft nicht erfüllen konnte, hing auch damit zusammen, dass in Verwaltung und Justizwesen zunehmend mehr deutsche Beamte eingestellt wurden und so Deutsch als Amtssprache an Bedeutung gewann. Nach dem Novemberaufstand in Kongresspolen wurde Radziwiłł Anfang 1831 vom König suspendiert. Die Position des Statthalters wurde nicht mehr neu besetzt und unter dem Oberpräsidenten Eduard Flottwell, der als Wegbereiter der preußischen Germanisierungspolitik gilt ( S. 61), wurden viele der Initiativen Radziwiłłs rückgängig gemacht.
Deutlich unterschieden von der Situation im Großherzogtum Posen war dagegen die Situation in (West-)Preußen, wo Theodor von Schön ab 1816 als Oberpräsident amtierte. Er stellte sich von Beginn an in die Tradition friderizianischer Polenpolitik im früheren Königlich-Polnischen Preußen und strebte „die vollständige soziale und kulturelle Assimilierung der nichtdeutschen Bevölkerung“17 an. Dieses Ziel verfolgte Schön zum einen in der Schulpolitik, für die er rückblickend als Maxime formulierte, „aus den ehemaligen Sklaven und Slaven, Menschen und Deutsche zu machen“.18 Zum anderen warfen ihm bereits zeitgenössische polnische Stimmen vor, dass er den Rückgang polnischen adligen Grundbesitzes in der Agrarkrise nach 1815 billigend in Kauf genommen habe. Hinzu kam schließlich auch seine Initiative zur Wiederherstellung der Marienburg als preußisch-deutsches Nationaldenkmal ( S. 178). Die erinnerungspolitische Exklusion des polnischen Adels und Klerus war dabei durchaus beabsichtigt. Schön dachte zwar ebenso wie die Reformer von 1807 in den Kategorien des preußischen Staates, doch hatten für ihn die polnischen Untertanen darin keinen eigenständigen Platz. Vor diesem Hintergrund blieben die verfassungsrechtlichen und politischen Spielräume der polnischen Eliten in Preußen und im Zarenreich von Beginn an begrenzt beziehungsweise schrumpften zunehmend. Damit stieg der Anreiz für konspirative Lösungsversuche der polnischen Frage. Zugleich gab die philhellenische Bewegung in Europa ab 1821 ein Muster der Begeisterung für den heldenhaften Befreiungskampf gegen die Despotie vor.
14 Vgl. etwa: KIENIEWICZ, Stefan: Historia Polski 1795–1918, Warszawa 112002, S. 75; differenzierter dagegen CHWALBA: Historia Polski, S. 206f., S. 260f.
15 ZERNACK, Klaus: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 317.
16 RADZIWIŁŁ, Antoni Henryk: Mowa Jaśnie Oświeconego Xięcia Jmci Radziwiłła Namiestnika Króla w Wielkiem Xięstwie Poznańskiem, miana przy złożeniu hołdu dnia 3go Sierpnia 1815 [Poznań 1866].
17 BÖHNING, Peter: Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen 1815–1871. Ein Beitrag zum Integrationsprozess der polnischen Nation, Marburg/Lahn 1973, S. 39.
18 SCHÖN, Theodor von: Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön, Halle a. d. S. 1875, Bd. 1, S. 103.