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Einführung 1. Der Preußische Osten als geteilter Raum

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1904 wurde dem Bauern Michał Drzymała aus Kaisertreu/Podgradowice im Kreis Wollstein in der preußischen Provinz Posen die Genehmigung für die Errichtung eines Hauses auf seiner zuvor erworbenen Parzelle verweigert. Die rechtliche Grundlage dafür war das preußische „Feuerstättengesetz“ von 1904, dessen Ziel es war, als Bestandteil der Ostmarkenpolitik zur Stärkung des Deutschtums die Neuansiedlung polnischer Bauern zu verhindern. Drzymała kaufte daraufhin einen „Zigeunerwagen“ und stellte ihn auf seiner Parzelle auf. Indem er ihn ständig versetzte, umging er das Verbot, einen dauerhaften Wohnsitz zu errichten. Durch diesen Trick wurde er in der polnischen Öffentlichkeit zum Symbol des Widerstands gegen die Germanisierungspolitik. Der Verein Straż (Wacht) organisierte Geldsammlungen, ein Unterstützungskomitee wurde gegründet und so konnte Drzymała dann 1908 einen neuen, größeren Wagen erwerben. Nachdem ihm die preußischen Behörden unter Verweis auf das Baurecht den ständigen Aufenthalt in dem Wagen und den Betrieb einer Feuerstelle untersagten, prozessierte Drzymała, erneut mit Unterstützung der Straż, verlor aber 1909 in letzter Instanz vor dem Oberverwaltungsgericht in Berlin. Drzymała musste mit seiner Familie in eine Lehmhütte ziehen, bevor er 1910 seine Parzelle gegen ein bebautes Grundstück in einem Nachbarort tauschen konnte. Der Wagen wurde 1909 in Posen ausgestellt und dann anlässlich der 500-Jahr-Feier des polnisch-litauischen Siegs bei Tannenberg/Grunwald gegen den Deutschen Orden vom polnischen Nationalmuseum in Krakau erworben und während der Feier in der Barbakane gleichsam als nationale Reliquie gezeigt. Der Fall Drzymała wurde auch im Deutschen Reichstag als Beleg für Repressionen gegen polnische Staatsbürger vorgebracht.1 „Drzymałas Wagen“, eine Symbolgeschichte des polnischen Widerstands gegen die preußische Germanisierungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg, erzählt zugleich von der Austragung eines Konflikts mit bürokratisch-rechtsstaatlichen Mitteln, die von der Mobilisierung einer engagierten Öffentlichkeit begleitet war. Der Wagen begann bald ein Eigenleben zu führen, das sich vom Leben seines Besitzers löste. Drzymała selbst geriet in Vergessenheit und wurde erst in den 1920er Jahren wiederentdeckt. Er erhielt eine Ehrenrente und einen neuen Hof. Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde das 1918 polnisch gewordene Podgradowice in Drzymałowo umbenannt.


Abb. 1. Mit diesem Zirkuswagen hielt der Bauer Michał Drzymała die preußischen Behörden zum Narren: Indem er ihn auf seinem Grundstück verschob, umging er die gegen die Polen gerichteten Bauvorschriften und wurde zum Helden der polnischen Öffentlichkeit. Sie sammelte Geld für einen neuen Wagen, mit dem Drzymała hier durch das großpolnische Städtchen Grätz (Grodzisk) fährt.

Die Region, in der sich die Vorgänge abspielten, ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass hier eine polnische Bevölkerung unter deutscher Herrschaft lebte und von dieser unterdrückt wurde. Vielmehr prägten die Interaktionen alle Beteiligten: Sie trugen ihre Konflikte mit den Mitteln und in den Spielräumen aus, die ihnen die Rechtsordnung zur Verfügung stellte, sie organisierten ihre gemeinsamen Interessen in der Öffentlichkeit durch Assoziationen und Medien und sie bildeten eine Konfliktgemeinschaft aus, die von zwei miteinander im Clinch verkeilten Nationalismen geprägt wurde. Beide Seiten hatten in ihren Aktionen und Argumenten jeweils den anderen genau im Blick. Dieser Raum deutsch-polnischer Verflechtungen lässt sich folglich als „geteilter“ Raum im doppelten Wortsinn beschreiben.

Auf der einen Seite standen sich – so die allgemeine Wahrnehmung – fremder Staat und nationale Gesellschaft gegenüber. Dieses Bild bedarf zwar einer genaueren Betrachtung, aber unzweifelhaft erhöhten sich die nationalen Spannungen, als der Nationalismus zu einem dominanten Element in der Politik der Teilungsmächte Preußen und Russland wurde, die zwischen 1772 und 1795 zusammen mit Österreich Polen unter sich aufgeteilt hatten. Dadurch standen sich zunehmend national verfestigte Gesellschaften gegenüber. Auf der anderen Seite prägten sich in den drei Teilungsgebieten auch „geteilte“ Räume in dem Sinn aus, dass sich innerhalb der jeweiligen politischen Systeme zahlreiche Formen von politischer Adaption, von alltäglichem Arrangieren und von Akkulturation entwickelten.

Dabei unterschieden sich die preußischen Regionen Polens im 19. Jahrhundert vom habsburgischen Galizien, wo sich in der zweiten Jahrhunderthälfte ein deutlich größerer Spielraum für eine polnische Selbstverwaltung und eine polnisch dominierte Gesellschaft entwickelte. Ebenso unterschied sich das preußische Teilungsgebiet Polens von den vom Zarenreich eingenommenen Gebieten, in denen sich die Konfrontationen zwischen Staatsmacht und polnischer Gesellschaft zweimal in großflächigen militärischen Auseinandersetzungen – im Novemberaufstand 1830/31 und im Januaraufstand 1863/64 – und dann auch in der Revolution von 1905 entluden.

Der „preußische Osten“ steht so für eine spezifische Phase deutsch-polnischer Beziehungen. Preußen war, wie es Rudolf von Thadden formuliert hat, mit der Einverleibung umfangreicher polnischer Gebiete in den Teilungen Polens in den „Sog der polnischen Geschichte“2 geraten. Seit der gescheiterten Revolution von 1848 überwogen in Preußen Versuche, sich diesem Sog und einer Lösung der polnischen Frage entgegenzustemmen. Schien diese antipolnische Politik zeitweilig erfolgreich zu sein, erfasste die polnische Sogwirkung seit Ende des 19. Jahrhunderts dann jedoch zunehmend auch die polnischsprachige Bevölkerung in Teilen Ostpreußens und Schlesiens. Das Bild lässt sich allerdings auch umgedreht betrachten, denn die polnische Bevölkerung in den preußischen Ostprovinzen kam ihrerseits in den Sog des preußischdeutschen Staates und der deutschen Gesellschaft, dessen Wirkung auch über das Ende preußisch-deutscher Herrschaft auf diesen Gebieten nach dem Ersten Weltkrieg anhielt.

1 Drzymałas Wagen ist ein polnischer Erinnerungsort, die Geschichte wurde mehrfach beschrieben, als wissenschaftliche Darstellung s. WAJDA, Kazimierz: Wóz Drzymały, Poznań 1962, weitere Details bei GRABOWSKI, Sabine: Deutscher und polnischer Nationalismus: der Deutsche Ostmarken-Verein und die polnische Straż 1894–1914, Marburg 1998, S. 292f.

2 THADDEN, Rudolf von: Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, München 1981, S. 26.

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