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4. Von der Völkerfreundschaft zum nationalen Antagonismus
ОглавлениеDie 1830er Jahre waren in Europa eine pulsierende und unruhige Periode. „Gerade das halbe Jahrzehnt“ von 1827 bis 1832 brachte – wie Theodor Fontane sich erinnerte –, „die Stagnation unterbrechend, des Interessanten eine ganze Fülle: die Befreiung Griechenlands, den russisch-türkischen Krieg, die Eroberung von Algier, die Julirevolution, die Losreißung Belgiens von Holland und die große polnische Insurrektion“.19 Der Novemberaufstand von 1830/31 wurde von Fontane zu Recht als ein wichtiges Glied in der Kette der damaligen revolutionären Ereignisse gesehen, die sich in Europa gegen die alte politische Ordnung und insbesondere die Beschlüsse des Wiener Kongresses richteten.
Anlass für den Novemberaufstand war das Gerücht, der Zar wolle polnische Truppen zum Einsatz gegen die Revolution in Frankreich und Belgien mobilisieren. Das führte zu Befürchtungen, nach deren Abmarsch könne das Königreich Polen von russischem Militär kontrolliert werden. In dieser Situation bildete sich eine Verschwörung von Offizieren und Studenten. Da die Polizei bereits auf der Spur der Verschwörung war, entschloss sich eine kleine Gruppe, in der sich der romantische Dichter Seweryn Goszczyński befand, am Abend des 29. November den Belvedere-Palast anzugreifen. Allerdings konnte der Statthalter, Großfürst Konstantin, aus Warschau entkommen. Die Bevölkerung Warschaus stürmte dann das Arsenal und übernahm die Kontrolle über den nördlichen Teil der Stadt. Daraufhin schlossen polnische Offiziere und Politiker sich dem Aufstand an, und zwar mit dem Ziel, die Unruhen unter ihre Kontrolle zu bekommen und die Ordnung wiederherzustellen. Am 1. Dezember wurde unter Führung von Maurycy Mochnacki die „Demokratische Gesellschaft“ gegründet, die einen radikal antirussischen Kurs vertrat und für revolutionäre Unruhen sorgte. Zwei Tage später wurde eine vorläufige Regierung mit Fürst Adam Jerzy Czartoryski als Vorsitzendem und General Józef Chłopicki als Diktator gebildet. Die Regierung versuchte, mit dem Zaren zu verhandeln, und forderte unter anderem die Anerkennung der politischen Unabhängigkeit des Königreichs Polen. Nikolaj I. verlangte jedoch die Kapitulation der Aufständischen. Daraufhin fasste der polnische Sejm am 25. Januar 1831 den folgenschweren Beschluss, den Zaren und die Dynastie der Romanows für abgesetzt zu erklären. Eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung dieser radikalen Entscheidung spielte neben der Demokratischen Gesellschaft der Historiker Joachim Lelewel als intellektueller Anführer des Aufstandes. Nach Chłopickis Rücktritt bildete sich am 30. Januar 1831 eine fünfköpfige polnische Nationalregierung unter Führung von Czartoryski. Preußen hatte bereits im Dezember die Grenzen für polnische Soldaten sowie für Waffenlieferungen geschlossen, erlaubte aber gleichzeitig den russischen Truppen den Übertritt auf sein Territorium zur Reorganisation.
In dem sich anschließenden Krieg zwischen polnischen und zarischen Verbänden übernahm Michał Gedeon Radziwiłł, der Bruder des Posener Statthalters, das polnische Oberkommando. Er befehligte ca. 85.000 Mann, während die russische Armee unter dem aus Niederschlesien stammenden Feldmarschall Iwan Diebitsch aus ca. 120.000 Soldaten bestand. Eine zusätzliche Bedrohung bildete die Choleraepidemie, die zu jener Zeit, aus Asien kommend, über die russischen und polnischen Gebiete nach Westeuropa vordrang und unter beiden Konfliktparteien zahlreiche Opfer forderte. Da sowohl Diebitsch als auch Großfürst Konstantin – ebenso wie wenig später der preußische Generalfeldmarschall August Neidhardt von Gneisenau und der Generalstabschef Carl von Clausewitz – an der Cholera starben, wurde die Seuche als „Feldmarschallskrankheit“ bezeichnet. Den zarischen Oberbefehl übernahm nun der Marschall Iwan Paskewitsch. Nachdem er im September 1831 Warschau eingenommen hatte, kapitulierten die verbliebenen polnischen Truppen und traten nach Preußen über. Im preußischen Generalstab waren die Ereignisse in Polen genau beobachtet worden. Man befürchtete nicht nur das Eindringen revolutionärer Ideen, sondern es machte sich auch die Angst vor der Seuche breit. Schuld an der Epidemie, so hieß es, seien unter anderem nach Preußen einreisende Juden, aber auch der Trunksucht und der „äußerst liderliche[n] Lebensart“ der polnischen Bevölkerung wurde ursächliche Wirkung zugeschrieben.20 An den preußischen Grenzübergängen wurden spezielle Kontumaz-Anstalten errichtet, in denen die aus Choleragebieten kommenden Personen einer Quarantäne unterzogen wurden. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen durchbrach die „asiatische Hydra“ den preußischen Militärkordon und breitete sich nach Berlin und weiter nach Westen aus.
Nach der Niederschlagung des Novemberaufstands begannen im Königreich Polen harte Repressionen. Zar Nikolaj hob die Verfassung von 1815 auf und löste den Sejm, den Senat und die polnische Armee auf. Die 1815 eingeführte territoriale Gliederung in Woiwodschaften wurde abgeschafft und 1837 durch Gouvernements nach russländischem Modell ersetzt. Das Schul- und Gerichtswesen wurde dem russischen System angepasst und die Warschauer Universität sowie die 1800 gegründete Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften geschlossen. Auch das Münzsystem und ebenso das Maßsystem wurden nun von Russland auf Polen übertragen. Marschall Paskewitsch wurde vom Zaren zum Fürsten von Warschau und zum Statthalter von Polen ernannt. An die Stelle der Verfassung trat das im Februar 1832 verabschiedete Organische Statut, durch das das Königreich Polen alle Formen von Selbstständigkeit verlor. Der Zar behielt zwar den Titel des Königs von Polen, der nun jedoch faktisch keine Bedeutung mehr hatte. Zudem wurde das Organische Statut durch die Verhängung des Belagerungszustands bereits 1833 wieder außer Kraft gesetzt.
Die historische Bewertung des Novemberaufstands hat zu lang anhaltenden Kontroversen geführt. Die einen sahen in ihm den Ausdruck nationaler Würde, nicht zuletzt auch ein romantisches Abenteuer. Die anderen beurteilten ihn negativ wegen seiner verhängnisvollen Auswirkungen auf Kongresspolen und dessen Bevölkerung. Der Erfolg des Aufstandes lag letztendlich vor allem in seiner symbolischen Wirkung, denn militärisch wie politisch mündete er in eine Niederlage. Dennoch wurde der Novemberaufstand in Polen als Höhepunkt der polnischen Romantik erinnert. Zu dieser historischkulturellen Glorifizierung trug nicht zuletzt der Dichter Adam Mickiewicz bei, der dem Aufstand im dritten Teil seines Dramas »Dziady« (»Die Ahnenfeier«) ein Denkmal setzte. Hier zeigt sich eine wichtige psychologische Funktion des Novemberaufstands für die polnische Gesellschaft: Er hinterließ den Eindruck von Kraft und Lebendigkeit der Nation, er hatte den Beweis erbracht, dass sie trotz der politischen (Nieder-)Lage fortbestehen werde, und stärkte so das polnische Selbstwertgefühl.21 Polen rückte so erneut von der Peripherie ins Zentrum europäischer Aufmerksamkeit und stilisierte sich, wie Mickiewicz es in seinen 1832 in Paris veröffentlichten »Büchern des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft« formulierte, zum „Christus der Völker“, der stellvertretend für die Freiheit aller gestorben sei. Das war keineswegs nur eine polnische Selbstwahrnehmung, denn der Novemberaufstand löste eine bemerkenswerte mediale Wirkung in Europa aus. „Von der gesammten liberalen Welt Europas“ wurde er, wie der Sympathien für die polnische Sache unverdächtige Historiker Heinrich von Treitschke schrieb, „kaum minder freudig begrüßt als die Julirevolution selber“.22
Die Nachrichten über den Novemberaufstand lösten in Deutschland eine Welle von Anteilnahme aus. Sie manifestierte sich in Presseberichten und Flugblättern, Aufrufen zur Unterstützung, Solidaritätsveranstaltungen und der Gründung von Hilfsvereinen, die Leinen sammelten, „Scharpie“ als Verbandmaterial für die Verwundeten zupften und in das Königreich Polen schickten. Diese später als „Polenschwärmerei“ denunzierten Ereignisse kamen freilich weder aus heiterem Himmel noch waren sie unpolitisch oder wirklichkeitsfremd. Wenn namentlich die preußischen Behörden verhindern wollten, dass sich Freiwillige dem Aufstand anschließen, dann deshalb, weil es nicht nur um die Freiheit der Polen in Kongresspolen ging, sondern um die Infragestellung der Wiener Ordnung. Das hatte der Journalist und Schriftsteller Richard Otto Spazier, der bereits 1832 eine viel gelesene Geschichte des Novemberaufstands publizierte, scharfsinnig beobachtet. Er konstatierte, dass „die Leiden, welche die Polen unter dem Großfürsten Constantin erlitten haben, […] rein accidentell“ gewesen seien, denn der zentrale Punkt sei die Wiederherstellung Polens „nach dem status quo vor 1772“ gewesen.23 Zugleich hatten sich mit der philhellenischen Begeisterung für den Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanische Herrschaft bereits Muster ausgebildet, denen die Empathie für die polnischen Helden und Opfer der Kämpfe folgen konnte. Hinzu kam, dass eine Anteilnahme für den polnischen Kampf namentlich gegen Russland schon nach dem Kościuszko-Aufstand begonnen hatte. Karl von Holteis viel gespieltes Stück »Der alte Feldherr« war bereits 1825 uraufgeführt worden. Mit der Gründung erster Polenhilfsvereine in Süddeutschland im Frühjahr 1831 erhielt dieses Interesse am Schicksal Polens eine Akzentuierung, die unmittelbar mit dem Kampf für Presse- und Versammlungsfreiheit in den deutschen Staaten zusammenhing.
Mit der Kapitulation der polnischen Verbände in Warschau Anfang September 1831 traten ca. 28.000 Offiziere und Soldaten auf preußisches und ca. 20.000 auf habsburgisches Gebiet über und legten dort die Waffen nieder.24Von diesen gingen insgesamt etwa 10.000 Personen, überwiegend Offiziere, ins Exil – vor allem nach Frankreich. Die wichtigsten Durchzugsrouten nach Frankreich führten ab Herbst 1831 aus Ost- und Westpreußen über Frankfurt (Oder), Leipzig, Frankfurt (Main) und Mannheim ins französische Elsass. Aus Galizien führten die Routen über Breslau und Dresden oder durch Böhmen über Regensburg und Augsburg nach Westen.25 Der Durchzug durch Preußen war dabei streng reglementiert und vollzog sich in Gruppen von ca. 100 Personen auf vorgegebenen Routen und mit vorgeschriebenen (Transit-)Stationen. Das Durchqueren der preußischen Provinzen Posen und Westfalen war untersagt, dasselbe Verbot betraf Berlin sowie einige weitere Städte. Der Durchzug durch Preußen dauerte bis Juni 1832; bis Frühjahr 1834 hatten die meisten polnischen Flüchtlinge dann die deutschen Staaten verlassen.
Abb. 2. Am 27. Mai 1832 zogen tausende Liberale aus dem deutschen Südwesten gemeinsam mit Polen – die kurz zuvor ihren Freiheitskampf gegen die russische Teilungsmacht verloren hatten – zum Hambacher Schloss in der Pfalz. Polen war auf dem „Nationalfest der Deutschen“ ein wichtiges Thema. Der kurz darauf entstandene Stich Erhard Joseph Brenzingers zeigt den Zug hinauf zum Schloss. Die polnische Fahne, die auf der Burg wehte, wurde erst anderthalb Jahrhunderte später in der DDR in einem „Remake“ des Bildes von Hans Mocznay prominent in den Vordergrund versetzt.
Zu ihrer Unterstützung formierten sich außerhalb Preußens zahlreiche „Polenvereine“, die von eher lockeren Zusammenschlüssen, spontan entstandenen Hilfskomitees bis hin zu Assoziationen mit schriftlich fixierten Statuten reichten und – damals jenseits von Wohltätigkeitsvereinen noch unüblich – auch Frauen integrierten. Schwerpunkte waren Sachsen – wo sich General Józef Bem und Adam Mickiewicz 1832 einige Zeit aufhielten – und Südwestdeutschland, insbesondere die bayrische Pfalz und Baden. Sowohl dem Umfang als auch der Organisationsform nach handelte es sich bei diesen Vereinen um ein Novum in Deutschland. Die Polenvereine, so Dieter Langewiesche, „dürften das dichteste Organisationsnetz geknüpft haben, das bis dahin die deutschen Staaten je überzogen hatte“.26 Oft kam es auch zu spontanen Volksaufläufen bei der Ankunft der Polen.
Politischer Höhepunkt der Polenbegeisterung war das Fest auf der Hambacher Burgruine am 27. Mai 1832, das die Reihe frühliberaler politischer Feste in Deutschland eröffnete. Vorausgegangen war die Gründung des „Deutschen Vaterlandsvereins zur Unterstützung der Freien Presse“ durch die Publizisten Philipp Jacob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth. Der Festaufruf formulierte als Ziele den „Kampf für Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt, für Erstrebung gesetzlicher Freiheit und deutscher Nationalwürde“. Mit 20.000 bis 30.000 Teilnehmern reichte das Fest weit über eine regionale Veranstaltung hinaus und verstand sich als „Nationalfest der Deutschen“. Auf dem Schlossberg wurde vor der Ruine neben einer Fahne mit der Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“ auch eine polnische Fahne gehisst, die dort bis zum 1. Juni wehte. Auf den zeitgenössischen Darstellungen des Zuges zum Fest auf das Schloss ist im Vordergrund nur die schwarz-rot-goldene Fahne zu sehen, weshalb 1977 der Maler Hans Mocznay eine „verbesserte“ Darstellung in der DDR anfertigte, die auch die polnische Fahne im Vordergrund zeigte. Tatsächlich spielten die polnischen Teilnehmer eine wichtige Rolle in der Dramaturgie des Festes. Eine von Joachim Lelewel unterzeichnete Grußbotschaft des Polnischen Nationalkomitees aus dem französischen Exil erinnerte die „deutschen Brüder“ daran, dass das „große Prinzip der Volks-Souveränität, […] als die erste Bedingung des Fortbestehens der Volksfreiheit“, bereits in der Maiverfassung 1791 verkündet worden sei. „Die Erringung dieses Prinzips und unser Vorhaben, die Wohlthaten der bürgerlichen Emanzipation allen Volksklassen zuzugestehen, ist und soll unser größtes Bemühen seyn, beide seyen die erste Bedingung der Unabhängigkeit, nach welcher wir streben.“
Zu den polnischen Teilnehmern des Fests zählten Jan Czyński, der sich als Pole jüdischen Glaubens bezeichnete, und als Redner nennt Wirths Dokumentation Aleksander Łaski, Franciszek Grzymała und Bazyl Zatwarnicki, die bei der feierlichen Abnahme der polnischen Fahne noch einmal die „wahre Freiheit, auf die Volkshoheit gestützt“, „die brüderliche Freundschaft aller nach Freiheit ringenden Nationen“ und „das große vereinigte Deutschland“ beschworen. Anschließend bedankten sie sich mit einer Adresse, in der sie schrieben: „Dieser feierliche Akt kann in uns nur die Ueberzeugung befestigen, daß die Deutschen in unserer Sache stets die Sache der Freiheit Deutschlands, der Freiheit Europa’s erblicken.“ Diese Position teilte auch Wirth in seiner Rede auf dem Fest. Während, so Wirth, aus Frankreich Unterstützung nur gegen eine Abtretung des linken Rheinufers zu erhalten sei, sei die deutsche Freiheit auf das engste mit der Spaniens, Italiens, Ungarns und Polens verbunden. „Bei jeder Bewegung eines Volkes, welche die Erringung der Freiheit und einer vernünftigen Staatsverfassung zum Ziele hat, sind die Könige von Preußen und Oesterreich durch Gleichheit der Zwecke, Gesinnungen und Interessen an Rußland geknüpft, und so entsteht jener furchtbare Bund, der die Freiheit der Völker bisher immer noch zu tödten vermochte. Die Hauptmacht dieses finstern Bundes besteht immer aus deutschen Kräften, da Rußland ohne die Allianz mit Preußen und Oesterreich ohnmächtig wäre und durch innere Stürme in Zerrüttung fallen würde.“27
Die politischen Forderungen dieses Festes wurden in den deutschen Staaten rasch unterdrückt, die Organisatoren des Festes wurden bald verhaftet und der Deutsche Bund verschärfte die Pressezensur, gegen die sich der politische Protest gerichtet hatte. Politisch verblasste die Polenbegeisterung in einer Phase erneuter Repressionen. Auch die Polenvereine, von denen sich einige die politischen Ziele des Hambacher Festes zu eigen gemacht hatten, wurden nun aufgelöst, zum Teil mit dem Hinweis, dass der eigentliche Zweck nach dem Abzug der polnischen Emigranten nicht mehr bestehe.
Jenseits der direkten Hilfeleistung und der politischen Forderungen nach einer Wiederherstellung Polens blieb das kulturell-politische Phänomen der Polenbegeisterung bestehen. Die zentrale Parole „Für eure und unsere Freiheit“, die der polnische Aufstand ursprünglich an die russischen Soldaten gerichtet hatte,28 wurde zum Kennzeichen deutscher Polenfreundschaft. Sie äußerte sich in einer Vielzahl von Publikationen, Zeitungsartikeln, Karikaturen, Gemälden und Bühnenstücken und nicht zuletzt in den zahllosen „Polenliedern“. Richard Wagner komponierte 1836, bevor er nach Riga ging, die Ouvertüre »Polonia«, die möglicherweise 1837 in Königsberg uraufgeführt wurde und in der er die patriotischen Lieder »Mazurek Dąbrowskiego« und »Witaj, majowa jutrzenko« (»Der Polen Mai«) zitierte.
Ikonografisches Symbol der deutschen Solidarität mit Polen ist Dietrich Montens 1832 entstandenes Gemälde »Finis Poloniae 1831« ( Umschlagabbildung),29 das vielfach kopiert und nachgeahmt wurde. Es zeigt eine imaginierte Szene mit (vermutlich) Józef Poniatowski auf einem Schimmel vor einer Grenzsäule, die die doppeldeutige Aufschrift „Finis Poloniae“ trägt. Das Bild ist jedoch nicht nur als Klage über den Untergang Polens verstanden worden, sondern auch als Prophezeiung künftiger Freiheit der Nationen. Selbstverständlich fehlte es auch nicht an kritischen Stimmen, die in der „Polenbegeisterung“ den gefährlichen Keim des Aufruhrs sahen. Eine besondere Position wiederum nahm Heinrich Heine ein, der mit dem ihm eigenen ironischen Blick den doppelten Boden des Phänomens erkannte. Im Jahr 1840 schrieb er: „Ja, mehr als alle obrigkeitliche Plackereyen und demagogischen Schriften hat der Durchzug der Polen den deutschen Michel revoluzionirt, und es war ein großer Fehler der respektiven deutschen Regierungen, daß sie jenen Durchzug in der bekannten Weise gestatteten. Der größere Fehler freylich bestand darin, daß sie die Polen nicht längere Zeit in Deutschland verweilen ließen; denn diese Ritter der Freyheit hätten bey verlängertem Auffenthalt jene bedenkliche, höchstbedrohliche Sympathie, die sie den Deutschen einflößten, selber wieder zerstört. Aber sie zogen rasch durchs Land, hatten keine Zeit, durch Dichtung und Wahrheit, einer den anderen zu diskreditiren, und sie hinterließen die staatsgefährlichste Aufregung. Ja, wir Deutschen waren nahe daran eine Revoluzion zu machen, und zwar nicht aus Zorn und Noth, wie andere Völker, sondern aus Mitleid, aus Sentimentalität, aus Rührung, für unsre armen Gastfreunde, die Polen.“30
Aber auch jenseits von Heines Ironie gab es in der deutschen Öffentlichkeit eine lebhafte Diskussion über die politische Reichweite des Aufstands in Kongresspolen. Während Heinrich Laube in seinem Polen-Buch von 1833 den Aufstand aus dem Widerstand gegen die zarische Despotie begründete,31 verorteten andere, wie der schon erwähnte Spazier, den Ursprung des Problems bereits in den Teilungen Polens. Seitdem die deutschnationale Interpretation, es sei die Polenbegeisterung Ausdruck einer „schwachsinnigen Sentimentalität“ ( S. 52) und nur ein temporäres Phänomen gewesen, in der Geschichtsforschung ihre Gültigkeit verloren hat, ist vor allem diskutiert worden, ob es sich um „echte“ Begeisterung für Polen oder um ein funktionales Phänomen gehandelt habe, das mit den Solidaritätsbekundungen nur eigene nationale Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und einer konstitutionellen Verankerung von Grundrechten innerhalb Deutschlands verfolgte. Hier haben intensive Forschungen in den letzten Jahrzehnten deutlich herausgearbeitet, dass es im Vormärz ein wirkungsmächtiges und dezidiert politisches Verständnis von der Gleichrangigkeit der Nationen und ihrem Kampf für Freiheit gab. Es speiste sich aus der Kritik am System der Großen Mächte und aus dem gemeinsamen Interesse am Kampf gegen die Heilige Allianz und für demokratische Staaten. Diese Überzeugung war ein zentrales Element des deutschen Frühliberalismus.
Das „Revolutionszeitalter“ (Berthold Georg Niebuhr) endete nicht mit der Julirevolution und dem Novemberaufstand, sondern gewann im Gegenteil in den Zeiträumen des Vormärz und des Völkerfrühlings weiter an Dynamik. Diese Begriffe sind nicht deckungsgleich, sie spiegeln nationale Perspektiven wider: Der deutsche Begriff „Vormärz“ bezeichnet die Vorgeschichte der Revolution von 1848, während sich der „Völkerfrühling“ im Polnischen auf die Zeit von dem Aufstand in Krakau und dem Aufstandsversuch in Posen 1846 bis zum Ende der Revolution 1849 bezieht. Der Frankfurter Wachensturm 1833, an dem Jan Paweł Lelewel beteiligt war (der Bruder des Historikers Joachim), zeigte, obschon rasch niedergeschlagen, einmal mehr die fortdauernde Attraktivität konspirativer Aktionen. Das revolutionäre Klima wurde jedoch nicht allein durch solche politischen Aktionen geprägt, sondern ergab sich aus dem Zusammentreffen mehrerer revolutionärer und krisenhafter Entwicklungen: Die Agrar- und Gewerbekrise betraf weite Teile der ländlichen und städtischen Bevölkerung und führte zu sozialen Unruhen. Zudem gab es eine breite politische Mobilisierung, die nicht nur die Hauptstädte erfasste und die vor allem die politische Legitimität der Staatsführungen stärker infrage stellte als die Julirevolution. Auch die internationale Dimension und Dynamik der Ereignisse reichte 1848 deutlich weiter, als sich die Revolution innerhalb von vier Wochen – von Paris ausgehend – über große Teile Mittel- und Ostmitteleuropas ausbreitete. Das russische Teilungsgebiet Polens wurde damals, von einem Aufstandsversuch in Litauen abgesehen, von den revolutionären Stimmungen nicht erfasst.
Die Grundlinien der deutsch-polnischen Zusammenhänge im Vormärz und während des Völkerfrühlings lassen sich im Wirken Karol Libelts erkennen: Er stammte aus einer polnischen Handwerkerfamilie in Posen, hatte dort das Maria-Magdalenen-Gymnasium absolviert und mit einem Stipendium des preußischen Staates an der Berliner Universität studiert und 1830 bei Hegel promoviert. Da er als Freiwilliger am Novemberaufstand teilgenommen hatte, wurde er zu neun Monaten Festungshaft verurteilt, die er 1833 in Magdeburg verbüßte. Er heiratete die aus einer einflussreichen polnischen Familie stammende Maria Szuman und arbeitete zeitweise als preußischer Gymnasiallehrer. In dem von Ludwik Mierosławski angeführten Aufstandsversuch 1846 leitete er die Posener Zentrale. Nach der Aufdeckung der Pläne wurde er im Moabiter „Polenprozess“ Ende 1847 zu zwanzig Jahren Festungshaft verurteilt, wenig später jedoch – zusammen mit den anderen Verurteilten – während der Märzrevolution in Berlin befreit. Er gehörte dann dem Polnischen Nationalkomitee in Posen sowie der Preußischen Nationalversammlung an und nahm an der Reorganisationskommission des Generals Karl Wilhelm von Willisen teil, die das Großherzogtum Posen nach nationalen Grenzen teilen sollte. Libelt war ebenso Deputierter in der Frankfurter Paulskirche und Leiter der polnisch-ruthenischen Sektion des Slawenkongresses in Prag 1848, auf dem er zusammen mit František Palacký das Manifest an die Völker Europas verfasste. Nach dem Ende der Revolution begründete er im preußischen Landtag den „Polnischen Zirkel“ (Koło Polskie), wie sich die polnischen Fraktionen in Berlin nannten ( S. 165).
Polnische konspirative Aktivitäten formierten sich im Großherzogtum Posen, nachdem Friedrich Wilhelm IV. 1840 die wegen des Novemberaufstands inhaftierten Polen amnestiert hatte. An deren Spitze stellte sich die Polnische Demokratische Gesellschaft (Towarzystwo Demokratyczne Polskie), die 1832 in Paris, dem Exil für zahlreiche europäische Revolutionäre, gegründet worden war. Die Gesellschaft plante einen Aufstand, der gleichzeitig in allen drei Teilungsgebieten ausbrechen sollte. Die im Februar 1846 von dem Gutsbesitzer Henryk Poniński der preußischen Polizei verratenen Posener Planungen sahen eine Erhebung in eben diesen Dimensionen vor. An der Spitze sollte Ludwik Mierosławski stehen, der als Teilnehmer des Novemberaufstands ins Pariser Exil gegangen war und, an der Spitze der Polnischen Demokratischen Gesellschaft stehend, die dort mehrheitlich vertretene Überzeugung verfocht, dass der Weg zur Wiederherstellung Polens über einen Aufstand führen müsse. Nachdem Mierosławski und Libelt von der preußischen Polizei verhaftet worden waren, kam es zu einem Aufstandsversuch in Westpreußen. Unter der Führung von Florian Ceynowa, einem Medizinstudenten, der später zum Kopf der kaschubischen Bewegung wurde, versuchten polnische Freiwillige die Garnison in Preußisch Stargard anzugreifen, scheiterten aber wegen mangelnder Unterstützung durch die Bevölkerung. In Krakau vermochte sich eine polnische Nationalregierung zu konstituieren, die in einem Manifest das polnische Volk zum Aufstand aufrief. Sie konnte sich allerdings nur kurz behaupten, da es ihr nicht gelang, die bäuerliche Bevölkerung Galiziens auf ihre Seite zu ziehen. Als Folge der Niederschlagung des Aufstands wurde Krakau im November 1846 – trotz internationalen Protests – von Österreich annektiert.
Der „Polenprozess“ gegen die verhafteten Verschwörer im Zellengefängnis Lehrter Straße in Moabit von August bis Dezember 1847 erregte schon durch die hohe Zahl von 254 Angeklagten öffentliches Interesse in Europa und führte erneut zu einer deutschen Solidaritätswelle, die sich dieses Mal auch in Preußen artikulierte. Acht der Angeklagten, unter ihnen Mierosławski und Ceynowa, wurden zum Tode verurteilt, über einhundert weitere zu teils langjährigen Gefängnisstrafen. Mierosławski verstand es, den Prozess als Bühne zu nutzen, und hielt zwei Reden, eine auf Polnisch, eine auf Französisch, die nicht zu seiner Verteidigung dienten, sondern vielmehr den weiteren Kampf für die polnische Sache entwarfen. Darin formulierte er als Perspektive auch, dass sich ein Aufstand aus strategischen Überlegungen nicht gegen Preußen richten sollte.32 Unterstützung für die Verurteilten mit Forderungen nach Amnestie kam auch von Mitgliedern des Preußischen Vereinigten Landtags 1847.
Nach den Kämpfen auf den Barrikaden in Berlin am 18. März 1848, bei denen auch ein polnischer Kaufmann aus Posen ums Leben kam, wurden die polnischen Häftlinge am 20. März begnadigt und in einem Umzug vom Moabiter Gefängnis zum Stadtschloss geführt, wo Friedrich Wilhelm IV. sie durch Schwenken seiner Feldmütze begrüßte. Anschließend hielten Mierosławski und Libelt Reden vor der Universität. Mierosławski beschwor dort – ganz auf der Linie der vormärzlichen Solidarität der deutschen und polnischen Nationalbewegung – den gemeinsamen Kampf für die Freiheit, denn „nur freie Menschen, nur freie Völker können sich achten“. Und emphatisch forderte er: „O nehmt uns auf, ihr Völker des Westens, in Euren Bund!“33 In der Dankadresse der befreiten Polen an die Berliner hieß es, „daß zur Sicherstellung eines freien Deutschlands ein unabhängiges Polen als Vormauer gegen den Drang der Asiaten errichtet werden muß“.34
Friedrich Wilhelms Umritt in der schwarz-rot-goldenen Schärpe und seine Ankündigung „Preußen geht fortan in Deutschland auf“ mochten zunächst als Zugeständnis auch im Sinn der polnischen Sache anmuten, das Szenario eines Krieges gegen das Zarenreich aber, den der Außenminister Heinrich von Arnim im Fall einer Wiederherstellung Polens kalkuliert hatte, ließ ihn deutlich zurückhaltender werden. Mierosławski seinerseits gründete ein polnisches Revolutionskomitee in Berlin, das noch einmal die Idee von 1846 – einen Aufstand in verschiedenen Teilen Preußens und Österreichs – umzusetzen versuchte. Hier zeichnete sich bereits die Bruchstelle ab, an der die Solidarität zwischen deutscher und polnischer Nationalbewegung im weiteren Verlauf der Revolution ein Ende fand.
Das Streben nach demokratischen Verfassungen 1848 vollzog sich auf zwei Ebenen: in Preußen und im Deutschen Bund. Bevor sich die Preußische Nationalversammlung im Mai 1848 konstituierte, war es allerdings schon zum Konflikt um Posen gekommen. Dort wurde die revolutionäre Stimmung vor allem von der polnischen Bevölkerung getragen. Inspirierend wirkten hier nicht zuletzt die „Moabiter“, die der gemeinsame Gefängnisaufenthalt zusammengeschweißt hatte. Etwa 50 von ihnen waren nach der Freilassung im Dezember 1847 nach Posen zurückgekehrt, unter ihnen auch der Buchhändler Walenty Stefański, dessen Plebejerbund 1846 ebenfalls enttarnt worden war. Allerdings riefen die Nachrichten aus Paris Ende Februar noch keine unmittelbaren Forderungen nach einem Kampf für die Freiheit hervor, vielmehr wurde zunächst eine Unterschriftensammlung für eine Adresse an den preußischen König zur Befreiung Polens organisiert. Tatsächlich begann die Revolution in der Provinz Posen erst, als Nachrichten von den Kämpfen in Berlin eintrafen.
Stefański stand an der Spitze des Polnischen Nationalkomitees, das sich am 20. März formierte. Es setzte sich aus zunächst zehn Mitgliedern zusammen, die dem Großgrundbesitz, dem städtischen gemäßigten und radikalen Bildungsbürgertum sowie dem Klerus entstammten. An seiner Spitze standen neben Stefański der Rechtsanwalt Jakob Krauthofer und der Schriftsteller Ryszard Berwiński. Dieses Nationalkomitee schickte unter der Leitung Leon Przyłuskis, des Erzbischofs von Posen-Gnesen, eine Delegation nach Berlin. Lautete die ursprüngliche Forderung des Komitees: „wir als Polen, die wir eine eigene Geschichte, ein völlig anderes und eigenständiges Element des nationalen Lebens haben, wollen und können uns nicht in das Deutsche Reich einverleiben“,35 so forderte die Delegation anstelle der Unabhängigkeit des Großherzogtums letztlich nur noch dessen „nationale Reorganisation“, das heißt eine Autonomie. Diese Forderung wurde von Friedrich Wilhelm IV. am 24. März akzeptiert, allerdings ohne Festlegung weiterer Details. Damit widersetzte er sich den Plänen einer Selbstständigkeit Posens, zugleich ging er einer Auseinandersetzung mit Russland aus dem Weg.
Anfängliche Unterstützung für die Forderungen des polnischen Komitees gab es in der deutschen und jüdischen Bevölkerung, ebenso von dem deutsch dominierten Posener Stadtrat. Höhepunkt der deutsch-polnischen Verbrüderung war eine Kundgebung am 22. März in Posen, bei der auch jüdische Vertreter auf Deutsch und Polnisch ihre Unterstützung für das Polnische Nationalkomitee bekräftigten.36 Allerdings lehnte es das Nationalkomitee ab, auch Deutsche als Vertreter aufzunehmen, da man die Wiederherstellung Polens als zentrales Ziel sah. Darauf gründete sich ein Deutsches National-Komitee, das nach anfänglicher Kooperation mit dem polnischen Komitee dann von national-deutschen Mitgliedern geprägt wurde und sich gegen die Reorganisation aussprach.
Das Polnische Nationalkomitee begann schließlich mit der Rekrutierung einer Nationalgarde, mit der Mierosławski einen Angriff auf Russland unternehmen wollte. Um die Bauern als Soldaten zu gewinnen, kündigte das Nationalkomitee eine Eigentumsregulierung an. Dagegen gab es jedoch Widerstand beim König und dem preußischen Militär, das eine Entwaffnung der polnischen Verbände forderte. In dieser Konstellation verfolgte der König ein Doppelspiel, es kam zu widersprüchlichen Entscheidungen: Einerseits verhängte der Posener Stadtkommandant Generalleutnant Peter von Colomb den Belagerungszustand über Posen, um die polnischen Verbände aufzulösen, andererseits verkündete General Willisen, der am 29. März als Kommissar für die Reorganisation eingesetzt worden war, die Einführung einer polnischen Verwaltung und stellte auch die Bildung eines polnischen Nationalheeres in Aussicht. Seiner Kommission gehörten unter anderen Libelt, Stefański und der Oberbürgermeister Naumann an.
Der Widerstand der deutschsprachigen Bevölkerung und nicht zuletzt der Beamten in Teilen des Großherzogtums führte de facto zu einer nationalen Aufteilung der Provinz. Bereits am 27. März forderte ein Gesuch aus Bromberg die separate Aufnahme der Stadt in den Deutschen Bund.37 Als die preußische Armee unter Colomb – gedeckt durch eine Kabinettsordre – die Arbeit der Reorganisationskommission torpedierte und versuchte, die polnischen Verbände zu entwaffnen, kam es zu militärischen Auseinandersetzungen. Nach anfänglichen Erfolgen mussten die Truppen Mierosławskis Anfang Mai kapitulieren, nachdem sich zuvor schon das Polnische Nationalkomitee aufgelöst hatte. Zudem bestimmte Willisens Nachfolger, General Ernst von Pfuel, eine Demarkationslinie zwischen einem deutschen und polnischen Teil der Provinz, die sich jedoch nicht an den – letztlich nicht territorial trennscharf abzugrenzenden – sprachlichen Verhältnissen orientierte, sondern auch Posen dem deutschen Teil zuschlug und auf der polnischen Seite letztlich nur noch ein Herzogtum Gnesen übrigließ. Der deutsche Teil sollte dann in den Deutschen Bund aufgenommen werden, was den Hintergrund der Polendebatte in der Paulskirche bildete.
Angesichts dieser Entwicklung stand die Teilnahme an den Wahlen zur preußischen und zur deutschen Nationalversammlung nicht nur unter dem Eindruck des Konfliktes, sondern sie stellte – aus polnischer Sicht – bereits die schlechtere Lösung dar. Das Konzept der „legalen Revolution“38 war an seine Grenzen gestoßen.
In die Berliner Nationalversammlung, in der Demokraten und Linksliberale in der Mehrheit waren, wurden von 30 Abgeordneten aus dem Großherzogtum 16 Polen gewählt, unter ihnen Karol Libelt und Hipolit Cegielski, der 1846 seine Anstellung als Lehrer verloren hatte und seitdem erfolgreich als Unternehmer tätig war. Zusammen mit den polnischen Abgeordneten hielt die linksdemokratische Mehrheit an der Idee fest, die nationale Sonderstellung des Großherzogtums fortzuschreiben. Dies brachte sie im Oktober auch in Konflikt mit der Politik der preußischen Regierung und der Frankfurter Nationalversammlung.
Bei der Konstituierung der Frankfurter Nationalversammlung stellte die Frage nach den Grenzen des Geltungsbereichs ein zentrales Problem dar, denn zum Territorium des Deutschen Bundes gehörten weder Schleswig, das den Kristallisationskern des deutschen revolutionären Nationalismus bildete, noch die preußischen Provinzen Preußen (das heißt Ostpreußen und Westpreußen) und Posen. Dagegen war Böhmen Teil des Deutschen Bundes, dort galt die Aufmerksamkeit jedoch ebenso den Ereignissen in Wien. Während sich das Vorparlament in Frankfurt und der Fünfzigerausschuss für die Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund einsetzten und damit einer deutschnationalen Politik Vorschub leisteten, gab es Anfang April durchaus noch allgemeine Unterstützung für die polnischen Forderungen nach Selbstständigkeit. Beide Gremien bekräftigten die „heilige Pflicht des deutschen Volkes“ zur Wiederherstellung eines unabhängigen Polen.39
Allerdings zeigten sich schon bald zwei Konfliktherde: Zum einen ging es um die von Friedrich Wilhelm IV. in Aussicht gestellte Erweiterung des Deutschen Bundes auf die Provinzen Preußen und Posen, der auf dem Vereinigten Landtag die Posener Vertreter für das Großherzogtum widersprachen. Zum anderen hatte der böhmische Historiker František Palacký in seinem Absagebrief die Frage formuliert, ob die Paulskirche der richtige Ort für die Repräsentation der tschechischen Nation sei. Auf dieser Linie lag, dass keine polnischen, sondern nur drei deutsche Vertreter aus der Provinz Posen am Vorparlament teilgenommen hatten. Während das Vorparlament die Frage der Einbeziehung Posens noch offengelassen hatte, deutete sich dann die Möglichkeit an, dass die Forderung nach einer Integration der deutschsprachigen Gebiete auch jenseits konservativer Stimmen Unterstützung fand.
So folgte der Bundestag am 22. April der von deutschen Kreisen in der Provinz geforderten und dann auch von Friedrich Wilhelm IV. akzeptierten Teilung der Provinz und integrierte die von der Reorganisation ausgenommenen Gebiete, in denen die Wahl zur Nationalversammlung stattfinden sollte. Diese Entscheidung kollidierte folglich mit den polnischen Interessen. Insofern war es naheliegend, dass es bei den Wahlen zur Nationalversammlung zu einem weitgehenden polnischen Boykott kam. Nur ein polnischer Abgeordneter, der katholische Geistliche Jan Janiszewski aus Samter, der zugleich Vorsteher des geistlichen Seminars in Posen war, wurde entsandt. Als dieser aus Protest gegen die Polenpolitik der Paulskirche sein Mandat niederlegte, rückte im Herbst Karol Libelt nach und im Frühjahr 1849 dann Jan Krzyżanowski (Johann Krzyzanowsky). Unterstützt wurde Janiszewski von Mitgliedern und Bevollmächtigten des Nationalkomitees, unter ihnen waren neben Libelt auch zwei Vertreter aus Krakau sowie Ignacy Łyskowski, der die polnische Bevölkerung Westpreußens vertrat. Er hatte bereits am Vorparlament teilgenommen und sprach sich zu Beginn der Nationalversammlung noch einmal gegen die Eingliederung Westpreußens in den Deutschen Bund aus.
Die Frage nach der Anerkennung der Demarkation im Großherzogtum als Grenze des Deutschen Bundes verband sich mit dem Problem, ob die dort gewählten Abgeordneten zur Nationalversammlung zuzulassen seien. Die Entscheidung darüber wurde an den Völkerrechtsausschuss unter Leitung des Breslauer Historikers Gustav Adolf Stenzel übertragen. Diese Frage bildete den Anlass für die bekannte „Polendebatte“ in der Paulskirche vom 24. bis 27. Juli, die den zentralen Wendepunkt deutsch-polnischer Beziehungen im 19. Jahrhundert markierte. Ihren Anfang nahm die Debatte mit einer Stellungnahme Stenzels, die sich ausschließlich an den Interessen der deutschen Bevölkerung der Provinz Posen orientierte. Die größte Wirkung entfaltete der Auftritt des ursprünglich liberal gesinnten Abgeordneten Wilhelm Jordan, der allerdings zuvor schon hatte deutlich werden lassen, dass er „Deutschland über alles“ stellen wollte. In seiner wortgewaltigen Rede, die „auf die öffentliche Meinung in ganz Deutschland“ zielte, verteidigte er die Einbeziehung Posens in den Deutschen Bund nicht allein mit der Staatsräson Preußens, sondern beschwor den „gesunden Volksegoismus“ der Deutschen gegen die „schwachsinnige Sentimentalität“ für Polen. Wer sich dafür ausspreche, dass deutsche Bewohner Posens unter polnische Herrschaft kommen sollten, sei ein „unbewußte[r] Volksverräter“. Zudem argumentierte Jordan hegelianisch und betrachtete „die deutschen Eroberungen in Polen“ als „eine Naturnothwendigkeit“, denn ein Volk habe durch seine „bloße Existenz“ noch kein Recht „auf politische Selbständigkeit“.
Den entgegengesetzten Standpunkt in der Debatte vertraten insbesondere Arnold Ruge und Jan Janiszewski. Ruge argumentierte: „Was die Despoten nicht vermocht haben, dazu soll die deutsche Nation ihnen nicht helfen, die deutsche Nation soll die Schmach nicht auf sich laden, daß sie die Theilung Polens vollzieht.“ Janiszewski hob hervor, dass so „das freie Deutschland […] im Namen der Freiheit die Freiheit an den Polen vernichte“.40 Nach der Debatte verließ Janiszewski die Paulskirche, ebenso reisten die Vertreter des polnischen Nationalkomitees unter Protest aus Frankfurt ab.
Ergebnis der Polendebatte war nicht nur die Anerkennung der Demarkationslinie im Großherzogtum Posen, sondern auch die Zurückweisung der polenfreundlichen Erklärung des Vorparlaments. Damit hatte sich ein fundamentaler Wandel nicht nur im Diskurs über die deutsche Nation, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit vollzogen, der beispielsweise auch von Ernst Moritz Arndt unterstützt wurde. Weder die Debatten über die Zuerkennung von Minderheitenrechten an die polnische Bevölkerung, die mit den Aktivitäten Łyskowskis ihren Anfang genommen hatten, noch der Protest Libelts gegen die Behandlung der Nationalitätenfrage in Posen oder die Abrechnung des jüdisch-polnischen Autors Julian Klaczko mit den „deutschen Hegemonen“, in der er das Schlagwort des „deutschen Drangs nach Osten“ lancierte, vermochten den hier zutage tretenden nationalen Antagonismus aufzuhalten.
Als alternatives Forum für die polnische Nationalbewegung bot sich im Frühjahr 1848 auch der Prager Slawenkongress an. Ganz auf der Linie von Palackýs Position wurde dort in der ersten Junihälfte 1848 über eine Zusammenarbeit der kleinen slawischen Nationen im Rahmen der Habsburgermonarchie diskutiert. Karol Libelt nahm an dem Kongress teil und war an der Abfassung des Manifests an die Völker Europas beteiligt, das ganz herderianisch die Freiheitsliebe und die Unterdrückung der friedlichen slawischen Nationen herausstellte: Der „lang geduckte Slave […] fordert mit lauter und entschiedener Stimme sein altes Erbe wieder: die Freiheit“, hieß es dort. Zudem forderte der Kongress ein Ende der „planmäßigen Entnationalisierung“ der in Preußen und Sachsen lebenden Slawen.41
Nicht nur aus polnischer Sicht währte der Völkerfrühling nicht lange. Die vormärzliche Solidarität der deutschen und der polnischen Nationalbewegung war in Posen bereits im April zerbrochen und spätestens die „Polendebatte“ in der Paulskirche im Juli machte den Bruch unübersehbar. Ein Erfolg des Slawenkongresses wurde durch die Niederschlagung des Prager Pfingstaufstandes durch General Alfred von Windisch-Graetz verhindert, der zuvor bereits Krakau beschossen hatte und Ende Oktober mit der Einnahme Wiens den Sieg der Gegenrevolution einleitete. Die demokratischen Verteidiger Wiens wurden angeführt von dem polnischen General Józef Bem, der 1831/32 den Durchzug der polnischen Offiziere durch Deutschland in die Emigration nach Frankreich organisiert hatte. In Preußen hatte Friedrich Wilhelm IV. im Dezember die Nationalversammlung aufgelöst und die oktroyierte Verfassung erlassen.
In der letzten Phase der Revolution, der „Reichsverfassungskampagne“ ab Anfang Mai 1849, kam es noch einmal zu deutsch-polnischen Verbindungen. Die Linke der Paulskirche rief zu einem Zusammengehen deutscher, französischer und polnischer Demokraten auf, an diesen Plänen waren unter anderen Libelt als Vertreter für „Preußen und Posen“ und Karl Marx für „die Rheinlande und Westfalen“ beteiligt.42 In Dresden kam es Anfang Mai 1849 zu einem Aufstand, der mit einem zeitgleichen Aufstand in Prag hätte einhergehen sollen; dessen Planungen waren allerdings zuvor entdeckt worden. Daraufhin formierte sich in Dresden eine revolutionäre provisorische Regierung, in deren Umfeld nicht nur Michail Bakunin, sondern auch Wiktor Heltman und weitere Mitglieder der Polnischen Demokratischen Gesellschaft tätig waren. In den Kämpfen von Mai bis Juli 1849 in Süddeutschland übernahm Mierosławski, der zwischenzeitlich auf Sizilien für die italienische Einigung gekämpft hatte, das Kommando über das badische Revolutionsheer, legte es aber – angesichts der Aussichtslosigkeit der Verteidigung – bereits vor dem Fall Rastatts wieder nieder. Die Truppen der Pfalz führte Franciszek Sznajde (Schneider), der 1848 aufseiten der revolutionären Kräfte in Krakau gekämpft hatte. An den Gefechten in Süddeutschland nahm auch eine aus polnischen Emigranten gebildete Polnische Legion teil. Nach der Niederlage konnten sich einige Revolutionäre, unter ihnen Mierosławski, in die Schweiz absetzen.
Damit war der Völkerfrühling an sein Ende gekommen. Polenfeindliche Äußerungen begannen nun in der deutschen Öffentlichkeit zu überwiegen und das negative Bild wurde, wie bereits bei Wilhelm Jordan zu sehen, nicht allein von gegenwartsbezogenen Argumenten geprägt, sondern es wurde vielmehr zurückprojiziert bis ins Mittelalter. Dagegen richteten sich wiederum polnische Stellungnahmen, die ihrerseits die nationale Abgrenzung betonten. Zwischen die Mühlräder dieser deutsch-polnischen Polarisierung geriet schließlich die jüdische Bevölkerung in den polnischen Gebieten, der in der polnischen Öffentlichkeit die Unterstützung der deutschen Sache vorgeworfen wurde.
Mit dem Scheitern der Revolution von 1848 und der preußischen Unionspolitik 1850 wurden auch die Entscheidungen zur Demarkation und Integration Posens in den Deutschen Bund rückgängig gemacht. Zugleich wurden aber Forderungen nach einer Wiedereinführung der Sonderstellung des Großherzogtums abgelehnt. In der Ära der Reaktion in Deutschland wurde so der deutsch-polnische nationale Konflikt des Jahres 1848 abgekühlt und auf die Konfliktlinie zwischen polnischsprachigen Preußen und repressiver Staatsmacht zurückgeführt. Freilich deutete sich eine Ausweitung in die Nachbarregionen Posens an: Zum einen war es die Sprachenfrage im Schulunterricht, die auch in den Provinzen Preußen und Schlesien an Bedeutung gewann. Hinzu kam, namentlich in Westpreußen und in Oberschlesien, eine Nationalisierung der konfessionellen Verhältnisse.
Nach der Niederschlagung der Revolution in Deutschland und in der Habsburgermonarchie stellten sich den polnischen Eliten innerhalb der Teilungsgebiete letztlich zwei Optionen: eine legalistische mit der Nutzung zivilgesellschaftlicher und politischer Räume sowie parlamentarischer Strukturen und eine konspirative, die auf weitere bewaffnete Aktionen setzte. Das Beschreiten legaler Wege hatte sich in Posen bereits mit der Gründung des „Basars“ durch Karol Marcinkowski ( S. 126) und der Propagierung der „organischen Arbeit“ abgezeichnet. Nach der schmerzhaften Erfahrung der politisch-militärischen Niederlagen wollte diese an die Stelle militärischer Aufstände eine legalistische Politik kleiner Schritte setzen, was in der polnischen Gesellschaft jedoch nicht unumstritten war. Angesichts des Scheiterns des Polnischen Nationalkomitees hatte der Philosoph und Gutsbesitzer August Cieszkowski bereits im Mai 1848 in Breslau die Idee einer Polnischen Nationalen Liga (Liga Narodowa Polska) lanciert, die einen Dachverband polnischer Vereine in Preußen und Österreich bilden und die politischen Aktivitäten der polnischen Bevölkerung bündeln sollte. Der preußische Vorstand der Liga rekrutierte sich aus den polnischen Abgeordneten in der preußischen Nationalversammlung. Die Polnische Liga hatte innerhalb kurzer Zeit ca. 40.000 Mitglieder im Großherzogtum Posen, aber auch in Ost- und Westpreußen und in Schlesien. Ein neues Betätigungsfeld war der Wahlkampf für den neuen Preußischen Landtag. Im Frühjahr 1849 initiierte die Liga einen Zusammenschluss der polnischen Abgeordneten, der sich nun als „Polenklub“ bzw. „Polnische Fraktion“ (Koło Polskie, S. 165) etablierte. Im Zuge der erneuten Einschränkung der Vereinsfreiheit in Preußen wurde die Hauptdirektion der Liga im Frühjahr 1850 aufgelöst. Daneben blieb die alternative Option konspirativer Tätigkeit – nicht zuletzt für die „Sturmvögel der Revolution“ – immer noch attraktiv. So versuchte Mierosławski, 1860 aufseiten Giuseppe Garibaldis eine internationale Legion zu gründen, und unterstützte die Aufstandsvorbereitungen in Kongresspolen. Dort stellte sich das Dilemma von legalem versus konspirativem Engagement für die polnische Nation am deutlichsten, als sich 1855, nach dem Krimkrieg und dem Regierungsantritt Alexanders II., neue politische Spielräume für die Reaktivierung der Verfassung von 1815 boten. Obwohl der Zar sich gegen eine Wiederherstellung der Autonomie Kongresspolens aussprach, kam es dennoch im Zuge der Bauernbefreiung im Zarenreich zu einer neuen Reformpolitik unter dem konservativen Adligen Aleksander Wielopolski. Dieser hatte 1861 auf einer Sitzung der Landwirtschaftlichen Gesellschaft (Towarzystwo Rolnicze), die gewissermaßen zum Ersatz für den aufgelösten Sejm geworden war, ein Projekt für die Rückkehr zur Verfassung von 1815 vorgestellt und war zum Wortführer der Reformkräfte geworden. Über den Umfang der Reformen sowie die Einbeziehung der „weggenommenen Gebiete“ gab es jedoch heftige Konflikte zwischen den loyalistischen Kreisen um Wielopolski, den konservativen „Weißen“ und den demokratischen „Roten“, deren Zentrum die 1857 in Warschau gegründete Medizinische Akademie war. Im Frühjahr 1862 wurde Wielopolski von dem neuen Statthalter, Alexanders Bruder Konstantin, als Leiter der Zivilregierung eingesetzt. Die Kompetenzen, die ihm eingeräumt wurden, reichten deutlich weiter als die seines Vorgängers. In dieser Funktion erließ Wielopolski Edikte zur Aufhebung der Beschränkungen für Juden sowie zu einer Bildungsreform. Zudem wurden bis Anfang 1863 einige der Maßnahmen zur Angleichung an die russländische Verwaltung rückgängig gemacht, ohne dass es allerdings zur ursprünglich erstrebten Rückkehr zu konstitutionellen Rechten in Polen kam. Diese Reformtätigkeit ist jedoch nicht von dem Hintergrund zunehmender aufständischer Aktivitäten unter den „Roten“ zu trennen. Ab 1862 agierte ein nationales Zentralkomitee, das einen erneuten Aufstand vorbereitete. Um diesen zu verhindern, ordnete Wielopolski Anfang 1863 eine gezielte Einberufung von der Konspiration verdächtigten Polen zum russischen Militär an. Diese Maßnahme löste dann den Januaraufstand aus, der sich über ein Jahr hinzog. Ein Zentrum des Aufstands war Masowien, nahe der Grenze zu Preußen. Die erhoffte breite Mobilisierung der Bauern blieb jedoch aus, auch wenn es in einigen Regionen zu länger andauernden Partisanenkämpfen kam.
Unter den Polen in den preußischen Gebieten fanden die Aufstandsplanungen nur wenig Unterstützung. Karol Libelt und Aleksander Guttry etwa, der ebenfalls 1846 verhaftet worden war, sprachen sich jetzt für eine legalistische Politik aus. Nach dem Beginn des Januaraufstands und dem Bekanntwerden der „Konvention Alvensleben“ vom Februar 1863, die es russischem und preußischem Militär erlaubte, zur Verfolgung polnischer Aufständischer die preußisch-russische Grenze zu überschreiten, formierte sich allerdings Unterstützung von verschiedenen Seiten. Der großpolnische Adel organisierte ein „Komitee der nationalen Solidarität“ in Posen, das von dem Adligen Jan Działyński – der wie sein Vater Tytus Mitglied im preußischen Abgeordnetenhaus war – geleitet wurde. Ende April 1863 wurde es allerdings entdeckt, Działyński und Guttry, der als Kommissar der Vorläufigen Regierung agierte, entgingen dank ihrer Immunität einer sofortigen Verhaftung und konnten sich absetzen. Der preußische Staat reagierte auf die Aufdeckung des Komitees in Posen mit einem erneuten umfangreichen Hochverratsprozess, der mit 148 Angeklagten ähnliche Dimensionen wie der „Polenprozess“ von 1847 hatte. Das Gericht verhängte elf Todesurteile in Abwesenheit, unter anderen über Działyński, die jedoch später abgemildert wurden. 1869 konnte Działyński auf sein Schloss in Kórnik zurückkehren. Unterstützung durch Freiwillige und in Form umfangreicher Waffenlieferungen an die Aufständischen über die preußisch-russische Grenze kam zudem aus Oberschlesien sowie aus Ost- und Westpreußen.
Der Januaraufstand hatte für Preußen noch eine weitere Dimension, denn der wenige Monate zuvor zum preußischen Ministerpräsidenten ernannte Otto von Bismarck nutzte ihn für seine Politik der deutschen Einigung unter preußischer Führung. Mit der Konvention Alvensleben legte er die russische Regierung auf eine antipolnische Politik fest und verhinderte so eine Internationalisierung des Aufstands. Die öffentliche Bekräftigung des preußisch-russischen Zusammengehens war wichtiger als die tatsächliche militärische Bedeutung der Konvention.
Mit dem Aufstand verlor Wielopolski seinen Rückhalt bei Alexander II. Er wurde im Juli 1863 abgesetzt und ging ins Exil nach Dresden, wo sich auch andere Anhänger des Aufstands niederließen, etwa der Schriftsteller Józef Ignacy Kraszewski, dessen Villa mit ihren Sammlungen zur polnischen Geschichte zu einem Pilgerort polnischer Exilanten wurde.43 Die Niederschlagung des Januaraufstands läutete in Kongresspolen das Ende eigenständiger polnischer Institutionen ein. 1866/67 wurden der Staatsrat und die Kommissionen aufgelöst und die Region wurde von russischer Seite zunehmend als privislinskij kraj (Weichselland) bezeichnet. So machte schon der Name deutlich, dass die rechtliche Sonderstellung beseitigt worden war. Die Aufgaben der polnischen Ministerien übernahmen nun die Fachministerien in Sankt Petersburg. 1874 ersetzte ein Generalgouverneur den Statthalter – ein weiteres Zeichen, dass nun auch Verwaltungsstrukturen an die russländischen Gegebenheiten angepasst werden sollten. Damit war die Verwaltung nun mit wenigen Ausnahmen bis zur untersten Ebene russischsprachig. Der 1863 verhängte Ausnahmezustand bestand fast durchgehend bis zum Ersten Weltkrieg fort. Wesentlich härter waren die Reaktionen der zarischen Behörden noch im „Westgebiet“, denn hier zielte ihre Politik, anders als in Kongresspolen, nicht nur darauf, den Einfluss des polnischen Adels zurückzudrängen, sondern zugleich gab es auch Versuche zur sprachlichen und religiösen Russifizierung der örtlichen Bevölkerung.
In Preußen markierte der Aufstand einen Wendepunkt hin zu Bismarcks bereits 1848 formulierter Ansicht, dass durch eine Wiederherstellung Polens „Preußens beste Sehnen durchschnitten und Millionen Deutscher der polnischen Willkür überantwortet“ würden.44 In der Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus Ende Februar 1863 wiederholte sich noch einmal die Konstellation von 1848. Bemerkenswert ist, dass auch spätere Befürworter der preußisch-kleindeutschen Lösung wie der Historiker Heinrich von Sybel hier noch die Einhaltung beziehungsweise Wiederherstellung der Garantien von 1815 für die polnischen Bürger Preußens unterstützten. Vor dem Hintergrund des preußischen Verfassungskonflikts ergab sich eine Übereinstimmung in der polnischen Frage, die erst in der retrospektiven Umdeutung der bismarckschen Politik als erster Schritt hin zur Reichseinigung verloren ging. Insofern stand der Historiker und preußische Abgeordnete Richard Roepell nicht allein mit seiner Ansicht: „[E]ine Nation wie diese stirbt nicht; seit länger als 60 Jahre [sic], bald sind es 100 Jahre[,] ist die politische Existenz dieser Nation vernichtet, aber sie ist nicht gestorben und wer von uns, die Hand aufs Herz, will es ihr verdenken, dass sie auch eben nicht sterben will, dass, so lange noch ein Atom von einem nationalen Bewusstsein in ihr ist, sie sich regt und danach strebt, ihre Unabhängigkeit zu gewinnen, diese nationale Selbständigkeit, die, das erkennen wir ja Alle an, der einzige Boden ist, auf dem eine wirkliche gesunde nationale Entwicklung stattfinden kann.“45 Auf der linken Seite des politischen Spektrums, die für eine Solidarität mit der polnischen Sache eintrat, sind Karl Marx, der 1863 einen längeren Text über Polen, Preußen und Russland verfasste, und die internationale Arbeiterbewegung zu nennen, die sich – angestoßen durch die polnische Frage – 1864 formierte.46
Doch gewann schließlich auch in der deutschen nationalliberalen Öffentlichkeit die antagonistische Sicht auf die deutsche und polnische Frage die Oberhand. Ihre radikalste historische Sinngebung fand diese Position bei Heinrich von Treitschke, der bereits 1862 schrieb: „Inmitten der Erbitterung unserer Tage ist es erquickend, zu gedenken, wie die zähe Arbeit vieler Geschlechter ein gutes Land gerettet hat aus dem großen Schiffbruche der deutschen Kolonien. Alltäglich noch tragen Deutsche die Segnung der Cultur gen Osten. Aber mürrisch wird im Slavenlande der deutsche Lehrer empfangen als ein frecher Eindringling; nur in Preußen blieb er Bürger und Herr des Bodens, den sein Volk der Gesittung gewann.“47 Während die politischen Spielräume für die polnische Gesellschaft in Preußen und im Zarenreich merklich eingeschränkt wurden, zeigte sich eine gegenläufige Entwicklung in Galizien, wo die polnischen Eliten von der 1867 eingeführten Autonomie profitieren konnten ( S. 66).
19 FONTANE, Theodor: Meine Kinderjahre, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Edgar GROSS u.a., München 1959ff., Bd. 14, S. 99.
20 DETTKE, Barbara: Die asiatische Hydra: die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Berlin 1995, S. 254f., S. 276f.
21 JEDLICKI, Jerzy: Jakiej cywilizacji Polacy potrzebują. Studia z dziejów idei i wyobraźni XIX wieku, Warszawa 1988, S. 63f.
22 TREITSCHKE, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4, Leipzig 1889, S. 69.
23 SPAZIER, Richard Otto: Ueber die letzten Ereignisse in Polen besonders seit der Schlacht von Ostrolenka, Altenburg 1832, S. 33.
24 BLEIBER, Helmut/Kosim, Jan (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft 1830–1832, Berlin 1982, S. LV.
25 ASMUS, Helmut: Zu den Reiserouten, die von den polnischen Novemberaufständischen bei ihren Zügen durch die deutschen Staaten in das westeuropäische Exil eingeschlagen wurden (1831–1833), in: LEMKE, Heinz u.a. (Hrsg.): Die deutsche Polenfreundschaft in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Beiträge der 27. Tagung der Historikerkommission der DDR und der VR Polen 27.–30.5.1980, Leipzig 1981, S. 90–107.
26 LANGEWIESCHE, Dieter: Humanitäre Massenbewegung und politisches Bekenntnis. Polenbegeisterung in Südwestdeutschland 1830–1832, in: DERS.: Liberalismus und Sozialis mus. Gesellschaftsbilder – Zukunftsvisionen – Bildungskonzeptionen, Bonn 2003, S. 83–102, hier S. 84.
27 Alle Zitate nach: WIRTH, Johann Georg August: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, Neustadt a. H. 1832, S. 24f., S. 95, S. 97f., S. 42.
28 KUŚMIDROWICZ-KRÓL, Anna u.a. (Hrsg.): Solidarność 1830. Niemcy i Polacy po Powstaniu Listopadowym – Polenbegeisterung. Deutsche und Polen nach dem Novemberaufstand 1830, Warszawa 2005, S. 175.
29 KEISCH, Claude/VANJA, Konrad: „Finis Poloniae 1831“ von Dietrich Monten. Ein Motiv im Wechsel der Perspektiven, S. 59–74.
30 HEINE, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 11, Hamburg 1978, S. 73f.
31 LAUBE, Heinrich: Das neue Jahrhundert. Bd. 1: Polen, Fürth 1833.
32 KIENIEWICZ: Społeczeństwo polskie, S. 116. Vgl. auch die umfangreiche Dokumentation des Prozesses: JULIUS, Gustav: Der Polenprozeß: Prozeß der von dem Staatsanwalte bei dem Königlichen Kammergerichte als Betheiligte, bei dem Unternehmen zur Wiederherstellung eines Polnischen Staates in den Grenzen von 1772, wegen Hochverraths angeklagten 254 Polen (in erster Instanz) verhandelt im Gebäude des Staatsgefängnisses in Berlin, Berlin 1848.
33 Zit. nach einer Flugschrift vom 20.3.1848, in: BOOMS, Hans/WOJCIECHOWSKI, Marian (Hrsg.): Deutsche und Polen in der Revolution 1848–1849. Dokumente aus deutschen und polnischen Archiven, Boppard am Rhein 1991, S. 174.
34 Dank-Adresse der von Sr. Majestät dem Könige amnestirten Polen an das Berliner Volk. Extra-Beilage zur Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 70, 22.3.1848.
35 KIENIEWICZ: Społeczeństwo polskie, S. 152.
36 KEMLEIN: Die Posener Juden, S. 310.
37 SCHMIDT, Hans: Die polnische Revolution des Jahres 1848 im Großherzogtum Posen, Weimar 1912, S. 169f.
38 KIENIEWICZ: Społeczeństwo polskie, S. 304.
39 MÜLLER, Michael G./SCHÖNEMANN, Bernd: Die „Polen-Debatte“ in der Frankfurter Paulskirche. Darstellung, Lernziele, Materialien, Frankfurt/Main 1995, S. 11.
40 Alle Zitate nach: ebenda, S. 25–29; die Mitschrift der Debatte in: WIGARD, Franz Jacob: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1848–1850, Bd. 2, S. 1124–1250.
41 JORDAN, Jan Petr: Aktenmässiger Bericht über die Verhandlungen des ersten Slawenkongresses in Prag, Prag 1848, S. 35, S. 38; ŽÁČEK, Václav: Slovanský sjezd v Praze roku 1848. Sbírka dokumentů, Praha 1958, S. 358–361.
42 BOBERACH, Heinz: Die revolutionären Ereignisse 1848–1849 in Baden und in der Pfalz, in: BOOMS/WOJCIECHOWSKI: Deutsche und Polen, S. 50–57, hier S. 54.
43 Heute befindet sich in dem Gebäude das Kraszewski-Museum (Nordstraße 28).
44 Zuschrift an die Redaktion der Magdeburgischen Zeitung, 20.4.1848, in: ROTHFELS, Hans (Hrsg.): Bismarck-Briefe, Göttingen 21970, S. 110–112.
45 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 1863, Bd. 1, S. 338.
46 CONZE, Werner/HERTZ-EICHENRODE, Dieter: Einleitung, in: MARX, Karl: Manuskripte über die polnische Frage (1863–1864), ’s-Gravenhage 1961, S. 47.
47 TREITSCHKE, Heinrich von: Das Deutsche Ordensland Preußen, in: Preußische Jahrbücher 10 (1862), S. 95–151.