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3. Kategorisierung der Kunstbestände

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»Werfen Sie nichts weg. Nicht einmal Farbdosen oder -tuben, die können später einmal sehr nützlich werden«, rät Jack Flam, Vorsitzender der von Robert Motherwell ins Leben gerufenen Dedalus Foundation.23 Doch nicht jeder Pinsel und Farbtopf ist es wert, aufbewahrt zu werden, auch wenn die Rekonstruktion des Londoner Ateliers von Francis Bacon in Dublin mit mehr als 7000 Einzelstücken einen zögern lässt, eine solche Aussage zu treffen. Dennoch: Am Anfang steht idealerweise ein Auswahlprozess. Denn nicht alles, was ein Künstler denkt, macht und hinterlässt, ist Kunst und für sein Schaffen relevant. Auch wenn die Unterscheidung der Lebensbereiche bei Künstlern häufig nicht eindeutig und der Beruf zumeist auch Berufung ist, hat jeder Künstler auch eine rein private, unprofessionelle Seite mit entsprechenden Hinterlassenschaften – sei es ein Beleg für den Restaurantbesuch oder möglicherweise das Gekritzel auf dem Notizblock am Telefon. »Das leidige Thema der Andenken«, nennt dies die Witwe des australischen Künstlers John Brack in Katrina Stricklands Buch Affairs of the Art und bringt es auf den Punkt: »Das Gekritzel auf dem Notizblock neben dem Telefon hat mit dem Werk des Künstlers überhaupt nichts zu tun. Dennoch sehen das viele Künstler anders, denn manchmal kann eine vor dem Frühstück gemachte Kritzelei nach dem Frühstück 10.000 Dollar wert sein.«24 Aber nicht nur viele Künstler denken so, auch viele Kunstvermittler oder kunstsammelnde Institutionen. Alles, was nur im Entferntesten Ausdruck der künstlerischen Arbeit sein könnte, läuft Gefahr, im Spiel von Markt und Museum kunsthistorisch überinterpretiert oder mit Bedeutung aufgeladen zu werden. Deshalb möchte niemand und erst recht kein Angehöriger für die Vernichtung vermeintlicher Kunstwerke verantwortlich sein, die in einem möglicherweise boomenden Kunstmarkt auch noch einen hohen materiellen Wert haben könnten.

Dennoch ist eine Auswahl, zumindest eine Sortierung unumgänglich – auch und gerade im Sinne des Hinterlassenden. Nur wenige Nachlässe haben die finanziellen Ressourcen, wirklich jeden Gegenstand langfristig zu erhalten. Für die meisten Nachlässe ist es geradezu überlebenswichtig, sich zu beschränken und zu fokussieren. Und auch solche, die über ausreichende Ressourcen verfügen, sollten eine Sortierung vornehmen, um für sich zu definieren, wo ihr Schwerpunkt liegen wird. Der deshalb stets an erster Stelle der Nachlassarbeit stehenden Bestandsaufnahme sollte ein Auswahlprozess folgen, an dessen Ende definiert ist, welche Kunstwerke, Archivmaterialien und sonstigen unter Umständen vorhandenen Vermögenswerte (wie Immobilien oder Kunstwerke anderer Künstler) den Kern für die Arbeit mit dem Künstlernachlass bilden werden.

Gleichzeitig gelangt man im Kontext der Sortierung eines Nachlasses zur ersten Kernfrage einer jeden Nachlassaktivität: Reicht die Qualität des Werks überhaupt für eine gute Nachlassarbeit aus? Die Antwort auf diese Frage hat eine kunsthistorische und eine ökonomische Dimension, die natürlich zusammenhängen. Je wichtiger das Gesamtwerk des Künstlers im kunsthistorischen Kontext ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Einzelarbeiten langfristig relevante Wertschätzung erfahren und entsprechende Verkaufspreise generieren, die eine wie auch immer geartete Finanzplanung ermöglichen. Auch wenn es vereinzelte Fälle von posthumen Entdeckungen gibt, ist es ausgesprochen schwierig, aus einer vollständigen Bedeutungslosigkeit des geerbten Kulturguts heraus zu agieren. Ohne eine Wahrnehmung des Künstlers zu Lebzeiten wird nicht nur die Finanzierbarkeit der Nachlassarbeit eingeschränkt, sondern auch die Motivation der Beteiligten auf eine harte Probe gestellt. Es empfiehlt sich also, das künstlerische Werk realistisch einzuschätzen (oder einschätzen zu lassen) – auch wenn dadurch mitunter sicherlich Erwartungen enttäuscht werden.

Bei diesem Bewertungsprozess sollten möglichst viele externe Meinungen aus diversen Professionen der Kunst eingeholt werden, so wie es zum Beispiel die Kinder von Philippe Vandenberg getan haben. Für sie war entscheidend, ob der Künstlervater auf internationaler Ebene »mithalten« kann, und wenn ja, wie er positioniert werden könnte. Letztendlich ging es darum, ob sein Werk relevant genug ist und welcher Aufwand angemessen. »Für uns ist er ein Gott – doch war er wirklich gut genug?«, fasst es Hélène Vandenberghe zusammen, wobei die Antwort in ihrem Fall positiv ausfiel.25 Erst danach widmeten sich die Geschwister den einzelnen Kunstwerken des Vaters und gruppierten diese.

Doch wie bei einer solchen Kategorisierung des Nachlassbestandes vorgehen? Maßgeblich sollte hier zunächst das eigene Verständnis des Künstlers von seinem Werk und Werkzeug sein, insbesondere ob und in welcher Form er es der Nachwelt hinterlassen wollte. Der Künstler selbst ist am ehesten in der Lage, zu entscheiden, welcher Teil des Werks der Nachwelt übergeben werden oder was in der Privatsphäre der Angehörigen verbleiben soll. Entsprechend sollte er sich auch dazu durchringen, Kunstwerke zu entsorgen, denen er keinen Wert mehr beimisst oder zumindest Handlungsanweisungen hinterlassen, welche Werke aufgrund ihrer Qualität oder gerade mangelnden Qualität nur intern genutzt werden sollten. Dieser Entscheidungsprozess kann natürlich auch Werke betreffen, die nicht mehr im Eigentum des Künstlers stehen, was sich häufig erst durch das Erscheinen eines Werkverzeichnisses herausstellt, wie am Beispiel Gerhard Richter später noch auszuführen sein wird.26 Hat der Künstler diese Selektion versäumt und keine Anweisung hinterlassen, muss der Prozess durch die Familie und das Arbeitsumfeld durch Erinnerungs- und Einschätzungsarbeit erfolgen. Dafür können die in den Nachlass übergehenden Kunstwerke nach Stellen- und Marktwert klassifiziert werden: Was sind Hauptwerke, welche Arbeiten sind eher unbedeutend, was sind nicht zu vermarktende Vorstudien, welche Multiples existieren in welcher Auflage etc.? Nützliche Hilfsmittel für diese Arbeit sind häufig Notizen und Aussagen des Künstlers. Die wenigsten Nachlässe werden allerdings von der Akribie und dem Selbstverständnis zehren, welches Paul Klee in dieser Hinsicht an den Tag legte. Der Katalog von Marie Kakinuma, Wolfgang Kersten und Osamu Okuda zur Ausstellung Paul Klee – Sonderklasse, unverkäuflich 2015 im Zentrum Paul Klee und im Leipziger Museum der bildenden Künste berichtet eindrucksvoll vom Bestreben des Künstlers, sein eigenes Werk nach Qualität und Wichtigkeit zu kategorisieren und entsprechend zu bepreisen. Ein Bemühen, das Klee durch die Etablierung einer als unverkäuflich deklarierten Gruppe von Arbeiten mit der Bezeichnung Sonderklasse krönte. Er entzog diese Arbeiten dem Markt, definierte höchstselbst den vermeintlichen Kernbestand seines Nachlasses und legte den Grundstein für eine erste, selbst konzipierte Retrospektive. Will man diesem Beispiel folgen und einen Kernbestand von 5 bis 10 Prozent der nachgelassenen Kunstwerke inklusive Schlüsselwerke ganz im Nachlass halten, sollte man dies unbedingt tun. Im Umkehrschluss erschwert dies die Finanzierbarkeit der Nachlassarbeit, da es sich bei diesen Werken mit hoher Wahrscheinlichkeit um das aus Marktsicht Begehrlichste handelt.

Aber unabhängig davon, ob man eine unveräußerliche, über allem stehende Sonderklasse einführt oder nicht, kann man Werke in die Kategorien A bis D gruppieren, wie es unter anderem Uwe Degreif, Kurator mit langjähriger Erfahrung zum Thema Nachlässe aus Museumsperspektive, empfiehlt. »A-Werke sind solche, die der Künstler zu Lebzeiten nicht verkaufte, die er immer um sich haben wollte, die er auf Ausstellungen gegeben und für Katalogabbildungen vorgesehen hat, sie stammen aus unterschiedlichen Schaffensperioden und im Kern immer aus der Anfangszeit einer solchen«27, definiert er die Parameter für die erste Garde an Werken, in denen sich nach seiner Auffassung das künstlerische Anliegen verdichtet. Die Werke aus der Gruppe A sind also vergleichbar mit jenen, die Klee vorausschauend als unverkäuflich bestimmte. Seinem Beispiel muss heute nicht zwangsläufig gefolgt werden. Je nachdem, welche Pläne mittelbis langfristig verfolgt werden, kann eine gezielte Platzierung in Museen oder auch ein Verkauf an gute Privatsammlungen durchaus Sinn ergeben. Die Werke aus der Gruppe B stellen das interessanteste Konvolut für die Nachlassarbeit dar. Dabei handelt es sich nach der Interpretation von Degreif um die guten Werke aus der Hauptschaffenszeit. »Diese Gruppe ist zahlenmäßig größer als die Gruppe A, umfasst aber erfahrungsgemäß einen kleineren Zeitraum«, so der Konservator.28 Hingegen umfasse die insgesamt umfangreichste Gruppe C alle Arbeiten von minderer Qualität, Variationen, Entwürfe, Unvollendetes und Überarbeitetes: »Sie fügen den Informationen der Gruppen A und B nichts Wesentliches mehr hinzu.«29 Aus musealer Perspektive ist für ihn deshalb neben der Gruppe A die letzte Gruppe D am interessantesten, zu der Mappen mit Dokumenten, Fotos, persönliche Erinnerungsstücke, Zeugnisse, Ausstellungsbesprechungen, Korrespondenzen etc. gehören, da sie Auskunft über die Beziehungen des Künstlers zu den unterschiedlichsten Personen und seine Art zu leben geben.

11 Carl von Clausewitz, zit. nach: Hans H. Hinterhuber, »1. Exkurs: Die Entwicklung des strategischen Denkens«, in: Wettbewerbsstrategie, Berlin 1990, S. 26.

12 Zit. nach: Pac Pobric, »Museums and galleries turn to the work of Gordon Parks«, in: The Art Newspaper, Nr. 278, April 2016.

13 Philippe Vandenberg hatte seinen Namen ändern lassen und schrieb sich fortan ohne die Buchstaben »he« am Ende. Seine Kinder führen weiterhin den ursprünglichen Namen.

14 Siehe das Interview mit Hélène Vandenberghe in diesem Buch.

15 Diese Aufstellung fußt auf den Handlungsempfehlungen des von der Royal Academy of Arts in London publizierten Leitfadens The Artist’s Legacy. Estate Planning in the Visual Arts, hrsg. von Emma Warren-Thomas und Linda Schofield, London 2013.

16 http://www.lightmachine.agency/.

17 http://www.trenz.ag/.

18 http://www.zetcom.com/de/produkte/.

19 http://www.artsystems.com/solutions/artist-studio-software/; https://www.artworkarchive.com/.

20 http://www.aristitle.com/news/docs/Authenticating%20Art%20With%20Bioengineered%20DNA%20The%20IP%20Issues_110215.pdf.

21 https://www.i2mstandards.org/i2m-solution/.

22 www.tagsmart.com.

23 Siehe das Interview mit Jack Flam in diesem Buch.

24 Strickland, Affairs of the Art 2013 (wie Anm. 1).

25 Hélène Vandenberghe in einem Gespräch mit der Autorin.

26 Siehe Kapitel V.

27 http://www.artexperts.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Artikel_Interview_UweDegreif.pdf.

28 Ebd.

29 Ebd.

Der Künstlernachlass

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