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ОглавлениеReiche Ernte. Emanzipierte Frauen reflektieren ihr Altwerden
Herbstbuntes Alter – farbige Stühle
«An unserer Strasse in einem Einfamilienhausquartier sind nun alle Frauen verwitwet», erzählt eine Frau im Frühjahr 2014. «Wir nennen sie daher die Witwenstrasse. Wir befassen uns gemeinsam mit unserer Situation, wir organisieren uns, helfen einander, reisen auch ab und zu gemeinsam. Ein wichtiges Resultat aus unseren Gesprächen ist: Alle haben einen Stuhl farbig bemalt. Wenn eine Frau den Stuhl vor die Türe stellt, sehen die andern: Sie möchte nicht allein sein, jemanden zum Gespräch einladen. Und es klappt – und vermittelt uns das Gefühl, wahrgenommen, eingebettet, mitgetragen zu sein.» (vgl. Literaturliste S. 137–139)
Die heute sechzig- bis neunzigjährigen Frauen waren in den frauenbewegten Siebzigerjahren jung. Keine Frauengeneration zuvor hat in ihrem Leben eine so intensive emanzipatorische Wegstrecke und so einschneidende Veränderungen der Frauenrolle miterlebt.
Heute wird das Alter länger. Es wird weiblicher, weil Frauen älter werden als Männer. Und die alleinlebenden Frauen werden mehr: Von der gesamten Bevölkerungsgruppe der 65- bis 74-Jährigen leben in der Schweiz 15 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen allein; ab achtzig leben schon zwei von drei Frauen allein. Es sind die Frauen, die die «Kultur des langen Lebens» (Pro Senectute) prägen. Und sie sind daran, neue, zukunftsgerichtete Drehbücher für ein gutes Alter zu entwerfen und mit Leben zu füllen.
Wie aber zeigen sich Beitrag und Bedeutung dieser älteren Frauen in der heutigen Gesellschaft? Wir haben in einem Frauennetzwerk über diese Frage in verschiedenen Gruppen nachgedacht, nachgefragt und geforscht. Ja natürlich, wir kümmern uns um unsere Enkel, um pflegebedürftige Partner oder alte Eltern. Wir engagieren uns in sozialen Projekten, Nachbarschaftsnetzen, Parteien und Non-Profit-Organisationen. Kaum aufsehenerregend. Aber alte Frauen sind auch Pionierinnen im Initiieren und Erproben von zukunftsweisenden Wohn- und Gemeinschaftsformen, sie schaffen neue Netzwerke und Beziehungsmuster.
Frauentypisch: Eigene Erfahrungen ernst nehmen, erkunden, formulieren
Eine unabhängige Gruppe organisiert seit bald zwanzig Jahren im Herbst jeweils eine grosse «Impulstagung» in Zürich zu Themen des Älterwerdens als Frau. Daraus haben sich zahlreiche soziale, kulturelle und politische Aktivitäten entwickelt.
Aus diesem Frauennetzwerk fanden sich im Herbst 2010 interessierte Frauen zusammen zu einer Arbeitstagung. In der Diskussion wurde klar: Wir können uns nicht mehr an den Lebensmustern unserer Mütter orientieren. Und wir wollen der Fremddefinition, wie Frauen altern, etwas Eigenes entgegensetzen – auch wenn wir dankbar sind für die Forschungsarbeiten von Pasqualina Perrig-Chiello und François Höpflinger oder die Age Reports zum Neuen Wohnen, die für uns einen guten Boden gelegt und Fragen nach dem eigenen Erlebten wachgerufen haben. Wir wollen – wie es uns die Frauenbewegung gelehrt hat – ganz von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen. Und diese Erfahrungen und das, was uns geprägt hat und antreibt, ernst nehmen.
Nach der Starttagung 2010 arbeiteten 38 Frauen (zwischen 62 und 83 Jahre alt) während zwei Jahren in sechs thematischen Arbeitsgruppen an den von ihnen selbst ausgehandelten Fragestellungen. Wir nannten das Projekt «Neue Frauen-Alterskultur» (NFAK). Dazu entstand eine offene, basisdemokratische Projektstruktur, mit Verbindlichkeit bezüglich Einsatz an Zeit und Präsentation der Zwischen- und Endresultate, aber mit viel Freiheit in der gewählten Methodik. Ein Koordinationsteam erarbeitete gemeinsam mit den Teilnehmerinnen während und zwischen den Vollversammlungen rollend die nächste Arbeitsetappe. Immer war klar, der Weg und das Erlebnis der Zusammenarbeit waren ebenso wichtig wie die Ergebnisse. – Wir erlebten die gemeinsame Arbeit als anspruchsvoll und lustvoll!
Das Projekt «Neue Frauen-Alterskultur» machte Schulterschluss mit der «GrossmütterRevolution» des Migros Kulturprozent und erhielt von dort auch finanzielle Unterstützung. Der zusammenfassende Schlussbericht ist in der Literaturliste am Schluss des Buches aufgeführt.
Die alten alleinlebenden Frauen – eine gesellschaftliche Kraft
Zwei der sechs Arbeitsgruppen befassten sich mit den im Alter alleinlebenden Frauen. Obwohl zahlenmässig gross, führt diese Gruppe eher ein Schattendasein und zeigt sich kaum sichtbar als gesellschaftliche Kraft. Die mediale Präsenz im Alter gehört weitgehend dem Paar.
In den Beiträgen dieses Buches steht daher diese Gruppe mit ihren Lebensfragen und Erfahrungen im Zentrum. Es geht zum Beispiel um Fragen zum Umgang mit dem Verlust des Partners, um das Talent des «Dazugehörens» und um die im Alter immer wichtiger werdenden, umsichtig gestalteten Freundschaften. In anderen Texten beschreiben Autorinnen, wie wir mit immer wieder erlebter Abwertung umgehen, wie wir aus eigenen Lebenserfahrungen Kraft schöpfen oder wie wir das spirituelle Innehalten als Quelle für ein gutes Leben nutzen.
Die neuen alten Frauen – Pionierinnen auf vielen Gebieten
Die Autorinnen der Texte gehören einer Generation von Frauen an, die in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg herum geboren sind, in den Fünfzigerjahren erwachsen wurden, 1971 als erwachsene Frauen das Stimm- und Wahlrecht erhielten und zehn Jahre später miterlebten, dass der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. Diese Generation von Frauen, die sich nun selbstbewusst «neue alte Frauen» nennen, hat viel gekämpft, sich vieles erstritten und vieles erreicht.
Die Welt hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert. Die bürgerliche Kleinfamilie als dominierende Familienform gibt es nicht mehr, die Beziehung der Geschlechter hat neue Formen angenommen, die Gleichstellung von Frau und Mann wurde rechtlich verankert. Viele Schritte auf dem Weg zur tatsächlichen Gleichstellung wurden erreicht – und dennoch bleibt vieles zu tun.
Männer wie Frauen erfahren Diskriminierung, wenn sie älter werden, aber ältere Frauen erleben das Altern anders. Die Auswirkungen der Ungleichstellung der Geschlechter, die sie ein Leben lang erfahren haben, verschärfen sich im Alter. So führen die fehlende Lohngleichheit und die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen bei der bezahlten und unbezahlten Arbeit dazu, dass die finanziellen Ressourcen der Frauen durchschnittlich deutlich schlechter sind als jene von Männern.
Die Frauen dieser Generation waren Pionierinnen in Politik, Erwerbswelt und Familie. Die ersten Politikerinnen, die in Parlamenten und Exekutiven die Geschicke der Schweiz mitlenkten, gehören dieser Generation an. Sie haben die Emanzipation der Frau geprägt, haben sich in der Frauenbewegung engagiert. Und heute sind sie Pionierinnen in der Gestaltung des Lebens als alleinlebende Frauen im Alter, sie erproben neue Lebensformen, für die es kaum Vorbilder gibt.
Mit dem vorliegenden Buch wollen wir die gesellschaftliche Diskussion zu den angesprochenen Themen anstossen. Wir möchten Leserinnen motivieren, die eigene Lebenssituation unter verschiedensten Aspekten zu überdenken, diese Altersphase mit lebensfreudiger Intensität zu füllen und ihr auch selbstbewusst gesellschaftliche Ausstrahlung zu geben.
Marie-Louise Ries und Kathrin Arioli
Frühjahr 2015