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Zusammenleben im Familienverband als Bollwerk gegen Armut
ОглавлениеIn breiten Kreisen der Bevölkerung, die mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Gewerbe oder in der Industrie arbeitete, galt die Familie als Gruppe, die zusammenarbeiten und zusammenhalten musste, um den Lebensbedarf aus eigenen Kräften beschaffen zu können. Der Ehemann als Alleinernährer war im 19. Jahrhundert zwar ein Ideal, in diesen Kreisen jedoch nicht Realität. Tüchtige und zuverlässige Mütter und Väter, Töchter und Söhne und weitere Verwandte, die sich aufeinander verlassen konnten, galten als einziges Bollwerk gegen das Absinken in Armut und in die gefürchtete Armengenössigkeit. Auch die Pflege der Beziehungen mit Verwandten war in erster Linie auf den Austausch materieller Güter und Hilfestellungen ausgerichtet. Im besten Fall kam man gemeinsam vorwärts; die erfolgreich zusammenarbeitende Familie verstand sich auch als eine harmonische Familie. Der Wunsch nach individueller Lebensgestaltung, auch nach einer Heirat, galt als zweitrangig.
Eine Heirat war an zahlreiche materielle Bedingungen gebunden. Bis zur revidierten Bundesverfassung von 1874 konnten die lokalen Armenbehörden Einspruch gegen eine Eheschliessung armer Leute erheben. Und sie machten von diesem Recht häufig Gebrauch. Ledige Mütter mussten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihre Kinder an Pflegeplätze abgeben und als Dienstmädchen, Mägde, manchmal auch als Gelegenheitsprostituierte zu ihrem Unterhalt beitragen. Auch in Bauernfamilien war die Heirat häufig Privileg des erbenden Sohnes. Von den Geschwistern wurde erwartet, dass sie ledig blieben und als Mägde oder Knechte auf dem Hof mithalfen. Allenfalls hatte eine Schwester die Chance, sich mit einem erbenden Bauernsohn zu verheiraten. Auch in Gewerbe- oder Arbeiterfamilien war Heirat lediglich eine Option. Hatten die Töchter die Chance, eine Berufslehre beispielsweise als Schneiderin oder Glätterin zu machen, oder fanden sie Verdienst in der Heimarbeit, blieben sie oft ledig. Sie lebten mit unverheirateten Geschwistern oder Verwandten zusammen und empfanden sich im Vergleich zu ihren verheirateten, oft kräftemässig und psychisch überlasteten Schwestern als privilegiert. Dies waren sie insbesondere in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Rechte: Sie konnten selbständig Betriebe gründen, Personal anstellen und so weiter, während verheiratete Frauen bis 1989 diesbezüglich einer Art Vormundschaft ihrer Ehemänner unterstanden. Aus diesen Gründen war die Schweiz europaweit eines der Länder mit den höchsten Ledigenzahlen. 1860 standen 40 Prozent ledigen Frauen rund 45 Prozent verheiratete und knapp 16 Prozent verwitwete Frauen gegenüber (alle Frauen über 18 Jahre = 100 Prozent).