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Um 1930, Obfelden ZH Fritz Bär, *1919
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Im gleichen Sommer hatte ich meinen ersten Job. Keiner, der viel Geld einbrachte, dafür aber gutes Essen. Die Bauern hatten noch wenig mechanische Hilfsmittel, das meiste musste von Hand getan werden. So auch das Abladen des Heus und dessen Verteilen auf dem Boden. Frisches Heu hat ein sehr grosses Volumen, setzt sich schlecht, und der Stock wächst rasch in die Höhe. Um das zu verhindern, musste gestampft werden. Es brauchte also Leute, die solche Arbeiten verrichteten. Das mussten ja keine erwachsenen Männer oder Frauen sein, die waren anderswo nötiger. Ich hatte schon gesehen, dass Schulkinder auf dem Heuboden standen, also wollte ich es auch versuchen. Am späteren Nachmittag, als die Pferde die ersten Fuder in die Scheune zogen, lungerte ich beim grossen Scheunentor herum. Wie so oft auch bei anderen Dingen, getraute ich mich auch jetzt nicht zu fragen. Die einzige Hoffnung war, dass der Bauer, der mich gut kannte, von sich aus darauf kommen würde, was ich wollte.
Am ersten Tag klappte es noch nicht, ich musste es am nächsten noch einmal versuchen. Dann hatte ich Glück. «Willst du Heu stampfen?», wurde ich gefragt. Ja sagen und nach oben klettern war eins. Der Bauer warf das Heu mit der Gabel auf den Boden, dort stand ein Knecht und verteilte es gleichmässig. Immer da, wo ein Haufen Heu hinflog, sprang ich darauf und stampfte fleissig. Ob ich eine grosse Wirkung erzielte, weiss ich nicht. Heute scheint mir, ich sei dazu doch noch etwas leicht gewesen. Was tat es, schwitzen musste ich gleichwohl, der Heustaub biss am ganzen Körper, und mein Herz klopfte vor Anstrengung schneller. Als das letzte Heu abgeladen war, sagte der Bauer: «Fritzli, geh in den Stall und warte dort, bis der Melker fertig ist. Dann kommt ihr zusammen ins Haus.»
Auf diese Einladung hatte ich gewartet, wegen der nahm ich doch den ganzen Chrampf in Kauf. Ins Haus gehen bedeutete, sich mit den Bauersleuten an den Tisch zu setzen. Der Melker war noch an der Arbeit. So schnell konnte er nicht fertig sein, standen doch etwa zwölf Kühe im Stall. Ich schaute ihm interessiert zu, besonders, wenn er eine Kuh ausgemolken hatte und die Milch durch ein Sieb in die Bränte goss. Der zurückgebliebene Schaum wurde in einen grossen Teller geleert, auf den bei der Stalltüre ein paar Katzen warteten.
Ich hatte gehofft, ins Haus gehen zu können, sobald die Melkerei zu Ende sei, aber die Milch musste zuerst noch in die Hütte gebracht werden. Der Melker lud die vollen Milchkannen auf den Wagen, spannte das Ross ein und fuhr weg. Erst nach seiner Rückkehr und nachdem Ross und Wagen versorgt waren, konnten wir zusammen ins Haus gehen. In der grossen Wohnküche hatte die Bäuerin den Tisch schon gedeckt, und nachdem alles Platz genommen hatte, wurde aufgetischt. Es gab Rösti und Apfelstückli. Das war noch nichts Besonderes; das Besondere war der Schinken auf einem Holzbrett, ein grosses Messer daneben. Zuerst verteilte die Bäuerin die Rösti, gab jedem in eine kleine Schale Apfelstückli, und dann schnitt sie vom Schinken dicke, saftige Scheiben ab. Wenn es zu Hause etwas zu verteilen gab, bekamen die Eltern und die grösseren Geschwister immer ein bisschen mehr. Hier bei den Bauersleuten gab es keine Unterschiede.
Nun hatte ich aber ein Problem. Ich hatte keine Ahnung, in welche Hand man die Gabel und das Messer nahm. Daheim hatten wir immer nur eine Gabel oder einen Löffel in der Faust. Als die Bäuerin mein ungeschicktes Hantieren sah, nahm sie meinen Teller und schnitt den Schinken in kleine Stücke. Etwas hat mich dabei aber sehr gereut: Um das Geräuchte hatte es eine dicke, fette braune Speckschicht, wie eine Rinde. Die schnitt die Frau ringsum ab und verfütterte sie den beiden Katzen, die schon lange gebettelt hatten. Wie gerne hätte ich dieses Katzenfutter selber gegessen!
Es war schon beinahe Nacht, als ich nach Hause kam. Meine Mutter hatte sich Sorgen gemacht, wo ich sein könnte. Meine Ausflüge mit dem Regenschirm waren noch nicht vergessen. «In Zukunft sagst du, wo du hingehst», wurde ich ermahnt, aber dann waren doch alle neugierig darauf zu erfahren, wo ich war, was ich getan hatte, und vor allem, was es bei den Bauersleuten zum Nachtessen gegeben hatte. Nach gut einer Woche war das ganze Heu eingebracht, und ich sass am Abend wieder zu Hause am Tisch.
Nach dieser Heuernte war es mit meiner Heustampferei auch schon vorbei. Im nächsten Frühjahr, nach Ostern, war es an mir, Rosi als Zeitungsverträgerin abzulösen. Ich würde also nie vor sechs Uhr abends nach Hause kommen; viel zu spät, um mich vom Bauern wieder anstellen zu lassen. Ich fand einen neuen Job, allerdings erst etwa ein Jahr später. Ich will die Geschichte aber jetzt schon erzählen, weil sie so gut zu meiner vorherigen passt.
Ich ging schon in die dritte Schulklasse, als unter uns Knaben davon gesprochen wurde, dass der Kirchensigrist einen starken Burschen suchte, der immer am Samstagabend beim Glockengeläute helfen könne. In unserem Kirchturm hingen vier Glocken. Mit denen wurde an jedem Wochenende während zwanzig Minuten das Ende der sechs Arbeitstage ausgeläutet und allen Leuten in Erinnerung gerufen, dass morgen Sonntag, der Tag des Herrn, sei. Die Kirche in Obfelden stand so gut in der Mitte der Gemeinde, dass ihr Geläut in jedem Orte und in jedem Haus zu hören war.
Es ist schwer, das Gefühl zu beschreiben, das Menschenherzen ergreifen kann, wenn über dem Land die Abendglocken erklingen, die Frieden und Geborgenheit, Ruhe und auch Dankbarkeit verkünden. An solches dachte ich aber nicht, als ich an einem Samstagabend sehr früh schon vor der Kirche auf den Sigrist wartete. Diesmal lungerte ich nicht herum wie bei meinem früheren Wunsch zum Heustampfen; diesmal stand ich am richtigen Ort, beim Seiteneingang neben dem grossen Kirchenportal, der in den Glockenturm führte. Es klappte ausgezeichnet, der Sigrist sah mich schon, als er den Weg hinauf um den Rank kam. Bei mir angekommen, blieb er einen Moment stehen, schaute mich an und fragte: «Bist du der neue Helfer?» Ich konnte noch immer nicht richtig antworten; dafür nickte ich mit dem Kopf umso heftiger.
Der Sigrist, der mit noch drei anderen Männern gekommen war, öffnete die kleine Türe, und zusammen stiegen wir die hölzernen Treppen hoch, bis zum Seilboden. Von dort aus konnte man über dem Gebälk die vier Glocken hängen sehen. Von jeder baumelte ein starker Strick herab, der unten einen dicken Knoten hatte. Ich bekam die kleinste Glocke zum Läuten. Vor Aufregung wollte ich schon meinen Strick in die Hand nehmen. Der Sigrist nahm ihn mir aber aus der Hand und meinte, zuerst müssten mir ein paar wichtige Dinge erklärt werden: «Das Seil», sagte er, «muss immer angespannt sein, die Hände müssen mit dem Seil mitgehen, und das Ziehen muss gleichmässig erfolgen. Nie, aber auch gar nie, darf das Seil um den Körper gewunden werden; das könnte einen schweren Unfall verursachen.» Ich weiss nicht, ob ich alles richtig verstanden hatte; meine Gedanken waren schon viel weiter, beim Dröhnen, das nun bald oben im Glockenstuhl losgehen würde. Es musste nun noch der Sechsuhrschlag abgewartet werden. Auf die Minute genau schlug es zuerst vier Mal «bim-bam», dann ertönten von der grossen Glocke die sechs schweren, dumpfen Schläge.
Kaum war der sechste erklungen, sagte der Sigrist: «Also los, es ist Zeit.» Ja, und dann kam meine grosse Stunde: Ich durfte mit der kleinsten Glocke beginnen, aber leider noch nicht ganz alleine. Jeder der drei Männer hatte einen Strick in die Hand genommen, den meinen hielt neben mir auch noch der Sigrist. Und der tat die ersten Züge. Erst als das bimmelnde Glöcklein mein Seil in die Höhe zog und ich es ohne jeden Ruck wieder nach unten ziehen konnte, durfte ich alleine läuten. Dann schaute der Sigrist zu den anderen Glöcknern, die einer nach dem andern ihre Glocke zum Schwingen brachten. Jetzt war über uns ein Dröhnen, das den Kirchturm erbeben liess und jeden anderen Laut erstickte. Es waren auch keine Worte nötig, alle waren auf ihre Arbeit konzentriert und wussten genau, was zu tun war. Nur ich wurde etwas übereifrig; ich wollte doch zeigen, dass ich stark genug sei, um mit den anderen mitzuhalten. Der Sigrist war nach draussen gegangen, kam aber nach einer Weile zurück und schrie mir ins Ohr: «Nicht so fest ziehen, Fritzli, man hört ja fast nur noch dein kleines Glöckchen.»
Als die zwanzig Minuten vorbei waren, kam das Ausläuten. In der umgekehrten Reihenfolge als beim Einläuten wurden die einzelnen Glocken zum Verstummen gebracht. Eine Glocke anzuhalten, das war gar nicht so einfach. Jetzt musste das Seil jedesmal gebremst werden, wenn es nach oben gezogen wurde. Erst wenn das Geläute anfing leiser zu werden, erfolgte das vollständige Anhalten, indem das ganze Körpergewicht eingesetzt wurde. Gerade beim Abbremsen war es streng untersagt, ein Seil um den Körper zu schlingen. Der Schwung und das Gewicht der Glocke hätten einen Mann nach oben reissen und verletzen können.
Als auch meine Glocke ganz verstummte, war im Turm eine seltsame, fast unheimliche Stille. Der Kirchturm bebte zwar noch immer ein wenig, und in unseren Ohren klang es noch lange weiter, aber sonst war nichts mehr zu hören, und niemand sprach auch nur ein Wort. Es schien mir eine Andacht ohne Pfarrer und Gebet zu sein. Das Stampfen der schweren Schuhe auf der Holztreppe war dann wie eine Erlösung und für mich das Wissen, dass es jetzt zum Nachtessen gehen würde. Auch hier hatte die Bäuerin den Tisch bereits gedeckt.
Der Sigrist war im Hauptberuf Bauer und beschäftigte auf seinem Hof einen Knecht und eine Magd. Beide setzten sich zu uns, so dass mit den Männern aus dem Glockenturm eine recht grosse Tafelrunde beisammen war. Für so viele Leute wurde nicht gekocht, dafür gab es Brot, Butter, Wurst und Käse. Nehmen konnte man, soviel man mochte, und das war für mich das Wichtigste. Bis zu unserem Auszug aus Bickwil habe ich jeden Samstag meine kleine Glocke geläutet, und das ist eine der schönsten Erinnerungen an die Kinderjahre auf dem Lande.