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1947, Lausanne VD Anne Cuneo, *1936

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Es war Anfang Dezember – nichts Besonderes, dass die Bäcker Biscômes anpriesen. Was mich innehalten liess, war das Aushängeschild selber. Ein sorgfältig ausgearbeitetes Schild, von Schülerhand sauber beschriftet und mit Bildern aus der Zeit vor dreissig Jahren verziert. Das Ganze war auf einen ursprünglich weissen, inzwischen aber vergilbten Karton aufgezogen und geschrieben.

Ich blieb trotz scharfer Bise gute fünf Minuten lang am Schaufenster kleben. Dieses Schild … Dieses Schild … Weshalb …?

Und plötzlich sah ich es. Dieses Aushängeschild hatte ich selber gemacht.

Schlagartig kam mir alles in den Sinn.

Ich begriff, weshalb mein Gedächtnis mich im Stich gelassen hatte: um mich zu schützen. Denn augenblicklich stieg in mir eine Mischung aus Leiden und Widersprüchen auf, die mir in der damaligen Zeit sicher schwer zu schaffen gemacht hatte.

Ich erlebte wieder die Hoffnung, Weihnachten würde die täglichen Widrigkeiten meines neuen Lebens zum Verschwinden bringen – als wundersames Geschenk des Himmels. Und gleichzeitig die verzweifelte Gewissheit, dass mein Elend kein Ende nehmen würde.

Ich war kaum einen Monat in der Schweiz. Die französische Sprache kam mir nur stockend und zaghaft über die Lippen. Ich war noch nicht schweizerisch gekleidet, und im kriegsverschonten Lausanne musste meine Ärmlichkeit auffallen. Ich trug einen Mantel, an dem ich ganz besonders hing, weil er meinem Vater gehört hatte. Vor zwei Jahren hatte man ihn für mich verkürzt und zurechtgemacht. Nun war er zu kurz, die Ärmel bedeckten meine Handgelenke nicht mehr. Aber es war Vaters Mantel, und ich legte keinen besonderen Wert darauf, ihn gegen einen anderen zu tauschen. Ich sehe ihn noch, blau mit einem Graustich, dunkler Samtkragen. Getragen vom kleinen Mädchen, das ich damals war, waren die Nähte geplatzt, der Stoff zerrissen und voller Flecken. Trotzdem trug ich ihn während dieses ganzen ersten Winters in Lausanne, weil ich daran hing – und auch, weil mir nie ein anderer angeboten wurde.

Meine Schuhe waren ausgetreten, meine Socken so oft geflickt, dass die gestopften Stellen bis hinauf zu den Knöcheln reichten.

Ich hatte Hunger.

Und eines Tages, auf dem Weg zur Schule, fand ich einen Franken auf dem Trottoir. Im Jahre 1947 und angesichts meines Elends war ein Franken eine hübsche Summe. Ich zögerte keine Sekunde. Das Schlimmste in meinem damaligen Leben war der Hunger: Diesen Franken würde ich verfressen.

Wie ich mich Anfang Dezember eines Nachmittags der Überwachung der Schwestern entzog, weiss ich nicht mehr. Ich beschloss, eine Bäckerei aufzusuchen, so weit entfernt wie möglich, um jede Gefahr zu vermeiden. Während einer guten Stunde irrte ich durch die Oberstadt von Lausanne, bis ich meiner kleinen Bäckerei begegnete. Sie zog mich an wegen der Biscômes im Schaufenster, erhellt von zwei Kerzen, echten Kerzen. Ich trat ein.

Eine junge Frau mit weisser Schürze und kurzem Haar trat aus dem hinteren Teil des Ladens hervor und wischte sich die Hände ab.

«Ja?»

«…»

«Was möchtest du?»

«…»

«Sprichst du Französisch?»

«… ja … ich …»

«Möchtest du etwas essen?»

Es kam mir vor, als wolle sie mir ein Almosen geben. Ich nahm meinen Franken hervor.

«Ich möchte …»

Ich weiss nicht so genau, was für ein Gesicht ich beim Anblick all der Esswaren machte, hungrig wie ich war. Später sagte mir die Bäckerin wiederholt:

«Ich werde das erste Mal, als du hereinkamst, nie vergessen. Ich glaubte, du würdest in Ohnmacht fallen.» Zweifellos machte ich dasselbe Gesicht wie alle andern hungrigen Kinder.

«Da», sagte die Bäckerin und drückte mir einen Bienenstich in die Hand, «es ist Sankt-Niklaus-Tag, und ich schenke allen meinen Kunden etwas. Setz dich dorthin und iss.»

Ich setzte mich. Andere Kunden kamen und gingen, keinem bot sie ein Gebäck an. Als ich mich erhob, meinen Franken immer noch in der Hand, sagte sie mir:

«Weisst du, du solltest dir ein Paar Wollstrümpfe kaufen. Hier ist es nicht wie in Neapel, es ist kalt bei uns.»

«Aber ich möchte noch …»

«Ich will dir sagen, was wir tun werden. Hast du eine schöne Handschrift?»

«Ja.»

«Ich brauche ein Aushängeschild für meine Biscômes und habe keine Zeit, mich darum zu kümmern. Du machst es mir, dafür gebe ich dir zu essen und bezahle deine Arbeit, und mit dem Geld kaufst du dir Strümpfe.»

Das schien mir ehrenhaft, es roch nicht allzusehr nach Almosen. Ich willigte ein. Sie setzte mich in den hinteren Teil des Ladens, ich machte einen Entwurf auf Packpapier, dann schlug ich ihr schüchtern vor, einen schönen Karton zu beschaffen und ihn mit Weihnachtsmännern und anderen Motiven zu schmücken, die an Biscômes erinnern.

«Es lohnt sich wirklich, für solche Sachen eine Künstlerin anzustellen. Mir wäre diese Idee nie gekommen.»

Einen Berliner Pfannkuchen in der Hand, war ich zur Schreibwarenhandlung gegangen. Darauf hatte ich mein ganzes Herz in dieses Schild gelegt – dreissig Jahre später ist das noch deutlich zu sehen.

Die Bäckerin hatte mich mit Esswaren vollgestopft und meine sämtlichen Taschen mit Bisquits gefüllt. Sie hatte mir angeboten, warme Strümpfe zu besorgen, die ich mir verdient hatte, und ich hatte sie dankbar angenommen.

Sie hatte mir eingeschärft, ich solle wiederkommen. Ich könne ihren Säugling hüten. Ich könne ihr weitere Aushängeschilder schreiben: «Frohe Ostern», «Muttertag» … Ihre übrigen Verwände habe ich vergessen. Jedenfalls hatte sie sehr wohl begriffen, dass ich nicht gewillt war, Almosen anzunehmen.

Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen

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