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Einleitung

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Hartmut Wulfram (Wien)

Der staatlich sanktionierte Ausschluss aus der ‚Heimat‘, das ‚Exil‘ im engeren Sinne, ist ein Schicksal, das zu Anfang der Frühen Neuzeit nicht wenige exponierte Persönlichkeiten ereilte und von den Humanisten als ‚Männern des Wortes‘ auf vielfältige und oft paradigmatische Weise reflektiert bzw. fingiert wurde. Bei genauerer Betrachtung gilt es freilich die unterschiedlichen Ausprägungen und rechtlichen Konsequenzen der jeweiligen Verbannung zu differenzieren, und sind die Grenzen zu anderen Formen von Heimatferne, wenigstens partiell und / oder der artikulierten Wahrnehmung nach, durchaus fließend. Ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit (im konkreten Einzelfall ist ohnehin mit Überlappungen zu rechnen) mag hier vorab die große Bandbreite historischer, soziologischer und psychologischer Konstellationen sowie das daraus resultierende Potential literarischer Narrative umrissen werden. Heimatferne oder Exil im weiteren Sinne kann demnach politisch, kriegerisch, juristisch, wirtschaftlich, ‚beruflich‘, gesundheitlich oder sonst wie (mehr oder weniger) erzwungen sein, ein Individuum betreffen oder gleich ganze Familien, Religionsgemeinschaften und Volksgruppen, eine Existenz fern vom ‚angestammten Lebensraum‘ wird aber auch bisweilen (mehr oder weniger) selbstbestimmt gewählt, sei es weil sie ein Entkommen aus unliebsamen persönlichen Verhältnissen verspricht, die vom Liebeskummer über öffentliche Scham bis hin zur Steuerlast reichen, sei es aus wissenschaftlichem, meist geographisch-ethnologischen Erkenntnisdrang, religiösen Gründen (Pilgerfahrt) oder aus purer Reise- und Abenteuerlust. Unabhängig davon, ob dies von den beteiligten Akteuren ursprünglich so geplant war oder nicht, kann Heimatferne desweiteren auf lebenslange, ja generationenübergreifende Dauer angelegt sein (Auswanderung) oder sich als nur von vorübergehender Natur erweisen, d.h. eine begrenzte Anzahl von Wochen, Monaten, Jahren umfassen, und ‒ mehr oder weniger selbsttherapeutisch ‒ zur inneren wie äußeren Abgrenzung gegenüber der neuen Umgebung und Vergewisserung der eigenen Identität führen oder aber umgekehrt zu kulturellen Assimilationsprozessen bis hin zur schrittweisen Loslösung von dem, was man einst als das eigene Land, Staat, Volk, die eigene Sprache und Familie erachtete.1

Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge, die auf eine internationale Tagung zurückgehen, die vom 18. bis 21. Oktober 2016 an der Universität Wien stattfand, bewegen sich in dem soeben skizzierten, semantisch weiten Feld von Exil und Heimatferne. Schwerpunktmäßig nehmen sie die lateinische Literatur des Quattrocento (15. Jh.), wenn man so will: das ‚heroische Zeitalter‘ des italienischen Renaissance-Humanismus in den Blick, ergänzend und zur wechselseitigen Beleuchtung sind aber auch die beiden rahmenden Jahrhunderte (14. und 16. Jh.), humanistische Autoren, die nicht aus Italien stammen, sowie volkssprachige und spätbyzantinische Texte gebührend repräsentiert. Der berühmte, noch ganz dem Mittelalter zugehörige Exilant Dante Alighieri wurde dagegen ebenso gezielt ausgeklammert wie später am anderen Ende des Zeitfensters die nicht unbeträchtliche Zahl an Intellektuellen, deren Migrationen primär auf dem konfessionellen Gegensatz von Katholiken und Protestanten beruhte. Obgleich bei den meisten der behandelten Prosaautoren und Dichtern einschlägige autobiographische Erfahrungen zugrunde liegen, ging es den Organisatoren / Herausgebern nicht in erster Linie darum, das historische Substrat zu rekonstruieren, sondern die kreativen Impulse, ideengeschichtlichen Vorstellungen und literarischen Diskursformen auszuloten, die Exil und Heimatferne im Wechselspiel von Fakten und Fiktionen, Selbst- und Fremdbeobachtung, Theorie und Praxis, zeitgenössischer Lebenswelt und der Tradition antiker Texte und Exempla (vor allem römischer, aber auch griechischer und biblisch-christlicher) jeweils entfalteten. Die insgesamt 28 Aufsätze von Forscherinnen und Forschern aus acht Ländern, verfasst in den vier Wissenschaftssprachen Deutsch, Italienisch, Französisch und Englisch (in abnehmender Reihenfolge), wurden, um dem Leser eine bessere Orientierung zu gewährleisten, in sieben Sektionen untergliedert.

Die erste Sektion „Ursprünge im Trecento“ zeigt, wie sich der „Vater des Humanismus“ Francesco Petrarca in verschiedenen Gattungen und Kontexten, mit christlichen, odysseischen und stoischen Konnotationen, bald als Heimatloser, peregrinus ubique, bald als autonomer Kosmopolit, mundanus, ein Profil gab (siehe die Beiträge von Enrico Fenzi und Philippe Guérin) und wie sein jüngerer Freund Giovanni Boccaccio und zwei von dessen Epigonen mutatis mutandis den ‚heterotopischen‘ Rahmen ihrer Novellensammlungen als narrativen Freiraum nutzten (Piotr Salwa). Die zweite Sektion umfasst ebenfalls drei Beiträge und wendet sich mit Cosimo de’ Medici und Francesco Filelfo zwei mit Blick auf unsere Thematik herausragenden politischen Antagonisten zu. Während promediceische Autoren in Briefen und Proömien zu plutarchischen Viten antiker Exilanten Cosimos geduldiges Ausharren außerhalb von Florenz (1433‒1434) heroisch überhöhten, thematisierte der versierte Literat Filelfo die postwendend erfolgte Verbannung der antimediceischen Fraktion (ab 1434) in Form von verbitterten Briefen, eines gelehrten moralphilosophischen Dialogs de exilio und einer beißenden Hexametersatire, in der Cosimo vorgeworfen wird, Filelfo selbst noch im vermeintlich sicheren Sienesischen Asyl nach dem Leben zu trachten (David Marsh, Jeroen De Keyser, Maria Barbara Kapeller).

Die dritte und mit sechs Beiträgen umfassendste Sektion „Weitere Italiener im italienischen Exil“ wirft weiteres Licht auf die polyzentrische Staatenwelt der Halbinsel, innerhalb derer der Aufenthalt in der Fremde, von der Vielfalt an Dialekten einmal abgesehen, keinen grundlegenden Sprachwandel mit sich brachte (die okzidentale res publica litterarum war im behandelten Zeitraum ohnehin durch ihre lateinische Kultur vereint). Leon Battista Alberti, als illegitimer Spross einer exilierten Florentiner Kaufmannsfamilie gleich doppelt exkludiert, entwickelt nach Aufhebung der Schranken ein zunehmend distanziertes Verhältnis zu den väterlichen Ursprüngen (Francesco Furlan), die beiden Epigrammatiker Porcelio de’ Pandoni (Antoinetta Iacono) und Ludovico Emilio Boccabella (Burkhard Krieger) schließen sich stark an Ovids Tristien und Epistulae ex Ponto an und schildern mit satirischen, panegyrischen und elegischen Elementen ihr wirkliches bzw. stilisiertes Exil in Mailand und Bologna, der Emigrant Angelo Barbato übersetzt Plutarchs einschlägigen Traktat Περὶ φυγῆς (De exilio) elegant ins Lateinische und versieht ihn mit einem die schwierige persönliche Situation reflektierenden Widmungsbrief an Papst Leo X. (Boris Dunsch), während erst berufliche und politisch erzwungene Dislozierungen den ‚Politiker‘ Niccolò Machiavelli zum Literaten machen (Davide Canfora) und sich der Napoletaner Scipione Capece über sein Exil im nahen Salerno durch intellektuelle Betätigung hinwegtröstet, genauer: die Abfassung eines philosophisch-naturwissenschaftlichen Lehrgedichts samt autobiographischem Finale (Claudia Schindler).

Die vierte Sektion fasst vier Beiträge zusammen, die untersuchen, mit welchen stereotypen Denkfiguren bzw. auf wessen literarischen Fußspuren namhafte Quattrocento-Humanisten persönliche oder imaginierte Erlebnisse im ‚barbarischen‘ Ausland nördlich Italiens beschrieben haben. Der Epistolograph Poggio Bracciolini zeigt sich in seiner Wahrnehmung bzw. Erzählung so sehr von den studia humanitatis konditioniert, dass er der Antike ‚tausend‘ Jahre nach ihrem Ende selbst am Bodensee auf Schritt und Tritt begegnet (Hartmut Wulfram), der vom Vatikan verfolgte Filippo Buonaccorsi alias Callimachus Experiens feiert als kosmopolitisch gewendeter Ovid die geistige Freiheit und eine neue Liebe in Polen (Stefano Pittaluga) und der Elegiker Angelo Poliziano gesteht im Umgang mit dem moribunden Ovid den unzivilisierten Schwarzmeervölkern sogar ein größeres Maß an humaner Pietät zu als den antiken Römern (Kurt Smolak). In ebenfalls stark ovidisch inspirierten Epigrammen, Elegien und Briefen, die auch vor chauvinistisch anmutenden Invektiven nicht haltmachen, werden dagegen Mensch und Natur in deutschen Landen von Giannantonio Campano, der sich so nach Italien ‚zurückschreibt‘, geradezu perhorresziert (K.S., Tobias Dänzer).

Mit dem brain drain spätbyzantinischer Gelehrter nach Italien vollzieht die fünfte Sektion unseres Bandes einen erneuten Perspektivenwechsel. Griechische Emigranten machten ‒ je nach Interessenlage der sie Aufnehmenden ‒ wechselhafte Erfahrungen durch, sei es als Vermittler antiker Sprache und Kultur, kritisch beäugte Fremdgläubige und Konvertiten oder bei ihren verzweifelten Versuchen, den Westen zum militärischen Eingreifen gegen die Türken zu bewegen (Christian Gastgeber). Der neuplatonische Philosoph Georgios Gemisthos Plethon, dessen Gebeine 1465 symbolhaft von Mistra nach Rimini überführt wurden, vermochte auch dank seines zum Katholizismus übergetretenen Schülers Kardinal Bessarion wichtige Fundamente für die prisca theologia der Florentiner Akademie zu legen (Monica Centanni). Das Trauma von Flucht und Vertreibung führt im poetischen Werk des sozial gut integrierten Manilius Cabacius Rallo gleichwohl zu emotionalem Selbstausschluss von Liebe, Fest und Dichterruhm (Giuseppe Germano), während sein ebenfalls auf Latein dichtender Freund Michael Marullus, der sein idealisiertes Vaterland selbst gar nicht gekannt hat, die Exilthematik zu raffinierten Konstruktionen griechischer und autobiographischer Identität nutzt und mit philosophischen Reflexionen verbindet (Hélène Casanova-Robin).

Mit dem Überschwappen des Humanismus über Italiens Grenzen wurde in ‚Zentraleuropa‘ natürlich auch der humanistische Diskurs bezüglich Exklusion und Heimatferne unter veränderten geographischen und politischen Rahmenbedingungen fortgeschrieben, wie unsere sechste Sektion illustriert. Der „deutsche Erzhumanist“ Konrad Celtis gibt der römischen Liebeselegie eine neue Richtung, indem er sich, im Uhrzeigersinn seine landesgeschichtliche Germania illustrata vorbereitend, vier Liebschaften im Osten, Süden, Westen und Norden des Reiches ausmalt (Thomas Gärtner), und der Poetikprofessor Heinrich Bebel kehrt, durch die Pest genötigt, in die bildungsferne Provinz seiner Kindheit zurück, die er vorromantisch ‚bukolisiert‘, paradoxerweise aber auch als ihm fremd gewordenes Exil empfindet (Thomas Baier). Nicht minder eng ist Erasmus das Klosterdasein im heimischen Holland geworden, dem der sich zum alter Hieronymus stilisierende vir trilinguis ein internationales Wanderleben im ständigen Austausch mit Gleichgesinnten vorzieht (Felix Mundt), und Marc-Antoine Muret, vor einer Anklage wegen Homosexualität aus Frankreich nach Italien geflohen, veröffentlicht Jahrzehnte später eine Briefsammlung, die den Umzug als freiwillige peregrinatio academica erscheinen lässt (Laurence Bernard-Pradelle).

Die abschließende siebte Sektion fungiert als Sammelbecken für ungewöhnliche Fälle von homines migrantes, die ‒ zwischen Zwang und Neigung ‒ die sprichwörtlich gewordenen Weisheiten „Wenn Jemand eine Reise thut / so kann er was erzählen“ (Matthias Claudius 1774) und „Solang Du in dir selber nicht zuhause bist, bist Du nirgendwo zu Haus’“ (Peter Horton 1975) noch einmal neu aktualisieren und in literarische Bahnen lenken. Unter starkem Einfluss von Dante und Vergil lässt Iacopo Sannazaro sein poetisches Alter Ego „Sincero“ aus Liebeskummer nach Arkadien, bukolisches Traumland und letzter Abglanz der Antike, fliehen, um bei der baldigen Heimkehr nach Neapel durch unterirdische Grotten die unerreichbare Geliebte tot vorzufinden (Pasquale Sabbatino); die Entdecker Christoph Columbus und Amerigo Vespucci verfassen dramatische Berichte über ihre Erlebnisse in der neuen Welt, die in lateinischen Übersetzungen durch Antikisierungen und Missverständnisse wirkungsmächtig verfälscht werden (Robert Wallisch); Georgius de Hungaria, als Lateinschüler ins Osmanische Reich verschleppt, wo er u.a. mit dem mystischen Derwisch-Orden in Berührung kommt, kehrt nach zwanzig Jahren in die christliche Welt zurück, wo er als (rekonvertierter) Dominikaner einen Traktat voll Insiderwissen über den Islam veröffentlicht, der gerade in dessen selbsterlebter Scheinattraktivität eine List des Teufels sieht (Reinhold Glei); und Diogo Pires schließlich, ein portugiesischer Sepharde, der sich genötigt sah vor der Inquisition u.a. nach Antwerpen, Ferrara und Ragusa / Dubrovnik zu fliehen, feiert in neulateinischen Gedichten die unwiederbringlich verlorene Heimat mit einer Saudade, die seine jüdisch-lusitanische Doppelidentität verrät (Rafael Moreira).

Exil und Heimatferne in der Literatur des Humanismus von Petrarca bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts

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