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Gesinnung oder Verantwortung. Zu einer irreführenden Alternative in der Migrationsethik

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Christof Mandry

Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik erhält in den gegenwärtigen öffentlichen und mehr noch in den mit akademischen Mitteln ausgetragenen Auseinandersetzungen über den richtigen Umgang mit den vielen nach Deutschland und Europa kommenden Menschen, so scheint es, eine neue Aktualität. Konrad Ott (2016) baut beispielsweise sein Buch zur Zuwanderungsethik als Streit zwischen gesinnungs- und verantwortungsethischen Argumentationen auf, Ulrich Körtner (2016) kritisiert kirchliche Stellungnahmen wegen ihrer unausgewogenen Überbetonung gesinnungsethischer Forderungen, die nicht verantwortungsethisch abgewogen seien, und auch Reiner Anselm bezieht sich auf Webers Unterscheidung, wenn er das Einhalten der „grundsätzlichen Differenz“ zwischen einer „auf den Bereich des Politischen und einer auf den Bereich der Weltanschauung bezogenen Herangehensweise“ (Anselm 2016: 166) einklagt. Auch wenn Gesinnungs- und Verantwortungsethik keine einander ausschließenden Einstellungen darstellen, werden sie doch, so Weber, von zwei „unaustragbar gegensätzlichen Maximen“ (1992:70) bestimmt. Dieser Gegensatz steht auch im Mittelpunkt der Charakterisierung, den die genannten Ethiker von der Debatte geben. Gesinnungsethiker orientieren sich an der Reinheit moralischer Forderungen, deren Unbedingheit sie unbeirrt von faktischen Widerständen und unüberschaubaren Konsequenzen hochhalten, während Verantwortungsethiker sich wesentlich an die vorausschaubaren Folgen möglichen Handelns halten und Entscheidungen suchen, die an die realen Möglichkeiten der gegebenen Situationen angepasst sind. Gesinnungsethik erkennt Ott bei linksstehenden Politikern und Intellektuellen, bei Kirchenvertretern und zivilgesellschaftlichen Akteuren (vgl. Ott 2016: 18), die von den individuellen Menschenrechten der migrierenden und flüchtenden Menschen ausgehen und daraus weitreichende Aufnahme- und Schutzpflichten der westlichen Staaten folgern. Da diese moralischen Rechte in gesinnungsethischer Perspektive nur durch höherrangige moralische Gesichtspunkte eingeschränkt werden können und zudem demokratietheoretische Argumente es als unzulässig erscheinen lassen, dass Migrantenschicksale durch demokratische Gesetze bestimmt werden, an denen die Betroffenen selbst nicht mitgewirkt haben, führt die gesinnungsethische Position zur Forderung nach „offenen Grenzen“ und zu einer schrankenlosen Aufnahmepflicht der Zielländer (vgl. Ott 2016: 44). Dass eine solche Politik eine enorme Sogwirkung auf alle schlechter gestellten Menschen auf dieser Erde haben muss, stört Gesinnungsethiker nicht, da die Folgenabwägung kein Bestandteil ihres ethischen Räsonnements ist. Diese „Willkommenskultur“ greift aber nicht nur zu kurz, sie ist schlicht unverantwortlich, wenn nicht geradezu absurd (vgl. Ott 2016: 71), denn sie blendet, so Körtner, „mögliche Folgen für die Gesamtgesellschaft, das politische Gemeinwesen – und damit womöglich auch für die Flüchtlinge selbst“ (2016: 67) aus. Gesinnungsethiker denken auch deshalb zu kurz, weil sie nicht berücksichtigen, dass die völkerrechtlichen und ethischen Schutzforderungen gegenüber Flüchtlingen einen funktionierenden Staat und eine aufnahmebereite offene Gesellschaft voraussetzen, deren Funktionieren nur gewährleistet ist, wenn Schutz- und Aufnahmeleistungen definierte Leistungsgrenzen einhalten (vgl. ebd.). Dies hat gerade die verantwortungsethische Perspektive im Blick, die – ohne prinzipienlos zu sein – „stärker konsequentialistisch (also auf die Ergebnisse des Handelns bedacht), prudentiell (also klug und umsichtig) und pragmatisch“ (Ott 2016: 52) vorgeht. Verantwortungsethiker, die sich „in der Regel“ als „Verfassungspatrioten“ verstehen (ebd.), machen sich keine Illusionen über die Motive und Interessen von Menschen – weder bei den Bewohnern der Zielländer noch bei den Zuwandernden – und machen sich Sorgen um die öffentliche Ordnung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die globale wie regionale politische Stabilität. Daher kommen sie zu eher restriktiven Interpretationen der staatlichen Aufnahmepflichten gegenüber Schutzsuchenden und betonen die Souveränität des Staates gegenüber Wirtschaftsmigranten. Ott formuliert daher als verantwortungsethische Maxime „wirksame Abreize gegen Migration in den Grenzen der Menschenwürde zu setzen und Fluchtgründe im Rahmen des Völkerrechts zu reduzieren“ (2016: 74). Unter „Abreizen“ versteht er politische Maßnahmen, die die „Kosten“ für Migration erhöhen und es so unattraktiver machen, das Heimatland auf der Suche nach einem besseren Leben zu verlassen. Dies mündet bei ihm in eine 10-Punkte-Liste an Regulierungsvorschlägen, die der Migrations- und Asylpolitik schärfere verantwortungsethische Konturen verschaffen sollen und solche Dinge wie Einschränkung der Duldungspraxis, Überdenken der Leistungsstandards für Asylbewerber, Einschränkungen beim Familiennachzug etc. umfassen, aber auch die Forderung einschließen, gesinnungsethische Milieus in besonderer Weise an den Kosten zu beteiligen (ebd.: 80). Und Körtner hält es für verantwortungsethisch geboten, die Folgen des brain drains für die Herkunftsländer zu bedenken oder die stabilisierende Wirkung der massenhaften Abwanderung für die dortigen politischen Regime, während es bei Zielländern einen „idealen Einwanderungsquotienten“1 gebe, dessen Über- wie Unterschreiten negative Folgen für die jeweilige Gesellschaft habe (Körtner 2016: 71). Einwanderung müsse daher gesteuert und folglich auch begrenzt werden, denn eine „liberale und migrationsfreundliche Kultur, welche die Rechte von Minderheiten und Notleidenden achtet, ist fragil und bedarf ihrerseits des Schutzes“ (Körtner 2016: 76). Die bisherige Willkommenskultur, so gibt er zu verstehen, hat dies nicht hinreichend beachtet und war darin unverantwortlich, und die deutliche öffentliche Unterstützung seitens der Kirchen für die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel war „rechtspolitisch bedenklich“ und darüber hinaus auch „theologisch problematisch“ (ebd.: 73f.).

Die migrationsethische Diskussion ist, dieser Eindruck stellt sich ein, ziemlich festgefahren zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern, und dazu tragen nicht nur die unterschiedlichen Argumente bei, sondern auch die Tatsache, dass die Debatte nicht nur als ethische, sondern als moralische Auseinandersetzung geführt wird. Gesinnungsethiker werfen Verantwortungsethikern Prinzipienlosigkeit, und Verantwortungsethiker werfen Gesinnungsethikern Verantwortungslosigkeit vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Aufteilung des Diskurses in eben diese beiden Lager daran nicht unschuldig ist. Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, dass Webers Unterscheidung nur von jenen verwendet wird, die eine migrationsskeptische und restriktive Haltung einnehmen – sie sehen sich als verantwortlich, die anderen als weltfremde Idealisten (Weber selbst spricht von „Heiligen“. Kein „Gesinnungsethiker“ bezeichnet sich selbst so. Im Gegenteil, diese erkennen ihre Verantwortung gerade darin, den menschenrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden, die wohlhabende westliche Staaten und Gesellschaften gegenüber Menschen haben, die sich veranlasst sehen, ihre Heimat wegen Krieg, Verfolgung und wegen der ökonomischen und politischen Misere zu verlassen – zumal die Ursachen dieser Notlagen häufig zumindest mittelbar mit der europäischen Kolonialgeschichte oder den globalen Weltwirtschaftsverhältnissen zusammenhängen. Gesinnungsethiker würden wohl einwenden, dass sie sehr wohl verantwortungsethisch argumentieren, nämlich in Verantwortung gegenüber moralischen Standards, wie sie etwa in den Menschenrechten formuliert sind. Webers Unterscheidung hat also zunächst eine rhetorische Funktion, nämlich eine ethische Stellungnahme im Migrationsdiskurs zu positionieren und gegenüber anderen Stellungnahmen zu profilieren – mit der Unterscheidung ist eben ein moralisches Gefälle verbunden, das die gesinnungsethische Position der verantwortungsethischen als unterlegen darstellt. Hat Webers Unterscheidung über die rhetorische Funktion hinaus aber auch noch eine weitere Bedeutung, indem sie vielleicht doch auch eine metaethische Differenz markiert? Etwa, weil ethische Verantwortung unterschiedlich konzipiert wird?

Verantwortung, ein ethischer Begriff, der im 20. Jahrhundert große Karriere gemacht und den Pflichtbegriff abgelöst hat, ist ein mehrstelliger Relationsbegriff. Unabhängig davon, wie viele Relationen er unterschiedlichen Verantwortungstheorien zufolge genau umfasst, besteht Einigkeit darüber, dass er mindestens dreistellig ist: „Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas (Verantwortungsgegenstand) vor oder gegenüber jemandem (Adressat oder Verantwortungsinstanz) verantwortlich.“ (Werner 2011: 543). Wer sich mit Webers Unterscheidung als Verantwortungsethiker sieht, muss folglich bestimmen, als wer er wofür und vor wem Verantwortung wahrnimmt. Erstaunlicherweise wird dies häufig nicht explizit gemacht. Bei Ott bleibt vor allem undeutlich, wie die Verantwortungsinstanz aufgefasst wird, während klar wird, dass er die Verantwortungsinstanz des Gesinnungsethikers, nämlich das einzelne Individuum als Menschenrechtssubjekt, als ungenügend empfindet. Sein Hinweis, der Verantwortungsethiker verstehe sich als Verfassungspatriot, kann hier nicht ausreichen, denn Verfassungspatriotismus zeichnet eine Bürgerrolle aus, aber es ist keineswegs damit bereits impliziert, dass sich die Verantwortung des Bürgers normativ allein auf die Verfassung bezieht. Dies ist auch aus der Verfassung heraus unplausibel, da die Präambel des Grundgesetzes das deutsche Volk in der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ sieht und zudem der Grundrechtekatalog mit der Gewissensfreiheit nicht nur voraussetzt, sondern auch anerkennt, dass Menschen sich moralischen Horizonten verpflichtet fühlen, die dem Grundgesetz vorausgehen. Verantwortungsethiker sehen sich ebenfalls den Menschenrechten – und damit auch dem Asylrecht – verpflichtet, wie Ott (2016: 52) unterstreicht. Allerdings richtet sich der Hauptkritikpunkt, den er gegen die gesinnungsethische Perspektive erhebt, gegen die so genannten „overridingness“ moralischer Normen, sodass Menschenrechte (und überhaupt universelle ethische Normen) als höchste Verantwortungsinstanz für ihn ausscheiden. Overridingness und moralischer Individualismus hängen Ott zufolge zusammen und bedeuten, dass Individuen über subjektive moralische Rechte verfügen, die mit normativer Priorität gegenüber anderen Gründen – etwa ökonomischer, sozialer oder kultureller Art – ausgezeichnet sind (vgl. ebd.: 31–34). In diesem Geltungsprimat besteht der Grund, dass gegenüber menschenrechtlichen Ansprüchen von Flüchtlingen kaum je eine Aufnahmebegrenzung zu legitimieren ist – eine verantwortungsethische Position lässt sich, wie Ott andeutet, auf dem Boden des moralischen Individualismus gar nicht entwickeln (ebd.: 32f.). Wenn Hilfspflichten gegenüber Notleidenden aber mit Kant „unvollkommene Pflichten“ sind und das Maß ihrer Erfüllung folglich mit anderen Gütern bzw. Folgenerwägungen abgeglichen werden darf (vgl. ebd.: 73), stellt sich doch die Frage, in welchem normativen Horizont dies geschieht, also das Wohl welchen Kollektivs dagegen in welcher Weise gewichtet wird. Da die verantwortungsethische Position eine ethische Position ist, erhebt sie den Anspruch, der gesinnungsethischen Perspektive gegenüber nicht nur effizienter oder ökonomisch vorteilhafter, sondern auch aus ethischen Gründen vorzuziehen zu sein; dazu bedürfte sie aber gerade einer verantwortungsethischen Vertiefung.

Das lässt sich auch gegenüber Anselms theologisch-ethischer Zurückweisung der „gesinnungsethischen“ Priorisierung universeller Menschenrechte einwenden. Er folgert aus der reformatorischen Grundeinsicht, die er in der Grenzziehung zwischen Gott und Mensch erblickt, eine grundsätzliche Differenz zwischen religiös-universalen und politisch-partikularen Sphären. Diese Grenzziehung ist ihm zufolge das fundierende Prinzip sowohl des reformatorischen Glaubens als auch der modernen Politik (Anselm 2016: 163f.). Gesinnungsethisch würde in der Flüchtlings- und Migrationspolitik auf grundsätzliche Teilhaberechte der Migranten verwiesen, die als vorstaatliche Rechte von jeder staatlichen Ordnung anzuerkennen seien. Damit werde jedoch die reformatorische Leitidee der Differenz zwischen Religion und Politik unterlaufen, denn „hier wird letztlich eine aus einer religiösen Überzeugung abgeleitete regulative Idee – nämlich die der grundsätzlich gleichen Rechte aller – als direkte Leitlinie auf den Bereich der Politik übertragen, jedoch so, dass sie von der Politik nur rezipiert, nicht aber begründet oder modifiziert werden kann“ (ebd.: 166). An Anselms Position überrascht nicht nur, dass die Einsicht in die normative Gleichheit aller Menschen als exklusiv religiöse Einsicht aufgefasst wird, die dem politischen Raum nur auferlegt werden kann, und als sei sie nicht ein Axiom der modernen demokratischen Politik; es verwundert auch, wie beliebig der normative Horizont bleibt, in dem er die Verantwortung des Politikers einordnet. Der Politiker müsse nämlich, so Anselm, für die Folgen seines Tuns einstehen und abwägen, welche Konsequenzen er für das Erreichen seiner Ziele, die ihm wichtig sind und die „seiner eigenen Überzeugung entspringen“, tragen und welche Kompromisse er eingehen möchte (ebd.). Kann man zu Beginn des 21. Jahrhunderts über die legitimen Ziele eines Politikers wirklich nicht mehr sagen, als dass sie eben individuell-authentisch seien – wird man nicht bei einem demokratischen Politiker erwarten dürfen, dass seine Zielsetzungen auch mit universalistischen Orientierungen etwas zu tun haben? Anselms pathetische Formulierung, der Raum des Politischen müsse von universal-normativen Zumutungen frei gehalten werden, indem im reformatorischen Geist „der Absolutsetzung von ethischen Positionen im Namen des Absoluten“ (ebd.: 167) entgegengetreten wird, und sein Hinweis auf „transparente Verfahren“ führen hier nicht weiter, da es unmittelbar zur ethischen Verantwortung gehört, dem demokratischen Diskurs gehaltvolle normative Positionen erst einmal zuzuführen. Hilft hier vielleicht ein Blick zurück auf Weber weiter?

Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für Weber das Herzstück seines auf einem Vortrag basierenden Aufsatzes über „Politik als Beruf“. Verantwortungsethik ist für ihn weniger ein Ethik-Typ als ein bestimmtes Ethos, nämlich das Ethos jenes Politikers, der das Gegenstück zum sozialistischen oder kommunistischen Politiker darstellt, der um der Revolution willen jedwede Folgen seines Handelns in Kauf zu nehmen gewillt ist. Gleichwohl ist sein Politiker ein moderner Politiker, der im „Interessenbetrieb“ der Politik klug agiert und auf die Kooperation mit anderen angewiesen ist (Weber 1992: 38). Weber erkennt nämlich, dass die moderne Politik (seiner Zeit) auf einen Parteiapparat angewiesen ist und zudem mit einer Massengesellschaft zu tun hat. Politiker müssen die Unterstützung der Massen für sich gewinnen und außerdem den Parteiapparat hinter sich bringen, den sie benötigen, um ihre Wähler zu erreichen. Daher ist Webers Politiker eine charismatische Führungspersönlichkeit (ebd.: 59f). Was den Politiker aber eigentlich ausmacht, und worin auch die Faszination von „Politik als Beruf“ liegt, ist der Umgang mit Macht – Macht, die darin spezifisch politisch ist, dass sie mit „Gewaltsamkeit“ verbunden ist (ebd.: 68). „Das spezifische Mittel der legitimen Gewaltsamkeit rein als solches in der Hand menschlicher Verbände ist es, was die Besonderheit aller ethischen Probleme der Politik bedingt.“ (ebd.: 77). Welches Politikerethos entspricht dem?

Drei Eigenschaften sind laut Weber für den Politiker entscheidend: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß“ (ebd.: 62), wobei Weber die Leidenschaft sofort versachlicht zur „Hingabe an eine Sache“. Da er das Verantwortungsgefühl ebenfalls auf die „Sache“ bezieht, wäre zu erwarten, dass diese „Sache“ nun als Verantwortungsinstanz auch inhaltlich entfaltet wird. Weber weist zunächst jedoch nur auf die Kombination zwischen Leidenschaftlichkeit, also der inneren Verbundenheit und Hingabe an die Sache, und der Distanziertheit und Selbstkontrolle hin, die den echten Politiker vom „Dilettanten“ unterscheidet. Zwar kann die „Sache“ nicht einfach die Macht sein, für die der Politiker brennt (ebd.: 64). Das Was der Sache ist Weber zufolge aber ganz gleichgültig und kann nationaler, religiöser, moralischer oder auch rein alltäglich-pragmatischer Natur sein, sofern nur eine authentische, persönliche Bindung daran besteht: „Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der Politiker Macht erstrebt und verwendet, ist Glaubenssache.“ (ebd.: 65). Nun fragt sich freilich, inwiefern ein „Verantwortungsgefühl“ dieser Sache gegenüber hinreichend konturiert werden kann, wenn sie so wenig bestimmt ist. Reduziert sich die Verantwortung damit nicht auf den Willen, die „Sache“ zu realisieren? Und wie unterscheidet sich dies vom Gesinnungsethiker und vom Diktator? Für Weber liegt dies in der Art des „Verantwortungsgefühls“. Falsch und „würdelos“ ist es für Weber, die Politik dadurch zu moralisieren, dass „Schuldige“ für Geschehnisse gesucht werden, die nun einmal geschehen sind. Ganz offenbar steht ihm hier 1919 die Frage nach der deutschen Kriegsschuld vor Augen. Politik wird darin „unsachlich“, so Weber, dass mit Schuld für Vergangenes operiert wird, anstatt „sachlich“ die Gestaltung der Zukunft in den Blick zu nehmen (ebd.: 66). Das Einbringen moralischer Gesichtspunkte in die Politik hat nämlich selbst politische Folgen, insofern es einerseits in der Regel nur Interessen maskiert, andererseits die Gewichte im Austarieren der Interessen verschiebt. Die Verantwortung des Politikers besteht nun gegenüber der Sache und gegenüber der Zukunft, und um dieser Verantwortung willen muss er die rückwärtsgewandte Moral (à la Gesinnungsethik) außen vor lassen und mit allen Interessenverfolgungsmethoden rechnen, um so weit wie möglich seiner „Sache“ eine Zukunft zu sichern (ebd.: 71). Damit konzentriert sich das ethische Kernproblem der Politik darauf, welche „Mittel“ (noch) zu rechtfertigen sind, um die „Sache“ wirkungsvoll zu verfolgen, bzw. welche Nebeneffekte akzeptabel sind, um das Ziel zu erreichen, und es macht den Verantwortungsethiker aus, dass er, anders als der Gesinnungsethiker, diese Frage überhaupt zulässt. Freilich wird man einwenden, dass dies nicht unwesentlich davon abhängt, worin eigentlich die „Sache“ besteht, denn nur für entsprechend hochrangige Ziele sind bestimmte Nachteile nur in Kauf zu nehmen, und es ist irgendeine Norm (ein Maßstab) erforderlich, an der die Hochrangigkeit gezeigt wird. Weber beantwortet diese Fragen nicht; vielleicht hielt er sie nicht in einer Weise für beantwortbar, die auf allgemeinen Prinzipien oder Abwägungsregeln beruht. Mehrere Aussagen weisen aber darauf hin, dass er darin ein schwerwiegendes Problem erkannte, das gewissermaßen die klare Zuordnung zu Gesinnungs- oder Verantwortungsperspektive wieder übersteigt. Er ist sich nämlich darüber im Klaren, dass derjenige, der sich Politik zum Beruf macht, damit der moralischen Korrumpierbarkeit aussetzt, die sein Abwägen verantwortungslos werden lässt. Daher muss der Politiker Verantwortung für sich selbst übernehmen:

Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewusst zu sein. Er lässt sich, ich wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern. (ebd.: 73)

Politik gefährdet gewissermaßen das „Heil der Seele“ – sie belastet das Gewissen, weil sie zu Kompromissen nötigt, von denen nicht immer klar ist, ob sie von der „Sache“ her tatsächlich noch gerechtfertigt sind. Das ist für Weber übrigens ein Risiko, das sowohl gesinnungs- als auch verantwortungsethisch gegeben ist; der Verantwortungsethiker macht sich dieses Risiko allerdings klar, der Gesinnungsethiker wähnt sich dagegen gefeit (ebd.: 79). Am Ende der Abwägungen ist aber auch der Verantwortungsethiker auf die „Gesinnung“ verwiesen – wer nicht verantwortungslos handeln will und vom Diktator unterscheidbar bleiben möchte, muss eine Grenze kennen, an der jedes Abwägen halt macht. Weber formuliert es wieder in religiöser Sprache: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich“ – diese Situation muss „für jeden von uns, der nicht innerlich tot ist, irgendwann eintreten können. Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen den echten Menschen ausmachen, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann.“ (ebd.: 81). Wann aber „gesinnungsethisch“ und wann „verantwortungsethisch“ gehandelt werden soll, dafür gibt es Weber zufolge keine Regel – wieder eine Frage der persönlichen Verantwortung.

Webers ethisches Panorama ist damit zwar unter ethischen Gesichtspunkten nicht voll ausgestaltet, aber doch vielgestaltig. Es ist unterbestimmt, wo es um die Qualität der „Sache“ geht, die den Politiker bewegt; schließlich ist es eine grundlegende ethische Frage, für welche Ziele man sich einsetzt. Die Frage, wofür es sich lohnt, politisch zu arbeiten, kann nicht darauf reduziert werden, worin man die eigenen Interessen erkennt oder was politisch am ehesten Erfolg verspricht. Außerdem ist es keine rein individuelle Frage, die dem eigenen Lebensentwurf zuzurechnen ist; es gibt auch politische Ziele, die ethisch illegitim sind. Weber scheint sich dessen dort bewusst zu sein, wo er auf den Persönlichkeitswandel hinweist, dem sich der Politiker aussetzt und den er verantworten muss. Schließlich muss auch die politische Kompromissfähigkeit Grenzen haben, wenn sie nicht prinzipienlos und darin unverantwortlich sein soll. Wem gegenüber besteht aber die Verantwortung, sich nicht korrumpieren zu lassen und verantwortlich Kompromisse zu schließen? Weder das Persönlichkeitsethos noch die Legitimität der Kompromissfähigkeit können ja aus der „Sache“ gefolgert werden, der sich der Politiker verpflichtet fühlt. Offenbar muss der normative Bezugspunkt der Verantwortungsethik stärker expliziert werden – da wird dann der Gegensatz zur gesinnungsethischen Perspektive obsolet.

Was folgt daraus für die migrationsethische Debatte? Webers Überlegungen zum Ethos des Berufspolitikers nehmen ernst, dass Politiker in einem Betrieb sich zu behaupten versuchen, der seinen eigenen Gesetzen folgt und sich wesentlich um den Zugang zu, den Einsatz und den Erhalt von zwangsbewehrter Macht dreht. Sein Beharren auf der – wie gezeigt recht differenzierten – Verantwortungsethik sucht gerade das Spezifikum eines politischen Ethos zu erfassen, das als Rollenethos des Politikers selbst politischen Charakter hat. Dem gegenüber ist zu unterstreichen, dass der gewöhnliche Intellektuelle oder der akademische Ethiker, der nicht in den politischen Betrieb und in eine Parteiorganisation eingebunden ist, nicht in der Rolle des Politikers spricht, sondern – obzwar nicht unpolitisch – an einem öffentlichen Diskurs teilnimmt, vor dessen Hintergrund erst das politische Kompromissfinden und Entscheidungsfinden stattfindet. Dieser Diskursprozess findet seinerseits nur dann in ethisch verantwortbarer Weise statt, wenn alle ethischen Dimensionen der Problematik vertreten und erörtert werden. Den politischen Kompromiss kann eine ethische Diskussion nicht vorwegnehmen; sie muss Sorge tragen, dass alle relevanten Argumente – auch jene, die in der Politik unbeliebt sind, weil sie politischen Mehraufwand verursachen – vorkommen und so weit als möglich Gehör finden. Dafür muss Ethik aber Ethik bleiben und darf sich nicht in die Rolle des Politikers hineinphantasieren. Es ist gar nicht zu erkennen, wieso es unpolitisch wäre oder unverantwortlich sein sollte, menschenrechtliche Ansprüche oder ethische Begrenzungen nationalstaatlicher Souveränitätsansprüche zu vertreten, wie jene Autoren zu denken scheinen, die ihre Position als „verantwortungsethisch“ charakterisieren. Viel eher wird eine Diskussion benötigt, die in einem übergreifenden Sinne verantwortungsethisch ist – wie sie bei Weber wenigstens als Problembewusstsein zu erkennen ist – und die „gesinnungsethische“ Aspekte einschließt. Dazu gehört wesentlich die Frage nach der Verantwortungsinstanz, die bei der Migrationsproblematik ja offenkundig nicht primär im einzelstaatlichen Gemeinwohlhorizont zu lokalisieren ist. Das Bestehen von Staaten, denen gegenüber Individuen mit ihren Wünschen und Interessen auftreten, ist ja gerade Teil der Problembeschreibung und kann nicht einseitig die Perspektive der Beurteilung formulieren. Anders gesagt: Die migrationsethische Debatte muss sich einerseits davor hüten, unreflektiert eine Position einzunehmen, die sich mit dem „Wir“ der Aufnahmegesellschaft identifiziert und in der Torhüter-Rolle überlegt, was (und wer) „uns“ zuzumuten ist. Dieses prinzipielle Machtgefälle zwischen dem Staat und den ankommenden Individuen wird andererseits zwar korrigiert, aber nicht überwunden, wenn die migrationsethische Positionierung anwaltschaftlich zugunsten der Migrierenden erfolgt. Advokatorisches Eintreten für die wenig artikulationsfähigen Rechte der Flüchtenden und Zukunftsuchenden ist in der Migrationsdebatte bitter nötig (und darin zutiefst politisch), aber ändert nichts daran, dass das grundlegende Setting – hier der mächtige Staat, dort das ohnmächtige Individuum – nicht in Frage gestellt wird. Christoph Menke weist darauf hin, dass mit dem Konflikt zwischen dem Individuum als Inhaber subjektiver Rechte und dem Staat als Machtkollektiv die Problemstruktur perpetuiert wird – das Verhältnis „zwischen einem Wir und einem Du (oder einem Ihr und einem Ich), das nicht ein Mitglied ist“ (Menke 2016). Die ethische Debatte müsste sich darauf konzentrieren zu erörtern, wie eine gerechte Anerkennung von Menschen als politischen Wesen zu denken und zu realisieren ist, ohne am menschenrechtlichen Dilemma stecken zu bleiben, dass Migranten „eigentlich“ Teilhaberechte haben, diese zu ihrer Realisierung aber das erfordern, was ihnen gerade abgeht, nämlich Teil zu sein. Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für eine solche umfassendere Wahrnehmung der ethischen Problematik nicht geeignet; da sie auch diesseits davon irreführend ist, sollte auch auf ihren bloß rhetorischen Gebrauch verzichtet werden.

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