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Die Rechtlosigkeit der Staatenlosen
ОглавлениеDas für Arendt (2011, 2013: Kap. 9) an der Rechtlosigkeit der Staatenlosen so neue wie bezeichnende war ihre Absolutheit, welche nicht zuletzt auch aus der globalen Durchsetzung und Verrechtlichung des internationalen Staatensystems resultierte, die ihnen schlichtweg keinen ‘Platz’ auf dieser Erde ‘übrig ließ’: schon zuvor waren einzelne (Menschen-)Rechte zweifellos substantiell verletzt oder nicht gewährt worden – und dies gleichsam in großer Zahl und schwerwiegender Weise; was allerdings ein bisher ungekanntes Phänomen darstellte, waren Menschen, die mit einem Mal all ihre (Menschen-)Rechte – quasi en-bloc – verloren bzw. dieser beraubt wurden, und für die – genauer: gerade weil für sie – keine politische Gemeinschaft mehr existierte, in welcher Subjekte sich wechselseitig Rechte überhaupt erst hätten garantieren können. Auf diese Situation waren ‘die’ Menschenrechte in ihren zahlreichen Festschreibungen und Formulierungen von letztlich partikularen Rechten nicht vorbereitet bzw. ausgerichtet: Denn eine Verletzung substantieller (Menschen-)Rechte bzw. einer Teilmenge von ihnen bedeutet zwar eine (Menschen-)Rechtsverletzung, nicht aber einen buchstäblichen Verlust dieser Rechte (Arendt 2013: 611). Eine Rechtsverletzung kann überhaupt nur unter der Voraussetzung eintreten, dass ebendiese Rechte intakt bzw. tatsächlich existent sind, also von Rechtssubjekten beansprucht werden; ein tatsächlicher Rechtsverlust hingegen bedeutet ihre Nicht(-mehr-)existenz, vor deren Hintergrund diese Rechte überhaupt nicht mehr verletzt werden können, da es schlicht nichts mehr gibt, was verletzt werden könnte. Aber auch im Falle des tatsächlichen Verlustes einzelner Rechte konnte noch nicht von einem absoluten Rechtsverlust gesprochen werden, solange zumindest einige Rechte hinreichend intakt blieben; das Phänomen absoluter Rechtlosigkeit trat erst mit den Staatenlosen auf, die plötzlich ohne jede politische und somit Rechtsgemeinschaft dastanden, innerhalb der ihnen Rechte als solche erst hätten gewährt werden können (ebd.: 611f.). Vor dem Hintergrund der sozialen Ontologie von Rechten sowie ihrem relationalen, gruppenbezogenen Charakter als sozio-politische Institution (vgl. ebd.: 622; 2011: 404, 407) verloren Staatenlose mit ihrer politischen Gemeinschaft also nicht einfach einzelne Partikularrechte, sondern vielmehr alle ihre Rechte, ihren persönlichen Status als Rechtssubjekt, und wurden somit absolut rechtlos (Arendt 2011: 402). Und vor dem Hintergrund des Verlustes dieser politischen Gemeinschaft konnte auch der Genuss bestimmter ‘Rechte’ nicht über die Lage der Staatenlosen hinwegtäuschen: denn wurden einer/m Staatenlosen spezifische substantielle Rechte (zumindest ihrem Inhalt nach) zuteil, dann nie als Rechte, die sie/er legitimerweise hätte beanspruchen oder einklagen können; vielmehr konnte sie/er sich darüber ‘glücklich schätzen’. Wurden ihr/ihm Rechte nicht gewährt oder wieder entzogen, so musste sie/er sich damit abfinden und hatte keine Handhabe dagegen. Wurden Staatenlosen also ‘Rechte’ gewährt, geschah dies gegebenenfalls unfreiwillig und sozusagen eher ‘zufällig’, oder aufgrund der Freiwilligkeit und des ‘guten Willens’ der verantwortlichen Institutionen. ‘Rechte’ aber, deren Gewährleistung keine Pflicht ist, sondern von Freiwilligkeit und/oder ‘gutem Willen’ abhängt, können wohl nach keiner juridischen Definition tatsächlich als Rechte gelten:
Die partikularen Rechte, die der Staatenlose in nichttotalitären Ländern genießt und die sich vielfach mit den proklamierten Menschenrechten decken, können an der fundamentalen Situation der Rechtlosigkeit nicht das geringste ändern. Sein Leben, das unter Umständen durch private oder öffentliche Wohlfahrtsorganisationen über Jahrzehnte erhalten wird, verdankt er der Mildtätigkeit privater oder der Hilflosigkeit öffentlicher Instanzen, in keinem Fall aber hat er ein Recht darauf, da es kein Gesetz gibt, das die Nationen zwingen könnte, ihn zu ernähren. (Arendt 2013: 613)
Auf diese „fundamentale Situation der Rechtlosigkeit“ musste konsequenterweise die zweite, existenzielle Deprivation folgen: die Weltlosigkeit der Staatenlosen. Denn der „Raub der Menschenrechte“ ist für Arendt (2011: 399) gleichbedeutend damit, „daß einem Menschen der Standort in der Welt entzogen wird, durch den all seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen Wirksamkeit“. Dieser „Standort in der Welt“ aber ist aus Arendtscher Perspektive fundamental für menschliches Sein und Leben.