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Die Weltlosigkeit der Staatenlosen
ОглавлениеDurch ihre Flucht verlieren die Staatenlosen zuallererst ihre „Heimat“ und damit gleichsam „die Umwelt […], in die man hineingeboren ist und innerhalb deren man sich einen Platz in der Welt geschaffen hat, der einem sowohl Stand wie Raum gibt“ (Arendt 2013: 607). Da ihnen fortan ein neuer ‘Platz in der Welt’ verweigert bzw. der Weg zu diesem versperrt ist, verlieren sie gleichsam „alle jene Bezüge zur Welt und alle jene Bezirke menschlichen Daseins […], die das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit sind und ausschließlich der von Menschen gebildeten Welt entstammen“ (Arendt 2011: 402f.) und das bedeutet für Arendt (ebd.: 401) nicht weniger, als den „Verlust aller menschlichen Beziehungen“. So muss auf die absolute Entrechtung der Staatenlosen also die absolute ‘Entweltung’ bzw. ‘Entweltlichung’ folgen, ihre Ausstoßung aus der ‘Welt’ der Menschen, in der allein sie ein, im Arendtschen Sinne, menschliches, ‘gutes Leben’ führen können, das durch Freiheit, Pluralität und die Möglichkeit zum (politischen) Handeln gekennzeichnet ist. Insofern ihre Meinungen, Überzeugungen und Handlungen – quasi ‘für alle Welt’ – irrelevant geworden sind, sind sie „politisch gesprochen, lebende Leichname“ (Arendt 2013: 614). Recht- und Weltlosigkeit bedingen sich also in letzter Konsequenz wechselseitig; oder anders gesprochen: wenn die Rechtlosigkeit der Staatenlosen sie erst einmal weltlos gemacht hat, haben sie aufgrund ebendieser Weltlosigkeit, die sie der gesicherten Möglichkeit zum ‘sinnvollen’ – also gehörten sowie tatsächlich in Betracht gezogenen – Sprechen wie Handeln und damit der Teilnahme an Politik beraubt, keine bzw. kaum eine Chance, wieder Teil einer politischen Gemeinschaft und damit Teil der Menschheit und/oder menschlichen Welt zu werden – sie bleiben ‘reduziert’ auf das Abstraktum ihres bloßen Da-aber-nicht-in-der-Welt-Seins (ebd. 624). Die Staatenlosen erleiden folglich einen „Namens- und Identitätsverlust“ (ebd.: 597), da sie ihren ‘Standort in der Welt’ verlieren und sich fortan nicht mehr durch Sprechen und Handeln in einer Öffentlichkeit vis-a-vis Anderer individuieren können, und werden dabei auch ihrer sowie jedweder politischen Gemeinschaft und damit „politisch (aber natürlich nicht personal) der Fähigkeit beraubt, Überzeugungen zu haben und zu handeln“ (ebd.: 614) – ihre (Meinungs- und Handlungs-)Freiheit ist nicht die eigentlich politische bzw. in einer politischen Gemeinschaft wechselseitig wie institutionell garantierte; ihre Freiheit ist einzig die „Narrenfreiheit“ (ebd.: 613). Dieser ‘Raub’ aber muss für Arendt der schlimmste aller möglichen Raube sein, betrifft er doch exakt die Fähigkeiten des Menschen, die Arendt für die grundlegenden bzw. grundlegend menschlichen erachtet. In diesem Sinne konstituiert Weltlosigkeit eine im Arendtschen Sinne genuin existenzielle Deprivation. Denn insofern menschliche Existenz das Potenzial mannigfaltiger – aber im Arendtschen Sinne letztlich weltbezogener – Kapazitäten und Möglichkeiten konstituiert, muss Weltlosigkeit dieses Potenzial notwendigerweise radikal beschneiden:
Der Verlust der Relevanz und damit der Realität des Gesprochenen involviert in gewissem Sinne den Verlust der Sprache, zwar nicht in einem physischen Sinne, wohl aber in dem Sinne, in dem Aristoteles den Menschen als ein Lebewesen definierte, das sprechen kann; denn hiermit meinte er nicht die physische Kapazität, die auch Barbaren und Sklaven zukam, sondern die Fähigkeit, im Zusammenleben durch Sprechen, und nicht durch Gewalt, die Angelegenheiten des menschlichen und vor allem des öffentlichen Lebens zu regeln. Die Narrenfreiheit der Internierungslager wie die Verfolgungen, die unabhängig sind von dem, was einer sagt oder meint, machen gleicherweise den Betroffenen mundtot in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Und an diesen Verlust reiht sich der Verlust der öffentlich gesicherten Gemeinschaft überhaupt, der Fähigkeit zum Politischen, die, wie immer man sie deutete, seit Aristoteles ebenfalls als Kennzeichen des Menschseins überhaupt galten. Hier treten mit anderen Worten Verluste ein, die wir im Sinne der abendländischen Tradition nur als Verlust einiger der essentiellen Charaktere menschlichen Lebens überhaupt verstehen können. (ebd.: 615)
Diese Form existenzieller Deprivation, der Gemeinschaftslosigkeit und Unverbundenheit mit der Welt und damit die Unmöglichkeit, in die geteilte Öffentlichkeit einer politischen Gemeinschaft hineinzuhandeln, mündet letzlich in einer unvergleichlichen „Flüchtigkeit“ (ebd.: 621): Staatenlose „sterben, ohne eine gemeinsame Welt errichtet zu haben, in der jeder seine Spuren hätte hinterlassen können und die insgesamt der menschlich verständliche Ausweis ihrer Existenz hätte sein müssen“ (ebd.). Nichts – zumindest im Arendtschen Sinne – bleibt von ihnen, wenn sie sterben, nichts kann verhindern, dass sie ‘auf ewig’ „aus dieser weltlichen Wirklichkeit wieder verschwinden“ (Arendt 1960: 191) – es ist posthum geradezu, als seien sie nie ‘da’gewesen, als hätten sie nie existiert, als gäbe es gar kein posthum.
Und auch schon zu Lebzeiten kommt diese ihre „Standlosigkeit in der gesamten Menschenwelt“ letzlich einer „Überflüssigkeit“ gleich (Arendt 2013: 612), was ohne Zweifel große Risiken für ihr Leben birgt: Erstens aufgrund ihrer Rechtlosigkeit, denn „das Recht auf Leben wird erst in Frage gestellt, wenn die absolute Rechtlosigkeit – und das heißt, daß niemand sich bereit findet, Rechte für diese bestimmte Kategorie von Menschen zu garantieren – eine vollendete Tatsache ist“ (ebd.: 612); zweitens aufgrund ihrer Weltlosigkeit, denn „[i]hre Unbezogenheit zur Welt, ihre Weltlosigkeit ist wie eine Aufforderung zum Mord, insofern der Tod von Menschen, die außerhalb aller weltlichen Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stehen, ohne jede Konsequenzen für die Überlebenden bleibt“ (ebd.: 624). Und dies wiederum birgt eine Gefahr für die ‘Welt’ selbst: eine „Abstumpfung unseres Gewissens“ (Arendt 2011: 405):
Denn es könnte geschehen, daß es uns […] gar nicht mehr recht ins Bewußtsein dringt, daß überhaupt ein Mensch ermordet worden ist, wenn er praktisch vorher bereits aufgehört hat zu existieren. (ebd.)