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5. Beispiel „Flüchtlingskrise“ aus ethisch-politischer Sicht – ein notwendiger Widerstreit
ОглавлениеAm Beispiel der sogenannten „Flüchtlingskrise“ möchte ich auf das strukturelle Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen genauer zu sprechen kommen. Mein Argument lautet: Weder das Ethische noch das Politische dürfen aufeinander reduziert werden, sondern beide Sphären müssen in einem produktiven Austauschverhältnis bestehen bleiben, sei dieses im Einzelfall konflikthaft oder konsensuell auszubuchstabieren. Anders gesagt: Eine radikale oder unbedingte „Ethik der Gastfreundschaft“, wie sie wiederholt in Anschlag gebracht worden ist (Derrida 1997), ist angesichts einer drohenden rein ökonomisch-instrumentellen Betrachtung gesellschaftlicher Krisen notwendiger denn je. Diese wird allerdings nicht ausreichen, um die „Flüchtlingskrise“ adäquat in den Blick zu bekommen. Umgekehrt reicht es jedoch auch nicht aus, etwa im Sinne einer parlamentarisch organisierten Politik, für das Errichten von Grenzregimen einzutreten, um so Europa als „Wohlstandsinsel“ gegenüber fremden Ansprüchen abzusichern. Eine unbedingte Ethik der Gastfreundschaft darf sich nicht vollständig in Rechtsverhältnisse übersetzen lassen und somit Teil einer politischen Ordnung werden. Vielmehr muss eine „Ethik des Anderen“ gerade angesichts eines behaupteten Verschwindens des Anderen oder gar seiner „Austreibung“ (Han 2016) aufrechterhalten werden. Mittlerweile können wir wissen: In der „Flüchtlingskrise“ gibt es keine einfachen Lösungen:
Unrealistisch, ja geradezu irrational, weil von der empirischen Erfahrung bereits mehrfach widerlegt, ist dagegen die Vorstellung, die Flüchtlingskrise durch Abschottung zu lösen. Solange es so gut wie keine Möglichkeit gibt, sich für eine legale Einwanderung zu bewerben, und Flüchtlinge an keiner europäischen Außengrenze einen Asylantrag stellen können, werden sich sowohl Einwanderer als auch Flüchtlinge weiter in die Schlauchboote setzen […] (Kermani 2016: 51).
Heerscharen von Forschenden nehmen sich derzeit der Thematik Migration und Flüchtlinge an - und werden sich ihr weiter annehmen. Aus einer gesellschaftspolitisch-kritischen Sicht käme es darauf an, die ethische Dimension im Sinne einer Verantwortung und Gerechtigkeit für das Schicksal unschuldiger Menschen nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig dürfen die ethischen Impulse und Gefühle nicht in Recht und Gesetz überführt werden, weil dann droht, Ethik nur noch als Alibi oder als Ausrede zu instrumentalisieren. Aber auch rein politische Lösungen, die die ethische Dimension vernachlässigen oder für eine Versöhnung zwischen der Sphäre des Ethischen und des Politischen eintreten, erscheinen unbefriedigend, weil dadurch die Infragestellung der politischen Ordnung (und deren Lösungsvorschläge) qua Gesetz und Vorschriften droht verloren zu gehen.