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Ausschluss subalternes Urteilsvermögen
ОглавлениеWer bei denen „da unten“ mit reflektierendem Urteilsvermögen und im Ergebnis mit so etwas wie „Gerechtigkeiten von unten“ rechnet, der muss erklären können, warum dieses Urteilsvermögen in öffentlichen Diskursen ungehört bleibt und deshalb subaltern ist, warum „Gerechtigkeit von unten“ öffentlich nicht berücksichtigt wird und eben deshalb eine Gerechtigkeit „ … von unten“ ist. Nimmt man „Gerechtigkeit“ als eine umkämpfte Ressource in Positions- und Distinktionskämpfen, erklärt sich dies vor allem mit Bezug auf diejenigen, die in der Nutzung der Gerechtigkeit für ihre Zwecke erfolgreicher als diejenigen „da unten“ sind, deren Erfolg sich möglicherweise sogar der Entwertung des subalternen Urteilsvermögens verdankt. Erklärungen lassen sich aber auch mit Bezug auf das Urteilsvermögen derer „da unten“ und deren Urteilspraxis suchen (Honneth 2000).
Eine erste Erklärung zielt darauf, dass Urteilsakte immer ihre Anlässe haben: „Gerechtigkeit“ entsteht durch deliberativen und i.d.S. kollektiven Vollzug von Urteilsvermögen im öffentlichen Raum: Die Lebensverhältnisse in einer politisch konstituierten Gemeinschaft werden bewertet und eigene Interessen behauptet und mit den Bewertungen und Interessen anderer abgeglichen, daraus Forderungen für die sozialen Ordnungen gezogen. Die Anlässe, entsprechendes Urteilsvermögen öffentlich zu vollziehen, sind allerdings ungleich verteilt – und zwar proportional zu den Vorteilen, die einzelne und soziale Gruppen aus den Ordnungen ihrer politischen Gemeinschaft ziehen. Mit den Vorteilen wächst der Legitimierungsdruck und damit der Druck, in den politischen Auseinandersetzungen den Weg der Gerechtigkeit zu beschreiten und dazu eigene Interessen zu rechtfertigen. Weil ohne diese Vorteile geraten die „da unten“ nicht unter vergleichbaren Legitimationsdruck – und haben deswegen seltener Anlass, eigene Interessen als allgemeine Interessen auszuweisen.
Mehr noch: Sofern sie Leistungen der sozialen Fürsorge oder Sozialtransfers beziehen – und darin ihren Vorteil „haben“, geraten sie unter den gegensätzlichen Druck, die ihre Unterstützung legitimierenden Gerechtigkeitsvorstellungen loyal zu bedienen und sich selbst auf diese Vorstellungen hin und in deren Rahmen zu rechtfertigen. Sich den jeweils geltenden Gerechtigkeitsvorstellungen zu unterwerfen, ist für Menschen am unteren Rand der sozialen Ungleichheit auch deswegen attraktiv, weil sie dadurch Ansehen und Zugehörigkeit, zumindest die Aussicht darauf gewinnen. Nicht darüber, dass ihre Interessen auf dem Wege der „Gerechtigkeit“ aufgewertet werden, werden sie dann sozial integriert, sondern darüber, dass sie ihre Interessen einer ihnen fremden „Gerechtigkeit“ unterwerfen.
Das besondere Urteilsvermögen, eigene Interessen unter der Maßgabe der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit zu rechtfertigen, hat kognitive Voraussetzungen – und auf diese verweist die zweite Erklärung: „Gerechtigkeit“ kann man nur erzeugen, wenn man konkrete Situation transzendieren, wenn man zwischen (Un-)Zufriedenheit über jeweils besondere Lebenslagen und der Bewertung der sie beeinflussenden sozialen Verhältnisse unterscheiden oder wenn man die Veränderung sozialer Verhältnisse intendieren kann. Hinsichtlich dieser kognitiven Voraussetzungen ist zu erwarten, dass sozial Schwache gegenüber anderen benachteiligt sind, was nicht heißt: urteilsunfähig sind – und dass sie von daher auch weniger in der Lage sind, eigene Interessen auf dem Wege der Gerechtigkeit zu bringen. Ihr reflektierendes Urteilsvermögen ist aktiv; es bleibt aber, so ist zu erwarten, häufiger „unterhalb“ des Niveaus, auf dem ihr Urteilen als Gerechtigkeitsurteile auffällig und von anderen bemerkt wird.
Um den der „Gerechtigkeit“ eigenen Ansprüchen der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit genügen zu können, müssen Urteilende den jeweiligen Einzelfall transzendieren und jenseits von „Hier und Jetzt“ etwas Allgemeines erzeugen können. Diejenigen am unteren Rand der sozialen Ungleichheiten sind aber vergleichsweise stärker mit dem „Hier und Jetzt“ beschäftigt, sind damit beschäftigt fehlende Ressourcen auszugleichen, Solidaritäten zu mobilisieren und Schicksalsschlägen auszuweichen. Im Vergleich mit den Bessergestellten „stecken“ sie in ihren konkreten Situationen und haben wenig Anlass und Chancen, diese zu transzendieren. Sie werden ihre Situationen zwar bewerten; aber ihre Bewertungen werden sie nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in Vorstellungen der Gerechtigkeit überführen, die auch jenseits dieser konkreten Situationen Gültigkeit beanspruchen können.
Mit „Gerechtigkeit“ beziehen sich Urteilende auf die soziale Ordnung von sozialen Verhältnissen, die besonderen Lebenssituationen von einzelnen bestimmen, nicht aber determinieren. Eine solche Ordnung lässt sich unter dem Anspruch von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit verhandeln; hingegen lassen sich die besonderen Lebenssituationen von einzelnen zumindest in ihrer Komplexität weder unter die mit „Gerechtigkeit“ intendierten Allgemeinheit bringen, noch unter dem Anspruch der Allgemeingültigkeit bewerten. „Gerechtigkeit“ hat deshalb als kognitive Voraussetzung, zwischen der besonderen Situation und der sie bestimmenden, aber eben nicht determinierenden Ordnung sozialer Verhältnisse unterscheiden zu können, etwa nicht von der Zufriedenheit über seine Lebensverhältnisse auf die Gerechtigkeit der sozialen Ordnung zu schließen oder bei einer negativen Bewertung der eigenen Lebensverhältnisse diese nicht bereits für die Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse zu nehmen. Diese Differenzierungen dürften vor allem Menschen beherrschen, die ihre besonderen Lebensverhältnisse transzendieren können. Genau dies ist aber für sozial Schwache eher unwahrscheinlich, so die Bewältigung ihrer Lebensverhältnisse eine vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit verlangt. So aber sind sie einmal mehr darin benachteiligt, Urteile über ihre Lebensverhältnisse und ihre Interessen öffentlich auf das Niveau der „Gerechtigkeit“ zu bringen.
Gerechtigkeitsvorstellungen setzen voraus, dass allgemeine Interessen intendiert werden können und in der Folge die Ordnung der jeweiligen Situation auf diese Interessen hin verändert werden kann. Intendier- und Veränderbarkeit ist nicht nur eine pragmatische Voraussetzung, sondern mehr noch: eine kognitive Bedingung von „Gerechtigkeit“. Nur das, was als – in irgendeiner Weise – intendiert werden kann, lässt sich vernünftigerweise unter der Maßgabe der Gerechtigkeit prüfen. Unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten muss damit gerechnet werden, dass entsprechende Erwartungen bei sozialen Schwachen unwahrscheinlicher sind als bei anderen, die auf Grund ihrer Machtressourcen ihre sozialen Zusammenhänge nicht nur wirksamer beeinflussen können, sondern auch über entsprechende Erfahrungen verfügen und daraus entsprechende Erwartungen für die Zukunft ziehen. In dem Maße, wie unter sozial Schwachen nicht nur die Erfahrung von Veränderungen im eigenen Interesse, sondern auch die Erwartungen solcher Art von Veränderungen seltener ist bzw. sind, verfügen sie auch seltener über die Voraussetzungen, ihre Situationen als ungerecht und ihre Interessen als gerecht auszuweisen.
Ein Drittes kommt hinzu: Gerechtigkeitsvorstellungen bewegen sich innerhalb einer gemeinsamen, mit anderen geteilten Sprache, da nur auf dieser Grundlage allgemeine Interessen allgemeingültig ausgewiesen werden können. Eine gemeinsame Sprache ist aber nicht nur eine Ermöglichungsbedingung von „Gerechtigkeit“, sondern zugleich auch deren Grenze: Was in der gemeinsamen Sprache nicht als allgemein und allgemeingültig ausgesagt werden kann, kann prinzipiell auch nicht gerecht „gemacht“ werden. Auch die an unteren Positionen Stehenden haben an dieser Sprache Anteil; sie finden aber in dieser Sprache nicht die gleichen Möglichkeiten, ihre abweichenden Erfahrungen auszudrücken und ihre davon eingefärbten Interessen als allgemein behaupten und als allgemeingültig erweisen zu können. Zudem sind in dieser Sprache hegemoniale Gerechtigkeitsvorstellungen eingewoben, die sich ihnen in der Nutzung dieser Sprache „aufdrängen“ – und zwar auch dann, wenn sie den eigenen Interessen widersprechen.