Читать книгу Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik - Группа авторов - Страница 32
Reflektierendes Urteilsvermögen
Оглавление„Gerechtigkeit“ entsteht durch Urteilen. Mit ›urteilen‹ wird ein Denk- und Sprachakt bezeichnet, bei dem – für gewöhnlich – etwas Besonderes, hier etwa besondere Lebenslagen oder Situationen, unter eine Allgemeinheit, hier etwa allgemeine Interessen oder die Ordnung dieser und aller ähnlichen Situationen, gebracht wird. Zumindest wird bei Immanuel Kant Urteilskraft in diesem Sinne als dasjenige Vermögen ausgewiesen, „unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel stehe, oder nicht“ (KrV 171), bzw. „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KdU B XXV). Wenn auch nicht auf dem Feld der Politischen Philosophie, sondern als Ergänzung der theoretischen und der praktischen Vernunft unterschied Kant zwischen dem bestimmenden Urteilen, bei dem das Allgemeine bekannt und gegeben ist und das Besondere unter dieses Allgemeine subsumiert wird, und dem reflektierenden Urteilen, bei dem das Besondere gegeben und davon ausgehend das Allgemeine erhoben wird (KdU B XXVI). Was das moralische Urteilen angeht, führte Kant auf die Spur des bestimmenden Urteilens, sofern das Moralgesetz für ihn als Faktum der praktischen Vernunft gegeben, damit dem Besonderen und also dem Urteilen immer schon vorgegeben ist. Ohne sie deshalb von den Ansprüchen der Allgemeinheit und der Allgemeingültigkeit zu dispensieren, sollte man bei „Gerechtigkeit“ hingegen weniger auf das bestimmende Urteilen, stattdessen vielmehr auf das reflektierende Urteilen setzen. Zumindest wenn entsprechende öffentliche Diskurse nicht übermäßig vermachtet sind und mindestens hinreichend für unterschiedliche Interessengruppen offen sind, liegen allgemeine Interesse den Urteilsakten, also der Behauptung von Gerechtigkeitsvorstellungen und deren Rechtfertigung mit guten Gründen, nicht voraus, sondern sie entstehen in genau diesen Urteilsakten – und bestehen daher auch erst als deren Ergebnisse. Möglicherweise hatte Hannah Arendt genau Urteilskraft der reflektierenden Art als „das politischste der mentalen Vermögen des Menschen“ vor Augen, das „besteht in der Fähigkeit, Einzelnes (›particulars‹) zu beurteilen, ohne es unter solche allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können, bis sie zu Gewohnheiten werden, die durch andere Gewohnheiten und Regeln ersetzt werden“ (Arendt 1979: 36).
Dass man bei „Gerechtigkeit“ vor allem auf reflektierende Urteilen setzt, gilt zumal dann, wenn man an dem Urteilsvermögen derer interessiert ist, die in durch ungleiche Machtressourcen geprägten und anderweitig durch soziale Ungleichheiten bestimmten Verhältnissen eine untere Stellung einnehmen. Das, was Kant das bestimmende Urteil nannte, würde deren besondere Interessen und deren besondere Lebenslagen unter eine vorgegebene Allgemeinheit bringen. Diese ist vermutlich eine der öffentlich ausgehandelten und politisch wirksamen Gerechtigkeiten, auf die Subalterne gerade keinen Einfluss nehmen konnten. In einem bestimmenden Urteilsvermögen würde also der Ausschluss von denen „da unten“ aus den politisch wirksamen Gerechtigkeiten lediglich vollzogen und diese Gerechtigkeiten in das Urteilen der so Ausgeschlossenen vermittelt. Solch bestimmendes Urteilen wird es „da unten“ geben, etwa wenn sich diejenigen, die in dem Gefüge der sozialen Ungleichheiten an den unteren Rand gedrängt werden, genau die Gerechtigkeitsvorstellungen annehmen, mit denen dieses Gefüge legitimiert wird – und vielleicht gerade so ihre Benachteiligung „aushalten“.
Ist man aber nicht nur an dem Ausbleiben von Protest und Widerstand, sondern inhaltlich an den besonderen Urteilen derer „da unten“ interessiert, dann wird man auf deren reflektierendes Urteilsvermögen setzen – auf ihr Vermögen, ihre besonderen Lebenslagen und ihre Interessen unter den Anspruch der Allgemeinheit und Verallgemeinerung zu bringen und dabei die mit „Gerechtigkeit“ ausgesagte Allgemeinheit und intendierte Verallgemeinerung zu erzeugen. Nur in solch reflektierendem Urteilen entsteht eine „Gerechtigkeit von unten“ – in Differenz zu öffentlich ausgehandelten und politisch wirksamen Gerechtigkeiten und möglicherweise auch in Konfrontation zu diesen.