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Gerechtigkeit als politische Macht

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Einstellungen und Überzeugungen und andere Dispositionen des Denkens, Sprechens Fühlen und Wollens, damit auch das im Konzept „Gerechtigkeit“ zum Ausdruck kommende Urteilen reflektieren immer und mit Notwendigkeit die jeweils eigene Position im sozialen Raum. Mehr noch: Einstellungen und Überzeugungen und eben damit auch „Gerechtigkeit“ benutzen Akteure in ihren – um es mit Pierre Bourdieu zu sagen – Positions- und Distinktionskämpfen (Bourdieu 1976). Mit diesem sozialwissenschaftlichen Hintergrundwissen hält man „Gerechtigkeit“ für eine ungleich verteilte Ressource in einem durch Ungleichheiten bestimmten sozialen Raum – mit Ungleichheit schaffenden Wirkungen. Der Wert der „Gerechtigkeit“ ist davon abhängt, ob und in welchem Maß man sie für sich und Seinesgleichen, für die eigenen Interessen mobilisieren und gegen die Interessenlagen anderer okkupieren kann. Diese Sicht auf die „Gerechtigkeit“ ist äußerst plausibel, hat aber einen entscheidenden Nachteil: Man beraubt der „Gerechtigkeit“ ihre inklusiven Ansprüche, der sie ihren politischen Nutzen und damit auch den jeweils eigenen Nutzen in Positions- und Distinktionskämpfen verdankt. So entzaubert, kann „Gerechtigkeit“ nicht mehr sinnvoll gedacht werden, – und man kann sie politisch nur noch dann nutzen, wenn man verschweigt, was man über sie denkt, und zugleich hofft, dass hinreichend viele der anderen nicht ahnen, dass man mit „Gerechtigkeit“ nichts Sinnvolles denkt.

Trotz dieser und manch anderer Entzauberungen ist das Konzept „Gerechtigkeit“ für die politische Semantik zumindest der westlichen Gesellschaften bis heute konstitutiv. Mit langen Wurzeln vor allem in die griechische Antike hinein lassen sich – zumal in demokratischen Gesellschaften – Ordnungen sozialer Verhältnisse politisch nicht aushandeln, ohne dass die daran beteiligten Akteure ihre Vorstellungen und Forderungen mit Gerechtigkeitsvorstellungen qualifizieren und die von ihnen intendierten Ordnungen als gerecht behaupten. Dazu transzendieren sie eigene Interessenlagen, ohne diese zu leugnen, und weisen sie als ein – in welchem Verständnis auch immer – allgemeines Interesse aus. Dadurch, dass sie sich in Übereinstimmung mit allgemeinen Interessen behaupten, suchen sie Macht zu erzielen, nämlich ihre Chancen zu vergrößern, die eigenen Vorstellungen und Forderungen in den politischen Aushandlungsprozessen auch gegen Widerspruch durchzusetzen. Neben anderen Ressourcen ist „Gerechtigkeit“ damit eine besondere, dabei eigensinnige und anspruchsvolle Ressource der Interessenvertretung und -durchsetzung.

Auch wenn man „Gerechtigkeit“ nicht mit Moral und Menschenrechten, also nicht mit den darin ausgesagten unbedingten und allgemeinen Rechten und Pflichten gleichsetzt, wenn man stattdessen auch Werte und ähnlich partikulare und kontextuelle Überzeugungen und Einstellungen sowie Klugheitserwägungen als Quellen der Gerechtigkeit anerkennt, erwarten politische Akteure – und mit diesen auch Gerechtigkeitstheorien in der Politischen Philosophie, in den Theologien und anderen Disziplinen – von entsprechenden Urteilen erstens deren Allgemeinheit und zweitens deren Allgemeingültigkeit: Die jeweils als gerecht behauptete Ordnung von sozialen Verhältnissen ist nur dann gerecht, wenn sie nicht nur im Interesse eines Teils der davon Betroffenen, sondern in einem wie auch immer qualifizierten gemeinsamen Interesse aller davon Betroffenen und i.d.S. in einem allgemeinen Interesse ist. Diesem Anspruch genügt eine Gerechtigkeitsvorstellung aber nicht schon durch deren bloße Behauptung; „gerecht“ sind Gerechtigkeitsvorstellungen erst dann, wenn die Allgemeinheit, die behauptet wird, auch als gültig erwiesen werden kann. Dies gelingt durch Rechtfertigung der behaupteten allgemeinen Interessen mit guten Gründen – und zwar gegenüber (zumindest prinzipiell) allen, die zu der Allgemeinheit gehören, für die eine bestimmte Ordnung ihrer sozialen Verhältnisse als gerecht behauptet wird, wenn nicht sogar gegenüber (zumindest prinzipiell) allen, die von dieser Ordnung betroffen sind, selbst wenn sie dieser Allgemeinheit nicht angehören.

Mit diesen beiden Ansprüchen verspricht das Konzept „Gerechtigkeit“ die größtmögliche Inklusion der die jeweils unterstellte Allgemeinheit ausmachenden Menschen und – darüber hinaus – sogar von außenhalb stehenden „Dritten“. Versprochen wird nämlich, dass bei der Ordnung ihrer sozialen Verhältnisse ihrer aller Interessen gleichermaßen berücksichtigt werden. Gleichberechtigt anerkannt werden dann auch die Interessen derjenigen, die wegen fehlender oder zumindest geringerer Machtressourcen ihre Interessen ansonsten nicht gleichberechtigt verfolgen können und in diesem Sinne „schwache Interessen“ (Willems u.a. 2000, 39–110) haben. Deswegen gilt „Gerechtigkeit“ als die privilegierte Machtressource für die, die eine subalterne Stellung in von durch Machtungleichheiten geprägten Verhältnissen einnehmen. Obgleich ohne Geld und Einfluss, ohne Ansehen, Ämter und Beziehungen können sie ihre Interessen öffentlich als nicht nur eigene Interessen ausweisen und können auf diesem Weg ihre Interessen gegenüber den Interessen derer, die Geld und Einfluss, Ansehen, Ämter und Beziehungen „haben“, aufwerten. So können sie gegenüber jenen, womöglich sogar mit Unterstützung aus deren Kreisen, Macht aufbauen. Womöglich lassen sich gerade ihre Interessen besonders gut unter der Maßgabe der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit als allgemeine Interessen ausweisen. Denn – zumindest prima facie – stellen ihre besonderen Lebenslagen und ihre sozialen Positionen eine Benachteiligung gegenüber anderen und darin eine Verletzung allgemeiner Interessen dar; so aber liegt deren Verbesserung – zumindest prima facie – als Negation dieser Verletzung im allgemeinen Interesse.

Gerade weil das Konzept „Gerechtigkeit“ in politischen Arenen demokratischer Gesellschaften eine wirksame Ressource der Interessenvertretung und -durchsetzung ist, wird man dem integrativen Versprechen dieses Konzepts und mehr noch dem Versprechen misstrauen, dass sozial Schwache auf dem Wege der Gerechtigkeit ihre Interessen stärken und fehlende bzw. unzureichende Machtressourcen kompensieren können. Das eingangs angesprochene Hintergrundwissen holt uns wieder ein – und wir vermuten: In politischen Aushandlungsprozessen werden diejenigen, die etwa durch Geld oder Beziehungen größere Macht mobilisieren können, ihren Machtvorsprung – und nicht zuletzt ihr Geld oder ihre Beziehungen – dazu nutzen, Gerechtigkeitsvorstellungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Weil sie nicht nur gute Gründe, sondern auch ihre Machtressourcen bei der Rechtfertigung eigener als allgemeiner Interessen einsetzen können, wird die auf diesem Wege durchgesetzte Gerechtigkeit von vorgelagerten sozialen Ungleichheiten eingenommen. Die dem Konzept „Gerechtigkeit“ zugrundeliegende Rechtfertigungspraxis ist Wirkungsfeld genau dieser sozialen Ungleichheiten und der daraus resultierenden Ungleichverteilung von politischer Macht.

Die Okkupation der „Gerechtigkeit“ für starke Interessen drückt sich auch in der paternalistischen Vertretung von schwachen Interessen aus. Politische Akteure mit hinreichend großer Deutungsmacht deuten die Interessen derjenigen, die – weil ohne ausreichende Machtressourcen – ihre eigenen Interessen nicht wirksam verallgemeinern, deshalb eigene Vorstellungen und Forderungen nicht als gerecht erweisen, sich zumindest nicht erfolgreich gegen ihre paternalistische Vereinnahmung wehren können Auf diesem Weg werden schwache Interessen in den als allgemein behaupteten Interessen eingefügt und diese mit Hinweis gerade auf das Wohlergehen der paternalistisch Vertretenen verallgemeinert – und zwar ohne deren Zustimmung, gegebenenfalls sogar gegen deren ausdrücklichen Widerspruch. Eine solche Praxis der „Gerechtigkeit“ besiegelt Ungleichheiten gleich in zweifacher Weise: Akteure mit entsprechend großer Deutungsmacht und hinreichender öffentlicher Reputation verwehren denjenigen, die sich gegen die paternalistische Vereinnahmung ihrer Interessen nicht wehren können, die Möglichkeit, eigene Interessen in vergleichbarer Weise als gerecht zu erweisen; und sie schließen diese darüber hinaus aus dem Kreis derer aus, denen gegenüber sie die von ihnen behauptete Gerechtigkeit rechtfertigen müssen und auf deren Zustimmung sie angewiesen sind, soll ihre Rechtfertigung als ausreichend gelten.

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