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Gerechtigkeit von unten

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Ist es nach den bisherigen Überlegungen plausibel, dass Menschen in unteren Positionen ihr Urteilsvermögen öffentlich seltener vollziehen und dass ihre Gerechtigkeitsurteile öffentlich zumeist nicht vorkommen, dann ist es aber zugleich auch plausibel, dass unterhalb des Niveaus, auf der Gerechtigkeitsurteile öffentlich bemerkt und verhandelt werden, ein Urteilsvermögen der Subalternen besteht – und mehr noch: dass nicht nur ein entsprechendes Vermögen, an das man ansetzen und das man unterstützen kann, besteht, sondern dass dieses Vermögen vollzogen wird, wofür man sich dann auch inhaltlich interessieren kann. Bestehen aber jenseits der öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten solche „Gerechtigkeiten von unten“, dann wird vom Konzept „Gerechtigkeit“ in aller Öffentlichkeit ein exkludierender, zumindest ein diskriminierender Gebrauch genommen – und dies in Widerspruch zu dem diesem Konzept inhärenten inklusiven Versprechen. Obgleich „Gerechtigkeit“ unter den Ansprüchen von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit steht, entsteht sie unter Bedingungen der Exklusion – und mithin dadurch, dass die beiden Ansprüche der „Gerechtigkeit“ verletzt werden. Dieser Widerspruch schlägt auf die Geltung der öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten zurück – spätestens dann, wenn deren exkludierenden Bedingungen bewusst werden.

Dies ist eine beunruhigende Nachricht für Menschen in subalternen Positionen – und für all diejenigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, deren Sache zu ihrem Anliegen gemacht haben. Im Gegensatz zu Anderen finden Subalterne keinen funktionalen Ersatz für die der Gerechtigkeit zugeschriebenen Macht – und bleiben bei der Ordnung der sozialen Verhältnisse, die ihre Lebenslagen bestimmen, ohne Macht. Eine beunruhigende Nachricht ist dies aber auch für all diejenigen, die am Konzept „Gerechtigkeit“, aus welchen Gründen auch immer, als einer politischen Ressource in demokratischen Auseinandersetzungen interessiert sind. In dem Maße, wie „Gerechtigkeit“ hinsichtlich ihres inklusiven Versprechens desavouiert und wie diese Blamage öffentlich manifest wird, wird „Gerechtigkeit“, werden aber auch deren Surrogate als Werkzeug(e) zur Rechtfertigung von Interessen und deren politischen Durchsetzung unbrauchbar, mehr noch: Mit „Gerechtigkeit“ und deren Surrogate wird ein für demokratische Politik konstitutives Konzept in Zweifel gezogen. Daher liegt es nicht nur im Interesse von denen „da unten“, der „Gerechtigkeit“ in ihrem inklusiven Versprechen auf die Sprünge zu helfen und denen „da unten“ mit ihrem Urteilsvermögen Zugang zu den öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten zu verschaffen.

Auch für die wissenschaftlich betriebenen Ethiken sind die aus öffentlichen Diskursen exkludierte „Gerechtigkeiten von unten“ prekär: Zumindest wenn sie materiale Fragen bearbeiten, liegt ihre diskursive Rationalität außerhalb ihrer selbst, so die Gültigkeit von Urteilen und die Überzeugungskraft entsprechender Gründe – zumindest letztlich – nicht wissenschaftsintern erwiesen werden kann. „Bewahrheitet“ werden wissenschaftlich betriebene Ethiken nicht in ihren Wissenschaften, sondern erst in öffentlichen Diskursen. Dort müssen sich innerhalb der Wissenschaften bewährte Urteile und Begründungen ein weiteres Mal bewähren können – und werden erst dadurch in ihrer Geltung bestätigt. Bestehen aber Zweifel, ob in öffentlichen Diskursen die für das Konzept „Gerechtigkeit“ notwendige Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit überhaupt erreicht werden können, steht auch in Zweifel, ob wissenschaftlich betriebene Ethiken ihre Geltung erweisen können. Sich dann wegen der Exklusivität öffentlicher Diskurse mit einer wissenschaftsinternen Bewährung zufrieden zu geben, wäre keine überzeugende Lösung. Denn wissenschaftlich betriebene Ethiken werden die den öffentlichen Diskursen zugeschriebene Exklusivität mit eigenen Mitteln nicht kompensieren können, sondern werden – im Gegenteil – diese durch die den Wissenschaften eigenen Zugangsbarrieren potenzieren.

Die Exklusivität öffentlicher Diskurse können wissenschaftlich betriebene Ethiken allerdings gezielt ausgleichen. Weil sie ihre diskursive Rationalität in öffentlichen Diskursen „haben“, antizipieren EthikerInnen die Bewährung ihrer Ethiken in eben diesen und bereiten deren Bewährung mit entsprechenden Gründen gegenüber antizipierten Gegengründen und Einwänden vor. Mit den Mitteln ihrer Wissenschaften können sie dabei den Zugang zum Urteilsvermögen derer „da unten“ suchen und können deren Urteile über deren Lebensverhältnisse und deren Interessen auf das Niveau der in ihren Ethiken intendierten Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit bringen – oder aber sie daran kritisch beurteilen und sie zurückweisen. Je mehr EthikerInnen darüber wissen, wie Subalterne ihr Urteilesvermögen mit welchen Ressourcen und Behinderungen vollziehen, wie sie im Vollzug ihres Urteilsvermögens von anderen behindert werden und wie ihnen der Zugang zur „Gerechtigkeit“ erschwert und verwehrt wird, wird es möglich sein, diesen Zugang zu den „Gerechtigkeiten von unten“ auf dem Niveau wissenschaftlichen Argumentierens zu finden. Indem sich wissenschaftlich betriebene Ethiken Zugänge zum Urteilsvermögen der Subalternen verschaffen, deren Urteile in ihren eigenen Überlegungen berücksichtigen und diese schließlich öffentlichen Diskursen zur Bewährung „überlässt“, tragen sie die „Gerechtigkeiten von unten“ in die öffentlichen Diskurse ein. Entsprechend gestimmte Ethiken sind daher gegenüber öffentlichen Diskursen in besten Sinne aufklärerisch – und gegenüber Subalternen und ihren besonderen Gerechtigkeiten advokatorisch, ohne darin paternalistisch sein zu müssen. Sie tragen dazu bei, das dem Konzept „Gerechtigkeit“ inhärenten inklusiven Versprechen einzulösen.

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