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Gemeinheiten von unten

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Eine Erklärung für den neuen Rechtspopulismus mit all seinen Schäbigkeiten und Gemeinheiten ist schnell bei der Hand: Bei Wahlen und auf Pegida-Demonstrationen begehren die Deprivierten und die Ausgeschlossenen, die Verlierer der Modernisierung und der Globalisierung, die „zu kurz Gekommenen“ auf – und melden sich als „Wir sind das Volk“ gegen die „da oben“ zur Wahl und zu Wort. Wer sich den Rechtspopulismus so erklärt, der mag auch in die Gegenrichtung denken: Am unteren Rande der auch in der Bundesrepublik zunehmenden sozialen Ungleichheiten lebt es sich nicht nur schwerer. Dort wird auch mit größerer Wahrscheinlichkeit falsch gedacht: gemeiner, aggressiver auf den eigenen Vorteil bedacht und aggressiver gegenüber anderen, erst recht gegenüber den Fremden, den Konkurrenten um öffentliche Aufmerksamkeit und sozialstaatliche Leistungen. Zwar sei es eine Frage der Gerechtigkeit, die von Deprivation und Ausgrenzung Betroffenen zu unterstützen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Es sei aber gerade keine Frage der Gerechtigkeit, ihre Beurteilungen zur Kenntnis zu nehmen, sich ihre Einstellungen und Haltungen anzueignen und sich von diesen über deren Rechte aufklären zu lassen. Gerechtigkeit werden die, die so denken, für die „da unten“ projektieren, bestenfalls mit ihnen; diese Gerechtigkeit werden sie aber nicht mit ihnen denken, geschweige denn: von ihnen selbst denken lassen. Gerechtigkeit, genauer: der sich darin ausrückende Urteilsakt findet – so die Erwartung – am unteren Rande der sozialen Ungleichheit nicht, zumindest nicht richtig statt.

Diese Ignoranz gegenüber dem politischen Urteilsvermögen derer „da unten“ besteht zumeist auch dort, wo in den unterschiedlichen Wissenschaftsdiziplinen Ethik betrieben und wissenschaftlich-elaboriert über Gerechtigkeit nachgedacht wird. Sofern dabei Fragen der sozialen Ungleichheit im Fokus stehen, sind die, die an deren unteren Rändern leben müssen, bestenfalls die intendierten Profiteure entsprechender Bemühungen, möglicherweise auch die „Mandanten“, in deren ungegebenem Mandat diese Bemühungen vollzogen werden. Sie sind aber in der Regel nicht die „ersten Denker“ der Gerechtigkeit, die in ihrem Namen wissenschaftlich gedacht wird. Mehr noch zeigt sich diese Ignoranz, wenn bei all den dringlichen Themen die damit zusammenhängenden Fragen der sozialen Ungleichheit erst gar nicht in den Fokus geraten, – und dann erst recht nicht auf die Stimme derer am unteren Rand gehört wird.

Dagegen hat man sich den Sozialwissenschaften – u.a. im Rückgriff auf Arbeiten von Judith Shklar, Barrington Moore oder Axel Honneth – um das Urteilsvermögen derer „da unten“ bemüht (vgl. Rieger-Ladich 2015). Zum Beispiel erforschte François Dubet (2008) die Expertise von Beschäftigten über die Ungerechtigkeiten an ihren Arbeitsplätzen. Den Einfluss von biografischen Erfahrungen auf das Urteilsvermögen der erfahrenen Individuen hat Sylvia Terpe (2009) erkundet und dabei einige Erfahrungen als Ressource, andere hingegen als Barriere der Gerechtigkeit entdeckt. In diesen Untersuchungen werden Menschen, die am unteren Rande der sozialen Ungleichheiten bestehen, nicht zu Heroen der Gerechtigkeit stilisiert. Jedoch wird ihr Urteilsvermögen ob der Ungerechtigkeit ihrer Lebensverhältnisse aufgeklärt – und ihnen dadurch ein solches Urteilsvermögen ausdrücklich zugestanden. Um das Urteilsvermögen der Subalternen in den Pariser Banlieues zu aktivieren, haben Pierre Bourdieu und seine KollegInnen geeignete Gesprächskonstellationen geschaffen – und die dadurch provozierten Erzählungen ihres alltäglichen Leidens und deren Beurteilung in „Das Elend der Welt“ (Bourdieu 1997) dokumentiert.

Urteilen die „da unten“ über ihre Lebensbedingungen und ihre Positionen am unteren Rande und wird dieses Urteilen mit sozialwissenschaftlicher Unterstützung manifest, dann werden auch wissenschaftlich betriebene Ethiken auf entsprechende Nachweise dieses subalternen Urteilsvermögens verwiesen. Die Ignoranz in diesen Ethiken geht nämlich nur solange durch, als das Ignorierte nicht bewusst und die Ignoranz nicht auffällig wird. Das gilt zumal für die im Rahmen der christlichen Theologien betriebenen Ethiken, so diese unter dem Diktum der durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie durchgesetzten „Option für die Armen“ stehen. Mit dieser Option werden die „Armen“, wer auch immer damit gemeint sind, nicht nur als Adressaten eines parteiischen Gottes ausgezeichnet, sondern zugleich als die ersten TheologInnen des ebenso parteiischen Glaubens an diesen Gott. Was es aber heißt, dass die „Armen“ die ersten „Denker“ einer unter der „Option für die Armen“ stehenden Ethik ist, darauf hat man bislang keine belastbaren Antworten geben können, – wenn man sich denn überhaupt entsprechende Fragen gestellt hat.

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