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Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit: Die Recht- und Weltlosigkeit der Staatenlosen

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Hannah Arendt erkannte früh, noch während der Zweite Weltkrieg in seinem vollen, furchtbaren Gange war, und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Fluchterfahrungen sowie der Erlebnisse ihrer Bekannten und Freund_innen, dass sich, auch abseits des deutschen Vernichtungskrieges, eine sozio-politische Entwicklung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen hatte (siehe z.B.: Arendt 1989a, 1989b): Bereits im Jahre 1943 konstatierte sie in ihrem Aufsatz „Wir Flüchtlinge“, dass „die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen“ habe (Arendt 1989b: 8f.). Zwar waren ihre Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt noch allein – bzw. mindestens vorrangig – auf jüdische Menschen respektive die, die von der nationalsozialistischen Administration als solche kategorisiert worden waren, bezogen (vgl. ebd.: 21); es schienen hier jedoch schon Einsichten auf, die Arendt (2011, 2013: Kap. 9) in Hinblick auf das ‘generelle’ Phänomen der Staatenlosigkeit erst Jahre später einer historischen wie systematischen Analyse unterziehen sollte. Unter anderem als Reaktion auf die 1948 durch die Generalversammlung der Vereinen Nationen verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erschien nur ein Jahr später, 1949, Arendts bahnbrechender Aufsatz „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in welchem zum ersten Mal ihre berühmte Formel vom „Recht, Rechte zu haben“ auftauchte (Arendt 2011). In ihrem 1951 veröffentlichten Großwerk The Origins of Totalitarianism (1955 erstmals in deutscher Sprache als Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft), griff Arendt (2013: Kap. 9) diesen Ansatz dann erneut und in vertiefter Weise auf.

Den maßgeblichen Ausgangspunkt von Arendts (2011, 2013: Kap. 9) historisch-empirischer Untersuchung der sozio-politischen Genese der Staatenlosigkeit bildet die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, mit dessen Ende auch die letzten Vielvölkerstaaten zusammenbrachen und der moderne Nationalstaat sich anschickte, seinen Triumphzug als (bis heute) hegemoniale Form gesellschaftlicher Organisation zu Ende zu führen. Auf diesen Krieg folgte eine Reihe an sozio-politischen wie sozio-ökonomischen Krisen (Inflationen, Massenarbeits- und -erwerbslosigkeit, zahlreiche blutige Bürgerkriege, Pogrome etc.), die schließlich im Zweiten Weltkrieg kulminierten (Arendt 2013: 559f.). Im Zuge dieser Entwicklungen wuchs die Zahl der aus ihrer ‘Heimat’ Vertriebenen und/oder Fliehenden sukzessive an, sodass „mehr und mehr Menschen in Situationen gerieten, die weder von dem politischen noch von dem gesellschaftlichen herrschenden System vorhergesehen waren“ (ebd.: 560). Es waren exakt jene Menschen, die es, gerade weil die internationale Staatenwelt keine sie betreffende Regel kannte, gerade weil solche Menschen aus der Perspektive einer nationalstaatlich ‘sauber’ geordneten Welt eigentlich gar nicht vorstellbar waren, gar nicht hätten existieren dürfen; Menschen, die, bar jeglicher Staatsbürger_innenschaft, innerhalb des internationalen Staatensystems mindestens de jure scheinbar gar nichts und niemand mehr waren:

Wen immer die Ereignisse aus der alten Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat, auf der die Nation geruht hatte, herausgeschlagen hatten, blieb heimat- und staatenlos; wer immer einmal die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert waren, verloren hatte, blieb rechtlos. (ebd.)

Nicht ihre Flucht oder Migration per se waren historisch ‘neue’ Phänomene, sondern dass diese Menschen im Anschluss keinen ‘Platz’ auf der nationalstaatlich geordneten politischen Landkarte mehr finden konnten. Diese „Unmöglichkeit, eine neue [Heimat] zu finden“ (ebd.: 607f.) war allerdings keine praktische, sondern vielmehr eine theoretisch-juridische, die sich aus der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Verrechtlichung des internationalen Staatensystems ergab: es „war kein Raumproblem, sondern eine Frage politischer Organisation“ (ebd.: 608). Durch ihre Flucht erschufen sich die Staatenlosen vor dem Hintergrund des internationalen Staatensystems – quasi performativ – selbst als die oben genannte „neue Gattung von Menschen“ (Arendt 1989b: 8f.), die aufzufangen bzw. wieder aufzunehmen die internationale Staatenwelt bestenfalls rechtlich nicht in der Lage, schlechtestenfalls nicht gewillt war. Das spätestens seit der Antike – zumindest hinreichend – gängige Asylwesen/-recht brach aufgrund der schieren Zahl der Flüchtlinge und Staatenlosen, ihrer (politischen) Unschuld – sie waren ja nicht im eigentlichen Sinne politisch Verfolgte –, sowie der vorangeschrittenen internationalen Verrechtlichung zusammen (Arendt 2013: 383f., 586f., 609f.). Wer als Staatenlose_r also ihre/seine Staatsbürger_innenschaft und damit ihren/seinen legalen Status verloren hatte, hatte diesen im doppelten Wortsinne global verloren, da „wer nicht mehr in das Netz internationaler Gegenseitigkeitsverträge gehört, weil für ihn keine Regierung und kein nationales Gesetz zuständig ist, aus dem Rahmen der Legalität überhaupt herausgeschleudert ist und aufgehört hat, eine juristische Person zu sein“ (ebd.: 609).

Vor diesem Hintergrund sieht Arendt in den gängigen juristischen Kategorien „Flüchtlinge“, „de jure“ und „de facto Staatenlose“ nichts als ‘Taschenspielerei’: Nach dieser ‘Logik’ hätten die Flüchtlinge schlicht repatriiert werden, während den Staatenlosen simplerweise ein neuer Staat hätte zugewiesen werden müssen, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Jedoch fand sich bezüglich der Staatenlosen schlichtweg kein Staat, der sie hätte aufnehmen und somit, juristisch gesprochen, (neu) ‘patriieren’ bzw. ‘naturalisieren’ wollen, und ebenso schwierig gestaltete sich die ‘Repatriierung’ der Flüchtlinge, weshalb sie in der Konsequenz allesamt de facto staatenlos blieben (ebd.: 582f.). Das lag zum einen daran, dass „alle Flüchtlinge praktisch staatenlos sind und nahezu alle Staatenlosen faktisch Flüchtlinge waren“ (ebd.: 582), und zum anderen, „[w]as die Repatriierung anlangt, […] ihre Unmöglichkeit ja gerade das [ist], was legal den Flüchtling konstituiert“ (ebd.: 583, Fn.: 20). Denn ‘Repatriierung’ bedeutete im Falle der Staatenlosen ja nicht mehr – oder eben weniger –, als die „Rückverweisung in ein »Heimatland«, das entweder den Repatriierten nicht haben und als Staatsbürger nicht anerkennen will oder umgekehrt ihn nur allzu dringend zurückwünscht, weil er ein Flüchtling ist“ (ebd.: 579). Insofern subsumiert Arendt die Kategorie der „Flüchtlinge“ letztlich unter die der „Staatenlosen“ (ebd.), genauso wie sie die Unterscheidung zwischen de jure und de facto Staatenlosen für sinnlos bzw. hinfällig erachtet: ihr geht es nicht um die juristische ‘Faktenlage’, sondern um die tatsächliche Lebenswirklichkeit und -praxis, also nicht darum, ob jemand im rechtmäßigen Besitz eines Passes – und damit de jure einer Staatsbürger_innenschaft – ist, sondern darum, ob diese Person ebendiese Staatsbürger_innenschaft de facto, mit allen für sie konstitutiven Rechten und Pflichten, auch effektiv wahrnehmen und aktualisieren kann bzw. könnte. Der Besitz eines Passes, der einen Menschen dazu schlicht nicht ermächtigt, weil der entsprechende Staat diesen Menschen dazu schlicht nicht ermächtigt, ist der Besitz eines wert- und inhaltslosen Stückes Papier oder sonstigen Materials, insofern es in diesem Fall vollkommen unerheblich ist, ob ich ‘Papiere habe’ oder nicht habe, also ein buchstäblicher sans papiers bin.

In der Konsequenz ist der de facto-Verlust der Staatsbürger_innenschaft also gleichbedeutend mit dem Verlust der Menschenrechte: Arendt (ebd.: 621) zieht die „Parallele zwischen dem Naturzustand, in dem es »nur« Menschenrechte gibt, und dem Zustand der Staatenlosigkeit, in welchem alle anderen Rechte verlorengegangen sind“, um aufzuzeigen, dass beide Zustände, zumindest in Bezug auf die in sie versetzten Subjekte, letztlich identisch sind; dass also dort, wo Menschen sich ‘nur noch’ auf die Rechte berufen können, auf die sie allein aufgrund der bloßen Tatsache ihres Menschseins Anspruch haben sollen, überhaupt keine Rechte mehr existieren, dass diese Menschenrechte, welche Menschen vorgeblich qua Geburt bzw. ‘Natur’ zuteil werden, letztlich ‘leer’ bzw. nichtexistent sind. Die Staatenlosen, die durch den Verlust einer effektiven Staatsbürger_innenschaft in diesen vermeintlichen ‘Naturzustand’ versetzt wurden, konnten am eigenen Leib und Leben in Erfahrung bringen, „daß die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins ihre größte Gefahr war“ (ebd.: 620). Ebenjene „abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins“ hätte jedoch eigentlich hinreichen müssen, sie für die Inanspruchnahme ‘der’ Menschenrechte zu qualifizieren. Folglich, so Arendt, hat

Staatenlosigkeit in Massendimensionen […] die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heißt Rechte, die unabhängig sind von jedem besonderen politischen Status und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen. (ebd.: 607)

Da dies nachweislich nicht der Fall war, bleibt Arendt (ebd.: 619f.) nur – quasi als logische Konsequenz –, den allgemeinen Zusammenbruch der Menschenrechte zu konstatieren. Denn was Staatenlosigkeit laut Arendt (2011, 2013: Kap. 9) generell kennzeichnet ist ein Zustand absoluter Recht- und Weltlosigkeit, wobei Rechtlosigkeit eine spezifische Form politisch-rechtlicher Deprivation konstituiert, während es sich im Falle der Weltlosigkeit um eine Form existenzieller Deprivation handelt, die erst vor dem Hintergrund von Arendts ‘breiterer’ philosophischer Position bzw. politischer Theorie besser verständlich wird. Als Konsequenzen der Staatenlosigkeit sind Recht- und Weltlosigkeit eng miteinander verwoben; aus Arendtscher Perspektive muss die Weltlosigkeit der Staatenlosen notwendigerweise auf ihre Rechtlosigkeit folgen bzw. mit ihr einhergehen, und ist, wie sich zeigen wird, noch weithin gravierender als Rechtlosigkeit dies ohnehin schon ist.

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