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Kultur – Kulturen – kulturelle Prägung

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Man kann sich ewig streiten über den Begriff der Kultur und ihn auf sehr unterschiedliche Weise definieren. In der Fachliteratur spricht man von über „einhundertfünfzig Kulturbegriffe(n) aus Ethnologie und Anthropologie“ (Ort 2003: 23). Dabei existieren Welten zwischen deterministischen Modellen wie der Systemtheorie von Luhmann, in der Kultur lediglich als „Gedächtnis der sozialen Systeme“ (ebd.: 30) betrachtet wird, und der Tradition der verstehenden Soziologie, in der Kultur „das von den Mitgliedern einer Gesellschaft selbst gesponnene Bedeutungsgewebe ist“ (ebd.: 34). Im ersten Fall ist das Individuum eher machtlos gegenüber bestimmten kulturellen Abläufen und Gesetzmäßigkeiten, im zweiten kann der Mensch in Interaktion mit anderen Individuen durch gezielte Handlungen Einfluss auf die allgemeine kulturelle Entwicklung nehmen. Zwischen diesen beiden Polen wurden im Laufe der Geschichte alle möglichen Aspekte und Nuancen des Phänomens Kultur behandelt und beschrieben. Allerdings wurde bei keinem Versuch die Diffusität des Begriffes aufgehoben, durch keine Definition und keinen kulturtheoretischen Ansatz. Dennoch ist es möglich, sich aus der Fülle der Theorievorschläge einiger zu bedienen, die für das hier behandelte Thema fruchtbar sind. Vier erscheinen mir besonders geeignet. Ich werde sie im Folgenden vorstellen.

Als erste sei die Habitustheorie von Pierre Bourdieu (1979; 1983) genannt, die ein hervorragendes Analyseinstrument liefert, das wiederum für das Verstehen von Begegnungen im öffentlichen Raum hilfreich ist. Habitus ist für Pierre Bourdieu ein Dispositionssystem der sozialen Akteure, welches das Fundament ihrer sozialen Praxis darstellt und ihr Verhalten in der Öffentlichkeit steuert. Wie die Menschen ihre gesellschaftliche Praxis gestalten, also wie sie ihre Umwelt wahrnehmen, erfahren, erkennen und in ihr agieren, steht immer in unmittelbaren Zusammenhang mit ihrem Habitus. Habitus bedeutet nicht nur Disposition, sondern gleichzeitig auch „Haltung, Erscheinungsbild, Gewohnheit, Lebensweise“ (Schwingel 1998: 54) bzw. „Körperhaltung, ästhetische Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster (‚Geschmack‘), die sich vor allem als ‚Aversion‘ äußern, soziale Wahrnehmungsmuster und Haltungen und schließlich kognitive und normative Deutungsmuster“ (Lutz 1991: 41). Habitusformen sind also dauerhafte Dispositionen bzw. inkorporierte Programme der sozialen Akteure, die sich in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen. Sie sind nur schwer und langsam veränderbar, weil sie Produkt der Geschichte sind, in der die aktive Präsenz früherer Erfahrungen eine zentrale Rolle spielt (vgl. Bourdieu 1993: 101). Die Berücksichtigung der Theoriekomponente Habitus im Sinne von Pierre Bourdieu ist ein wichtiger Schlüssel zur Deutung der Grammatik von Kulturen-Begegnungen im öffentlichen Raum. Denn im öffentlichen Raum werden immer wieder nur solche Personen geduldet, die den „adäquaten Habitus aufweisen“ (Kuhn 2016: 220). Dies ist nicht zufällig, denn „öffentlicher Raum ist immer auch exklusiver Raum. Verschiedene Städte in verschiedenen historischen Epochen unterscheiden sich vor allem darin, wer auf welche Weise aus welchen Räumen draußen gehalten wird: Heute sind es Obdachlose, Drogenabhängige und Gruppen ausländisch wirkender, männlicher Jugendlicher. Im 19. Jahrhundert waren es Frauen und das Proletariat“ (Siebel zit. nach Kuhn 2016: 213).

Der zweite Theorievorschlag findet sich in den Arbeiten des in seiner Zeit bekannten „Center for Contemporay Cultural Studies“ (CCCS) in Birmingham, der für das Verstehen von Begegnungen im öffentlichen Raum ebenfalls fruchtbar für die Praxis angewandt werden kann: im CCCS verstand man unter Kultur „eine Art historisches Reservoir – ein vorab konstituiertes Feld der Möglichkeiten – das die jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen aufgreifen, transformieren und weiterentwickeln. Jede Gruppe macht irgendetwas aus ihren Ausgangsbedingungen, und durch dieses Machen, durch diese Praxis werden kulturelle und gesellschaftliche Bedeutungsmuster reproduziert und vermittelt. Aber diese Praxis findet nur in dem gegebenen Feld der Möglichkeiten und Zwänge statt“ (Clarke 1979: 41). Mit der gebotenen Vorsicht impliziert dies für jede gesellschaftliche Gruppe potentiell die mögliche Einflussnahme auf die allgemeinen Normen und Werte in einem Gemeinwesen. Aus diesem Grund wurden Subkulturen in den Analysen des CCCS nicht als Übel, sondern als „Ort des Widerstandes und der produktiven Aneignung potentiell mehrdeutiger Inhalte angesehen“ (Lutter / Reisenleitner 2001: 36). Diese Sichtweise passt besonders gut zur kritischen Betrachtung von Vielfalt im Sinne kultureller Interaktionen, Begegnungen, Konflikte und Emergenz neuer kultureller Ausdrucksformen im öffentlichen Raum, in dem man wie nirgendwo sonst das kreative und z. T. krude Aneinanderreiben einander fremder Kulturen beobachten kann. Dabei sind eben diese Reibungen als „gesellschaftliche Verständigungs- und Aushandlungsprozesse und als solche systemimmanent und funktional notwendig“ zu betrachten (Keding 2009: 38).

Neue kulturelle Erscheinungen bzw. Verhaltensweisen, die mit der Vielfalt und Diversität im Öffentlichen Raum aufkommen, weichen manchmal erheblich von den vorherrschenden Mustern ab, was die Anpassungsprozesse durch Konflikte im öffentlichen Raum begründet. Hier kommen wir zur dritten Analysebrille und damit zu einem ursoziologischen Thema: dem abweichenden Verhalten. Die Frage ist dabei nicht, ob abweichendes Verhalten normal ist, schließlich wissen wir spätestens seit Emil Durkheim um die strukturelle Normalität des abweichenden Verhaltens, weil es eben keine funktionierende Gesellschaft ohne abweichendes Verhalten geben kann. Das Ziel der Schaffung einer kriminalitätsfreien Gesellschaft ist so gesehen nicht nur unrealistisch, sondern im Sinne einer integrierten, sich entwickelnden Gesellschaft auch nicht hilfreich für diese (vgl. Durkheim 1984: 155 ff.). Durkheim geht noch weiter und stellt fest, dass das abweichende Verhalten von heute durchaus die Norm von morgen sein kann. Die Kulturgeschichte der Menschheit ist die permanente Bestätigung dieser Logik. Aktuell braucht man nur auf die Entwicklung der allgemeinen Haltung gegenüber unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen hinzuweisen. Also geht es bei neuen kulturellen Erscheinungen im öffentlichen Raum nicht um das konservative Lamentieren über eine unbekannte soziale Grammatik des Alltagslebens im öffentlichen Raum, sondern um den möglichst fruchtbaren Umgang damit, also um die Integration der diversen neuen kulturellen Phänomene. Bevor ich mich aber dem Begriff der Integration widme, gehe ich auf eine für das Thema Kultur weitere relevante Theoriekomponente ein.

Auf dem Weg zur Integration unterschiedlicher kultureller Muster ist die vielleicht größte Hürde das, was Herbert Marcuse in den 1960er-Jahren unter der Formel „affirmativer Charakter der Kultur“ subsumiert hat. Hierbei geht es darum, dass sich bestimmte bürgerliche Vorstellungen über „gute Kultur“ trotz permanenter kultureller Umwälzungen und Modernisierungsprozesse hartnäckig erhalten. Diese Vorstellungen von „guter Kultur“ beeinflussen wiederum bewusst oder unbewusst auch Multiplikatoren/innen, Politiker/innen, Sozialarbeiter/innen und deren Konzepte für die Praxis einer Integrationsarbeit. Insofern handelt es sich dabei nicht nur um eine abstrakte Ideologie, sondern vielmehr um eine verbindliche Orientierung für ein konkretes Handlungsinstrumentarium im Dienste von Kultur-, Sozial- und Integrationspolitik. Dazu Marcuse: „Unter affirmativer Kultur sei jene der bürgerlichen Epoche angehörige Kultur zu verstehen, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum ‚von innen her‘, ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann“ (Marcuse 1965: 63). Es versteht sich dann von allein, dass die auf einer solchen Grundlage entwickelte Praxis, ob politisch, sozial oder pädagogisch motiviert, sich normativ an den von der herrschenden Kultur als gut definierten Verhaltensweisen orientiert, und sich verpflichtet fühlt, vermeintliche Abweichungen davon zu korrigieren, z. B. bei Migranten. Ein solcher Ansatz sorgt allerdings nicht nur disziplinierend für die Aufrechterhaltung von tradierten Machtverhältnissen entlang der Demarkationslinie Einheimische/Fremde ohne Rücksicht auf die Authentizität und Legitimität fremder Kulturen, er wirkt dadurch gleichzeitig kontraproduktiv auf die etablierten Kulturen selbst, denn eine Kultur, die sich nicht an neue gesellschaftliche Bedingungen anpasst, wird den unter anderem durch Migrationsbewegungen kommenden Herausforderungen nicht standhalten.

Fassen wir rekapitulierend die vier wichtigsten Bausteine zum Thema Kultur in Zusammenhang mit der Vielfalt im öffentlichen Raum zusammen. Jeder Mensch hat im Laufe seiner Geschichte einen Habitus entwickelt, der ihm als Orientierungssinn „hilft, sich innerhalb der sozialen Welt im allgemeinen und spezifischer Praxisfelder im Besonderen zurechtzufinden“ (Schwingel 1998: 57), besonders in der Öffentlichkeit. Wichtig dabei ist die Tatsache, dass ein Habitus sich nur langsam verändern kann. Habitus entwickelt sich innerhalb eines soziokulturellen Kontextes, auf einem Feld der Möglichkeiten, auf dem alle kulturellen Erscheinungen durch die Praxis diverser Gruppen transformiert und weiterentwickelt werden können. Diese weiteren Entwicklungen, weil sie neu sind, stellen oft vermeintlich bedrohliche Abweichungen innerhalb der etablierten Kultur mit ihrem affirmativen Charakter dar. Zwei Möglichkeiten bieten sich in dem Fall an: die Bekämpfung bzw. Disziplinierung der neuen und möglicherweise abweichenden kulturellen Phänomene oder ihre Integration.

Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht

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