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Anonymität im öffentlichen Raum

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Der Grad der Anonymität im öffentlichen Raum nimmt mit der Größe des Ortes zu. In einem Dorf sind die sozialen Verflechtungen oft so eng, dass die Individuen sich selten als Unbekannte begegnen, sondern meistens als Menschen, deren Status als Angehörige einer bestimmten Familie oder als Teil eines Beziehungssystems zugewiesen bzw. bekannt sind. Das ist die Grundlage der sozialen Kontrolle, welche die Atmosphäre für das öffentliche Leben bestimmt. Kaum jemand kann sich im öffentlichen Raum eines Dorfes ungestraft den expliziten oder impliziten Regeln des Miteinanders widersetzen. Nicht so in der Stadt, in der die Anonymität charakteristisch für den öffentlichen Raum ist. Hier halten sich Menschen auf, begegnen sich, interagieren eventuell flüchtig miteinander, ohne sich zu kennen, ohne erkennbare Bindungen oder Verpflichtungen. Wir erfahren in der Regel über die optisch wahrnehmbaren Unterschiede hinaus wenig über die diversen Akteure im öffentlichen Raum. Wer sie sind, woher sie kommen, wo sie hinwollen, ihre Ziele und Absichten, alles ist offen, denn der öffentliche Raum steht allen Menschen zur Verfügung, mit den weiter oben erwähnten Einschränkungen ist er für alle Menschen zugänglich, es ist also gleichzeitig der Ort, in dem die ganze Vielfalt, welche die Menschen auszeichnet, sich begegnen kann und dies auch tut. Stadtsoziologisch spricht man hier von einer unvollständigen Integration (vgl. Bahrdt 1961: 39 ff.). Dies sagt nun nichts über den realen gesellschaftlichen Integrationsgrad der einzelnen Individuen, ob systemisch, kulturell, sozial oder identifikatorisch (siehe weiter oben), sondern nur, dass dieser Integrationsgrad sich nicht von selbst erschließt. Selbstverständlich haben alle Individuen, die sich im öffentlichen Raum begegnen, einen Status, sie sind im Sinne von Pierre Bourdieu (1979) mit diversen Kapitaltypen ausgestattet, haben also ein gewisses Bildungsniveau, besitzen bestimmte Kompetenzen und eine gewisse Kaufkraft, sie haben Familie und Freunde, sie verkehren in bestimmten Milieus, kurz, sie haben ein eigenes komplexes Leben, das man auf den ersten Blick selten erahnen kann. Die gesellschaftlichen Rollen der Akteure bleiben im öffentlichen Raum verborgen, es sei denn, Statusattribute werden durch Kleidung oder Accessoires symbolisch zur Schau gestellt, wie in Jugendkulturen, politischen Bewegungen oder Religionen immer wieder üblich. Ein Status kann sich auch durch diverse Handlungen wie betteln, musizieren, Flugblätter verteilen, teilweise oder umfassend vermitteln. Ein Gruppenauftritt gepaart mit starken symbolischen Signalen und spezifische Handlungen – ein Extrembeispiel wären die missionierenden Auftritten der religiösen Gruppe Hare-Krischna oder jede andere Art von Demonstration – ist wiederum die Affirmation einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit wie Glaube oder Ideologie der Teilnehmenden, hebt aber die Anonymität der Individuen dieser Gruppe keinesfalls auf, sondern verstärkt sie noch, da die Individuen in der Gruppe sozusagen identifikatorisch verschmelzen. Der Effekt, dass Außenstehende die Einzelnen in der Gruppe nur als Angehörige dieser Gruppe wahrnehmen und ihnen bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweise unterstellen, ist gewiss nicht diskriminierend, sondern von den Betroffenen beabsichtigt, es ist vielmehr der eigentliche Sinn der Veranstaltung.

Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht

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