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Philologie der Mehrsprachigkeit
ОглавлениеMit dem Begriff der Mehrsprachigkeit ist – über die hier aufgeführte, analytische Unterscheidung von manifester und latenter Mehrsprachigkeit, von Sprachwechsel und Sprachmischung hinaus – vor allem eine grundlegende sprachtheoretische Perspektive aufgerufen. Sie hat weitreichende Implikationen für das Verständnis von Sprache und Literatur überhaupt und wird seit einigen Jahren in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft unter dem Stichwort einer Philologie der Mehrsprachigkeit verhandelt.1
Mehrsprachigkeit beschreibt hier nicht mehr einen Sonderfall oder eine spezielle Konstellation, die es gegenüber dem vermeintlichen Normalfall der Einsprachigkeit zu erklären gelte. Vielmehr ist im Anschluss an Michail BachtinBachtin, Michail, der in gewissem Sinne als Vorläufer der Mehrsprachigkeitsphilologie erscheint, davon auszugehen, dass das „gesellschaftliche Leben des Wortes“2 immer mehr als eine Sprache involviert. Ob in der Redevielfalt des Alltags, im vielfältigen Schriftverkehr oder in der Literatur: Mehrsprachigkeit ist der modus operandi des Sprechens und Schreibens und impliziert eine andauernde Bewegung, die sich linguistischen Normen durchaus entzieht und gerade im literarischen Text immer neue Formen ausprägt.3
Erst vor diesem Hintergrund wird die Vorstellung, dass es eine, und nur eine Sprache geben soll, als das spezifische sprach- und literaturpolitische Paradigma der europäischen Moderne erkennbar.4 Im Umkehrschluss stellt die Perspektive der Mehrsprachigkeit damit nicht nur die Abgrenzung einzelner Sprachen in Frage, sie hinterfragt auch die normative Zuschreibung von Gattungs- und Geschlechtergrenzen sowie von Autorschaftskonzepten, die die ‚Beherrschung der Muttersprache‘ zu einer Grundbedingung erklären.5
Die kritische Auseinandersetzung mit dem nationalen Monolingualismus bildet für die Philologie der Mehrsprachigkeit einen wichtigen Einsatzpunkt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die praktischen und sozialen Aspekte der sprachlichen Kommunikation, denn wie schon Benedict AndersonAnderson, Benedict in seiner Studie zur Entstehung von Nationalstaaten als Imagined Communities gezeigt hat, spielt gerade die Praxis einer geteilten Schrift- und Drucksprache eine herausragende Rolle für die Prozesse des nation building: Die Schriftsprache lässt einen geographisch umrissenen Vorstellungsraum der Gemeinschaft entstehen, der wiederum modellbildend für die moderne Idee der Nation wirkt.6 Bis in die Gegenwart ist der Nexus von Sprache und Politik in hohem Maße affektiv aufgeladen; über ihn können Gefühle der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft ebenso wie der Nicht-Zugehörigkeit bis hin zum Hass mobilisiert werden.
Dass sich auch die Entwicklung der Geisteswissenschaften in diesem Spannungsfeld vollzieht und vollzogen hat, liegt auf der Hand. Gerade die Geschichte der Germanistik zeigt, dass ihre Gegenstände und Traditionen stets im Zeichen der Nationalgeschichte systematisiert und gedeutet wurden, sodass sich in Analogie zu den Sozialwissenschaften von einem ‚methodologischen Nationalismus‘ sprechen lässt.7 Literaturen jenseits des Imaginären der Nation waren aus dem deutschsprachigen Kanon lange ausgeschlossen, während sich in den englischsprachigen humanities die Verbindung zur Geschichte des nationalen Imaginären durch die Formierung der postcolonial studies schon seit den 1980er Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt hat.8
Die Ausarbeitung eines differenzierten Verständnisses der Funktion und Bedeutung, die der Institution der Nationalliteratur in diesem Prozess zukommt, kann in diesem Zusammenhang als das Verdienst der noch jungen Mehrsprachigkeitsphilologie gelten. Zu einer maßgeblichen Referenz wurde Yasemin YildizYildiz, Yasemin’ (englischsprachige) Studie zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur und ihre These einer postmonolingual condition.9 Yildiz arbeitet darin zunächst heraus, wie sich im poetologischen Diskurs um 1800 eine Konfiguration etabliert, die sie als monolinguales Paradigma beschreibt. Die Vorstellung von einer souveränen Verfügung über die ‚Muttersprache‘ wird innerhalb dieses Diskurses zur Bedingung literarischer Autorschaft: Gefühle und Emotionen, so hält etwa HerderHerder, Johann Gottfried fest, können in der Dichtung nur von einem Muttersprachler adäquat ausgedrückt werden.10 Vor dem historischen Hintergrund einer Norm der Einsprachigkeit untersucht Yildiz anhand der Lektüre mehrsprachiger Texte von Franz KafkaKafka, Franz über Yoko TawadaTawada, Yoko bis hin zu Emine Sevgi ÖzdamarÖzdamar, Emine Sevgi und Feridun ZaimogluZaimoglu, Feridun, wie sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine postmonolinguale Tradition herausbildet, die Mehrsprachigkeit dezidiert ins Zentrum ihrer jeweiligen Poetik stellt – und damit ‚jenseits der Muttersprache‘ verortet werden kann, auch wenn das Präfix ‚post‘ darauf hinweist, dass die Norm der Einsprachigkeit ihr Bezugspunkt bleibt.
YildizYildiz, Yasemin’ Textauswahl und auch ihre theoretische Fragestellung sind dabei neben der jungen Mehrsprachigkeitsdiskussion in erster Linie eng mit der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Interkulturalität und Transkulturalität verbunden. Auch die Literatur, die im vorliegenden Band untersucht wird, lässt sich häufig beiden Begriffen zuordnen. Anstatt die Perspektive der Mehrsprachigkeit gegen ältere (und neuere) Bezeichnungen wie die der Migrationsliteratur, der interkulturellen oder der transkulturellen Literatur scharf abzugrenzen, bestehen hier vielmehr grundlegende Gemeinsamkeiten. So hat der Begriff der Migration in der theoretischen Debatte zu einer Infragestellung der Selbstverständlichkeit nationalstaatlicher Zugehörigkeit geführt: Migration in historischer Perspektive als ein grundlegendes Charakteristikum gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Moderne zu begreifen, vollzieht dabei eine ähnliche Denkbewegung wie Mehrsprachigkeit als Ausgangspunkt der Analyse historischer Einsprachigkeit zu nehmen: In beiden Fällen wird die Vorstellung nationaler Homogenität als scheinbar unhintergehbare Norm historisch situiert und relativiert.
Auch in der kulturtheoretischen Debatte kann diese Bewegung erkannt werden. Besonders der Begriff der Transkulturalität macht kulturelle Praktiken als immer schon vielfach geteilte, verstrickte und verflochtene verständlich: Erst vor dem Hintergrund dieser kulturellen Hybridisierung werden Phänomene, wie etwa die deutsche Bühnenaussprache oder die britische Standardaussprache, die Perceived Pronunciation, zu spezifischen Konstellationen, deren Entstehung nicht selbstverständlich ist, sondern der historischen Untersuchung bedarf. Wie bereits angedeutet, ist auch für die Philologie der Mehrsprachigkeit eine solche Veränderung der Blickrichtung auf Sprache von zentraler Bedeutung. Anstatt von der Vorstellung einer in sich geschlossenen Sprache auszugehen, die sich erst später und auch nur eventuell mit anderen Sprachen verbindet und so rein additiv in der Summe Mehrsprachigkeit ergäbe, konzeptualisiert sie die soziale Praxis der Sprache notwendigerweise als plural und hybrid.