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Jenseits von langue und parole: Für eine Pragmatik der Mehrsprachigkeit
ОглавлениеBesonders eindringlich hat Jacques DerridaDerrida, Jacques die Vorstellung einer einheitlichen Sprache zurückgewiesen und in seinem Essay Le monolingualisme de l’autre ou la prothèse d’origine (1996) die These vertreten, dass die Muttersprache niemals zum eigenen Besitz werden könne, weil sie immer eine Spur des Anderen, des Fremden in sich trage: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige / die gehört nicht mir.“1 DerridaDerrida, Jacques verbindet mit der Muttersprache divergierende affektive Qualitäten wie Geborgenheit und Vertrautheit, aber auch Kultiviertheit und guten Geschmack, die die Ambivalenz im Fremdwerden der Muttersprache hervorheben. Dass die Muttersprache gleichsam zur Sprache der Mutter wird,2 dass sie aus vielfachen Gründen zu einer fremden Sprache wird, kann für literarische Mehrsprachigkeit als charakteristisch gelten.3 Das individuelle Fremdwerden der Muttersprache aus historischen und politischen Gründen, wie es in den folgenden Beiträgen anhand verschiedener Beispiele analysiert wird, ist jedenfalls systematisch vom nationalen Diskurs über die Muttersprache um 1800 abzugrenzen; ihre jeweiligen affektiven Besetzungen wären noch weiter zu untersuchen.
An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, dass vom Diskurs über Sprache nicht umstandslos auf die soziale Praxis des Sprechens und Schreibens geschlossen werden kann.4 Umgekehrt gilt, dass einsprachige Praktiken die Konzeption von Mehrsprachigkeit bereichern können, indem sie das der Alltagswelt enthobene System der langue auf zweifache Weise neu perspektivieren. Weder Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit noch Diskurs und alltägliche Redevielfalt stehen einander einfach gegenüber; es kommt vielmehr darauf an, die ‚Anderssprachigkeit‘ (Arndt/Naguschewski/Stockhammer) der Mehrsprachigkeit hervorzuheben, die in der Differenz zur Einsprachigkeit nicht aufgeht, sondern in ihrer Pluralität gedacht werden muss.
Vor diesem Hintergrund erscheint es daher auch verfehlt, dem einheitlichen Sprachsystem und seinen Normen die Vorstellung einer anarchischen, regellosen und in jedem Falle subversiven Redevielfalt der Alltagswelt gegenüberzustellen. Damit würde die abstrakte Ebene der langue wieder nur mit der pragmatischen Ebene der parole kontrastiert und letztlich der Monolingualismus befördert: Das erkenntnistheoretische Privileg käme dann immer noch dem geschlossenen Systemcharakter der Sprache zu, während Mehrsprachigkeit als Abweichung von der Norm erschiene, wenn auch als eine Abweichung, die politisch oder ästhetisch prämiert wird. Eine solche Gegenüberstellung trägt zur Verklärung der Mehrsprachigkeit und einem einseitigen ‚Hype um Hybridität‘ bei, während sie soziale Differenzen weitgehend ausblendet.5 Dass beispielsweise die potentielle Erlernbarkeit einer allgemeinen, verbindlichen Norm eine Voraussetzung für demokratische Teilhabe ist und dass sprachliche Standardisierung Gleichheit ermöglichen kann, droht bei der bloßen Gegenüberstellung von Monolingualismus und Mehrsprachigkeit aus dem Blick zu geraten.
Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, ist es hilfreich, diejenigen Dimensionen der Sprache zum Ausgangspunkt zu machen, die quer zu Monolingualismus und Mehrsprachigkeit verlaufen. Die Betonung der Pragmatik in der Mehrsprachigkeitsphilologie geht in diese Richtung: Dass Sprache vollzogen wird, notwendig verkörpert und sozial ist, gilt nämlich sowohl für die monolinguale Norm als auch für Mehrsprachigkeit. Als soziale Praktiken können sie auf einer Ebene begriffen werden, ohne dass dabei Machteffekte nivelliert werden: Praktiken der Standardisierung, mit BachtinBachtin, Michail: die „zentripetalen Kräfte der Sprache“6, stehen mit mehrsprachigen Praktiken, den „zentrifugalen Kräften“7, in einem spannungsvollen, zuweilen hierarchischen Verhältnis – sprach- und sozialtheoretisch sind sie aber nicht auf zwei völlig verschiedenen Ebenen angesiedelt, wie der Gegensatz von langue und parole suggeriert.8 Eine ähnlich transversale Perspektive auf Sprache wird auch durch den Begriff der Affektivität befördert. Dass Sprache sinnlich und sozial ist und notwendigerweise auf irgendeine Weise verkörpert wird, kurz: dass sie eine eminent affektive Dimension hat, gilt für ihre mehrsprachige ebenso wie für einsprachige Artikulation. Der folgende Abschnitt ist dieser Dimension und ihrer theoretischen Konzeptualisierung gewidmet.