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3 Philosophische und geistesgeschichtliche Verortung
ОглавлениеUm La Mettries philosophische Haltung zu verstehen, ist es zunächst vonnöten seine Stellung innerhalb der medizinischen Wissenschaften zu betrachten, die die Basis für seine späteren radikalen Ansichten darstellt.
Sein medizinischer Lehrer Herman Boerhaave, dem er nach eigenen Aussagen seinen eigentlichen Erkenntnisfortschritt in der Kunst der Medizin verdankte – d.h. implizit nicht dem medizinischen Studium in Frankreich – und dessen Werke er ins Französische übersetzte, stand der iatrophysikalischen Lehre nahe. Diese hängt mit der Entdeckung des Blutkreislaufes zusammen und versucht die physischen Vorgänge des menschlichen Körpers zu messen und physikalisch zu erklären, d.h. der lebendige Körper wird als eine Konstruktion wahrgenommen, welche auf mechanischen Abläufen beruht, eben als eine Maschine. Ähnlich wie auch die Iatrochemie, die die Funktionen des Körpers durch die in ihm ablaufenden chemischen Vorgänge zu erklären versucht, handelt es dabei um einen materialistischen Erklärungsansatz. Dabei ist ‚materialistisch‘ hier so zu verstehen, dass man sich ausschließlich auf diemessbaren Veränderungen des Körpers stützt; Ursachen und erste Prinzipien werden hingegen unberücksichtigt gelassen (cf. Christensen 1996:21).
Von Boerhaave übernimmt La Mettrie nicht nur die materialistische iatrophysikalische Grundhaltung, sondern auch seinen Eklektizismus und die Ablehnung eines alles erklärenden einheitlichen Systems. Hier stehen sowohl Boerhaave als auch später La Mettrie im Gegensatz zu René Descartes (1596–1650), der seine Philosophie auf grundlegenden Prinzipien aufbaut. La Mettrie folgte Boerhaave auch dahingehend, dass dieser die Medizin als eine fachübergreifende Disziplin betrachtete und neben der Klinischen Medizin auch Botanik und Chemie unterrichtete sowie die Praxis der Anwendung am Patienten selbst und dabei auch chirurgische und anatomische Kenntnisse erwartete. Gerade letzteres ist zu jener Zeit nicht selbstverständlich, da die Praktiker der Chirurgie und die Theoretiker der Medizin sich oft feindlich gegenüberstanden, da letztere die Deutungshoheit beanspruchten (cf. Christensen 1996:21–22).
La Mettrie geht aus diesem Studium in Leiden als jemand hervor, den man heutzutage als open-minded bezeichnen würde, was sich allein daran zeigt, dass er zum einen auf Französisch publiziert und sich damit vom elitären und hermetischen Latein seiner Kollegen bewusst absetzt und seine ersten medizinischen Arbeiten der allgemeinen Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens und der medizinischen Aufklärung widmet (Le bien public); Adressaten waren dabei neben den medizinischen Kollegen auch Chirurgen und interessierte Laien: Lettres sur l’art de conserver la santé et de prolonger la vie (1734), Dissertation sur les maladies vénériennes (1735), Dissertation sur l’origine, la nature et la cure de ces maladies (1735) [Einl. zur Übersetzung v. Systéme de M. Hermann Boerhaave sur les maladies vénériennes], Traité du vertige (1737), Traité de la petite vérole (1740), Observations de médecine pratique (1743) (cf. Christensen 1996:22–24).
Zum anderen greift er auch in den in Frankreich tobenden Kampf zwischen Medizinern und Chirurgen ein (Höhepunkt 1724–1743), in dem es um die traditionelle Vormachtsstellung der Mediziner geht, die von den Chirurgen zunehmend in Frage gestellt wird. Er kritisiert dabei beide Seiten und plädiert im Gefolge von Boerhaave für ein Ineinandergreifen beider Wissensbestände.1 Dies kommt sowohl in seinen medizinischen Schriften zum Ausdruck, als auch konkret in Pamphleten (z.B. Saint Cosme vengée, 1744) und Satiren (z.B. La faculté vengée, 1747; Le chirurgien converti, 1748), in denen er die Hybris der Mediziner, die Eifersucht und Autonomieforderung der Chirurgen und die Zustände im Gesundheitswesen anprangert. Er plädiert vielmehr für eine stärkere Ausrichtung der Medizin an der Empirie, zugleich aber für die Stärkung der Grundlagenforschung; er kritisiert zudem die Trennung von Theorie und Praxis; d.h. Voraussetzung für einen guten Mediziner nach la Mettrie sind neben der eigenen Forschung und Beobachtung breite Kenntnisse in Anatomie, Botanik, Chemie, Physik, Mechanik und Chirurgie. Wichtig ist ihm dabei nicht so sehr die Suche nach den verborgenen Ursachen (causes cachées), sondern nach den mit Vernunft und Experiment fassbaren sekundären Ursachen (causes secondes) und die methodische Offenheit: „le meilleur système est de n’en point avoir“ (La Mettrie 1743:IV, o.pagin.) (cf. Christensen 1996:24–39).
Dieser medizingeschichtliche Hintergrund bildet die Grundlage des sich daraus entwickelnden philosophischen Gedankengebäudes La Mettries. Die wichtigsten Erkenntnisse fließen dabei in sein weiteres philosophisches Œuvre ein, und zwar vor allem die Systemoffenheit, die Betonung der Empirie und das materialistische Weltbild.
Bereits in seiner ersten rein philosophischen Schrift, der Histoire naturelle de l’âme (1745) – überarbeitet als Traité de l’âme in den Œuvres philosophiques (1751) – zeigen sich wesentliche Bestandteile seiner Denkrichtung. Dabei versteht er die im Titel des Werkes genannte Naturgeschichte als eine Naturbeschreibung, ganz im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der historia ebenfalls als observatio verstand. Grundlage der wissenschaftlichen Betrachtung ist bei La Mettrie demnach die Empirie, d.h. die auf Beobachtung begründete Erfahrung, so wie sie vor allem John Locke (1632–1704) in seinem Essay Concerning Human Understanding (1689) vertritt, der zwar auch ins Französische übersetzt wurde (1700 v. Pierre Coste), aber in erster Linie durch die Lettres philosophiques (1733) Voltaires2 (1694–1778) Verbreitung fand (cf. Becker 1990:IX; Christensen 1996:40–43; Klingen-Protti 2016:138).
La Mettries Kritik in seiner Histoire naturelle, in der er versucht ein naturwissenschaftliches Verfahren auf die Geisteswissenschaften zu übertragen, zielt auf den Rationalismus und die Metaphysik als Grundlage der Wissenschaften, wie sie bei Descartes formuliert ist. Er plädiert für einen philosophischen Neuanfang bei der die empirischen Naturwissenschaften, allen voran die Medizin, die Basis aller Wissenschaften bilden sollten. Dabei entwickelt La Mettrie einen an Locke orientierten Sensualismus, eine théorie de sensation, und zwar bereits ein Jahr vor Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) und seinem Essai sur l’origine des connoissances humaines (1746) und lange vor dessen Traité des sensations (1754).3
La Mettrie argumentiert folgendermaßen: Da nach Locke alle Ideen aus der Erfahrung stammen, müssen auch die Wissenschaften (und zwar alle) empirisch vorgehen, d.h., dass auch zur Erklärung philosophischer Fragen nur das der sinnlichen Wahrnehmung Zugängliche als Basis dienen dürfe, also nur Materielles. Die Materie ist demnach bei La Mettrie und seiner Kritik an spekulativen und metaphysischen Denksystemen ein zentrales Element. Das radikale an seiner Kritik ist, dass er damit die Behandlung der Seele aus der Theologie und Philosophie herausnimmt und der naturwissenschaftlichen Beschreibung zuführt,4 d.h. die Seele bzw. das, was sich an seelisch-geistigen Vorgängen im Menschen äußert, ist auch Materie und damit beschreibbar, woraus sich in letzter Konsequenz auch sein Atheismus ableitet. Außerdem erklärt dies sein Primat der Medizin, weil für ihn nur die empirische Beschreibung des Funktionierens des Menschen letztlich zu weiteren philosophischen Schlüssen berechtigt.5 Er argumentiert damit gegen Descartes (cf. Discours de la méthode, 1637; Meditationes de prima philosophia, 1641) und seine Unterscheidung einer res cogitans und einer res extensa, d.h. Materie ist für Descartes rein in Ausdehnung zu messen, da sie empfindungs- und bewegungslos ist (cf. Baruzzi 1968:24–29; Wellman 1992:169–170; Christensen 1996:47–55).
Für La Mettrie ist aus der Materie heraus sowohl Bewegung (puissance motrice) als auch Empfindung möglich (faculté de sentir), was in einen sensualistischen Materialismus mündet. Bezüglich der Seelenvermögen unterscheidet er dabei die âme végétative (Pflanzen, Tiere, Menschen), die âme sensitive (Tiere, Menschen) und die âme raisonnable (Menschen). Dabei ist ersteres Vermögen für Ernährung, Fortpflanzung und Wachstum zuständig, zweites für die durch Gehirn und Nervenbahnen gesteuerten Empfindungen und Wahrnehmungen und drittes schließlich für das Denk- und Urteilsvermögen.6 Er schafft damit ein Kontinuum der Lebewesen (Pflanzen, Tiere, Menschen).7 Der Begriff der ‚Maschine‘ bzw. des Menschen als Maschine wie ihn La Mettrie dann in L‘homme machine (1747/1748) entwickelt, rekurriert auf eben diese Vorstellung von der Materie (cf. Mensching 2008:509–510; Klingen-Protti 2016:139–140).
Für ihn ist folgerichtig der Mensch nichts weiter als organisierte Materie, eben komplexer organisierte als bei Pflanzen oder Tieren, aber nichtsdestoweniger reine Materie. Dies bedeutet auch eine Materialisierung der Seele und mündet in eine antimetaphysische Metaphysik.8 Er lehnt damit den Dualismus von Leib und Seele ab (cf. Descartes)9 sowie die grundsätzliche Willensfreiheit des Menschen, da die jeweiligen durch die organisierte Materie geschaffenen unterschiedlichen Dispositionen des Einzelnen ihn eher determinieren als ihn frei agieren lassen (cf. Becker 1990:XIII; Hausmann 2003:392).
Bereits die Materialisierung der Seele, die (fast) Gleichsetzung von Mensch und Tier (er betont das Kontinuum zwischen beiden) und die Einschränkung der Willensfreiheit des Menschen machen ihn für Kirche und Gesellschaft untragbar, was die Verbrennung seiner Schriften und die ihm drohenden Inhaftierungen erklärt. Dass er schließlich aus der sensualistischen und materialistischen Position heraus im Discours sur le bonheur (1750) und der L’art de jouir (1751) die Kunst des Genießens predigt,10 was nicht nur, aber auch die volupté beinhaltet, macht ihn endgültig zur persona non grata. Um überhaupt publizieren zu können, versteckt er in den meisten seiner Schriften seine radikalen Ansichten hinter Ironie und Polemik;11 er erarbeitet zudem kein in sich geschlossenes System (cf. supra: die Ablehnung von Systemen). All dies, d.h. Atheismus, radikaler Materialismus, sexuelle Freizügigkeit, Ablehnung gesellschaftlicher Institutionen und Hedonismus, ein schwer dechiffrierbares Werk sowie seine fehlende Verbindung zu philosophischen Zirkeln (wie z.B. den Enzyklopädisten),12 erklärt seine nur sporadische und selektive Rezeption, zum Teil bis ins 20. Jahrhundert.13