Читать книгу Weiterwohnlichkeit der Welt - Группа авторов - Страница 10

Hans Jonas’ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie

Оглавление

Für Lore Jonas, ohne die es Organismus und Freiheit und damit auch Das Prinzip Verantwortung nicht gäbe.

Natürlich hat Victor Eremita (alias Kierkegaard) recht: Das Äußere ist nicht das Innere. Und doch haben wir oft genug keine andere Möglichkeit, als uns dem Inneren über das Äußere zu nähern, und selbst dort, wo Alternativen bestehen, mag uns der Weg über das Äußere schneller und sicherer zum Inneren bringen als jene anderen Zugangsweisen: Denn im Äußeren mag sich sehr wohl das Innere in angemessener Weise Ausdruck verschaffen. Zum Äußeren eines Denkens gehört nun in jedem Fall seine Rezeptionsgeschichte. Für sie ist ein Denker nur zum Teil verantwortlich, denn wir alle wissen, daß Rezeptionen häufig unfair und von lächerlichen Zufällen bestimmt sind. Und doch sagt die Rezeptionsgeschichte eines Werkes nicht nur etwas über die Rezipienten, sondern auch über den Recipiendus aus. Einige Reflexionen zu Jonas’ Rezeption sollen daher am Anfang stehen.

Einer der, wenn auch äußerlichen, so doch auffälligsten Aspekte der Jonasschen Philosophie ist ihr zwar sehr später, aber doch um so schnellerer Aufstieg zum Weltruhm. Besonders in Deutschland hat Jonas eine Popularität erlangt, die kaum einem anderen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts zuteil wurde: Edmund Husserls Denken war zu technisch, um größere Kreise anzuziehen, und daß Martin Heidegger nicht zu jenen Autoren aufgestiegen ist, auf die man sich etwa bei öffentlichen Anlässen problemlos beruft, hat nur allzu bekannte Gründe. Ich weiß jedenfalls von keinem anderen deutschen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, dem eine Statue errichtet worden ist, so wie Jonas von seiner Heimatstadt Mönchengladbach, und daß bereits zehn Jahre nach seinem Tode eine Gedenkbriefmarke herausgegeben wurde, ist eine Ehre, die ebenfalls nicht vielen deutschen Denkern unserer Zeit widerfahren ist. Schließlich ist auch der inhaltliche Einfluß Jonas’ auf die Umweltbewegung beträchtlich gewesen.1 Wie erklärt sich dieser Erfolg, der um so verblüffender ist, als Jonas vor 1979, dem Erscheinungsdatum von Das Prinzip Verantwortung, vornehmlich Patristikern und Gnosisspezialisten als Philosophie- und Religionshistoriker bekannt war und das Buch, das er selbst für sein bedeutendstes hielt, The Phenomenon of Life (englisch 1966, deutsch 1973 unter dem Titel Organismus und Freiheit), weitgehend unbeachtet blieb, bis man im Gefolge der Diskussionen um Das Prinzip Verantwortung darauf aufmerksam wurde, da es in der Tat die Grundlage der Argumente des späteren Werkes bildet? Erklärungsbedürftig ist auch die Tatsache, daß Jonas’ Werk zunächst in Deutschland einschlug, obgleich seine Sprache die Entwicklung des Deutschen seit 1933 nicht mitgemacht hatte, wie er selbst – keineswegs kokettierend – einräumte,2 und inzwischen auch in vielen anderen europäischen sowie in asiatischen Ländern rezipiert ist – freilich kaum in den USA, als deren Bürger Jonas starb und wo er fast vier Jahrzehnte seines langen Lebens wirkte.

Eine Ursache von Jonas’ Erfolg in Deutschland mag seine jüdische Herkunft gewesen sein: Indem man ihn las und/oder lobte, konnte man glauben, zur Wiedergutmachung der deutschen Verbrechen an den Juden beizutragen. Aber sofern das mitgewirkt hat, hat es jedenfalls keine große Rolle gespielt; denn ein vergleichbarer Erfolg ist ja keineswegs allen emigrierten jüdischen Intellektuellen zuteil geworden. Nein, es war der Sachgehalt des Werkes, der ihm zu seiner Rezeption verhalf. Dabei spielte einerseits das Thema eine Rolle – seit dem ersten Bericht des Club of Rome hatte man in den siebziger Jahren erstmals weltweit das ökologische Problem wahrzunehmen begonnen, und daß schon am Ende dieses für das Erkennen des Umweltproblems entscheidenden Jahrzehnts eine ausgereifte Theorie mit den Grundlagen einer Ethik für die technische Zivilisation vorlag, erzeugte bewunderndes Staunen. Hier hatte jemand ganz offensichtlich in langen Jahrzehnten vorher Theorie auf Vorrat angehäuft, die er nun zur philosophischen Bearbeitung einer ethisch-politischen Schicksalsfrage der Menschheit einzusetzen verstand. Auch daß Das Prinzip Verantwortung sich als Gegenwerk zu Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung vorstellte, trug zu seinem Erfolg bei: Konservative, die dem Marxismus gegenüber skeptisch oder gar feindlich eingestellt waren, konnten bei Jonas eine brillante Kritik eines Anspruchsdenkens finden, das sie aus guten Gründen ablehnten, und Linke, die die destruktiven Tendenzen des modernen Kapitalismus durchschauten, fanden in ihm eine Bestätigung ihrer Sorgen. Zwar ist Jonas’ Verteidigung der Sowjetunion in Kap. V des Prinzips Verantwortung einer der problematischsten und provokativsten Teile seines Werkes, dem er auch später abschwor; aber was auch intelligente Antimarxisten bestach, war die Tatsache, daß Jonas die marxistische Ideologie als edle Lüge für die Massen einzusetzen hoffte, um sie zu asketischen Idealen zu animieren. Der Abschnitt „Kann Enthusiasmus für die Utopie in Enthusiasmus für die Bescheidung umgemünzt werden?“ mit dem bezeichnenden Untertitel „(Politik und Wahrheit)“ gehört in seiner grandiosen Mischung von Platonismus und Machiavellismus zu den abgründigsten Texten der politischen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts, und daß er mit den Worten endete, „der Autor ist auf den Vorwurf des Zynismus gefaßt und wünscht ihm nicht die Versicherung eigener guter Gesinnungen entgegenzustellen“,3 mußte Jonas gerade denjenigen interessant machen, die „Gutmenschentum“ nicht für die Lösung des Problems der Moral halten. Gleichzeitig war jedem klugen Rezipienten klar, daß die Entgegenstellung dieser Versicherung, die bei einem Carl Schmitt deswegen nichts geholfen hätte, weil sie nur als Machiavellismus zweiter Potenz gedeutet worden wäre, bei Jonas aus ganz anderen Gründen überflüssig war: Wem die Integrität dieses Mannes und seines Denkens noch nicht aufgefallen war, der wäre in der Tat auch durch eine solche Erklärung nicht zu überzeugen gewesen. Daß Ende der siebziger Jahre, nach einem extrem ideologisierten Jahrzehnt, eine solche geistige Autonomie, die auf wertkonservativer Grundlage der Sowjetunion positive Aspekte abzugewinnen suchte, faszinierte, war wahrlich ein hoffnungsvolles Zeichen.

Wichtiger noch als das Thema selbst war die Art und Weise seiner Behandlung. Schon vor Jonas – man denke an John Passmore4 – hatte es solide Untersuchungen zu umweltethischen Fragen gegeben, und daß nach dem Erfolg seines Buches die Umweltethik im akademischen Philosophiebetrieb florieren würde, war in der Tat zu erwarten gewesen (auch war nicht überraschend, daß gar manche der neueren Autoren es nötig fanden, ihre guten Absichten hervorzuheben). Aber das, was Jonas’ Entwurf etwa von verdienstvollen Arbeiten wie derjenigen Dieter Birnbachers5 abhob, war der metaphysische Anspruch. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es seit Immanuel Kant kaum einen Ethiker gegeben hat, in dessen Ansatz die Metaphysik der Ethik eine so entscheidende Rolle spielt wie bei Jonas: Der Utilitarismus etwa, ungeachtet aller seiner materialen Fortschritte über Kant hinaus, gehört nicht zu den ethischen Schulen, die sich durch Reflexionen zum Status des Sollens innerhalb des Seins auszeichnen. Der neue Brückenschlag zwischen Metaphysik und Ethik war deswegen so faszinierend, weil Jonas nicht einfach zu einer älteren Position zurückkehrte, sondern seine Rückkehr mit der gegenwärtigen Situation begründete – der Eigenart unserer Pflichten gegenüber kommenden Generationen sowie der Notwendigkeit einer neuen Deutung der Natur. Daß der Rückgriff auf eine scheinbar obsolete Form des Denkens in einer archaischen Sprache vorgetragen wurde, trug wahrscheinlich zur Anziehungskraft des Werkes bei: Man hatte den Eindruck, daß das Beste an der deutschen Philosophie, das 1933 vertrieben oder pervertiert worden war, gleichsam aus längst geschwunden geglaubter Vergangenheit zur Bewältigung der Zukunft aufrief, und diese eigentümliche Mischung der Zeitmodi in einer desorientierten Gegenwart ist sicher einer der entscheidenden Faktoren von Jonas’ Erfolg gewesen.

Hinzu kam – und das erklärt Jonas’ schnelle Rezeption in Deutschland und seine bis heute zögerliche Rezeption in der angelsächsischen Welt –, daß sein Denken in ganz besonderer Weise in der deutschen Tradition wurzelte. Das ist nicht ohne weiteres ersichtlich, da Jonas nicht zu denjenigen Denkern gehört, die ihre Quellen und Vorläufer ausführlich diskutieren; aber es ist, wie ich im folgenden zeigen möchte, dennoch zutreffend. Jonas’ einzigartige Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie besteht darin, daß er Heideggers Anregungen an die Weltphilosophie fruchtbar zu machen gewußt hat und gleichzeitig aus der Sackgasse ausgebrochen ist, in die dessen Denken die Philosophie geführt hatte. Dies gelang ihm, indem er – nicht etwa direkt, sondern auf „Umwegen“, nämlich durch die Sache selbst, wie sie sich ihm in seiner Auseinandersetzung mit den modernen Biowissenschaften und den ethischen Problemen ihrer technischen Folgen offenbart hatte – die entscheidenden Prinzipien der Kantischen Ethik und der Hegelschen Philosophie des Organischen neu gedacht und auf die gegenwärtige Situation angewandt hat. Für jemanden, der – wie der Autor dieses Aufsatzes – die These vertritt, daß bestimmte Grundtypen der Philosophie in regelmäßiger Folge wiederkehren,6 war das Wiedervorstoßen eines Schülers Heideggers zu den Positionen der klassischen deutschen Philosophie – und zwar nicht aus historistischer Gelehrsamkeit heraus, sondern aus immanenten Problemen der Gegenwart selbst – eine hochwillkommene Bestätigung jener allgemeinen Theorie der Philosophiegeschichte und der mit ihr verbundenen Hoffnung auf eine Erneuerung der Tradition des objektiven Idealismus.

Das, was Hans Jonas für das deutsche Bildungsbürgertum letztlich so interessant machte, war, daß er mit einer Unbefangenheit und Originalität Metaphysik betrieb, wie sie in Deutschland gerade aus politischen Gründen kaum mehr möglich war: Man mußte gleichsam US-Amerikaner sein, um sie sich zu erlauben, so wie man sich seine Kritik an „liberale[n] Naivitäten“7 und seine Gedanken über die konstitutionelle Vernachlässigung der kommenden Generationen in der modernen Demokratie8 nur gestatten konnte, wenn man 1933 Deutschland mit dem Gelöbnis verlassen hatte, „nie wiederzukehren, außer als Soldat einer erobernden Armee.“9 Vielleicht liegt darin einer der wichtigsten Gründe für die Anziehungskraft des Jonasschen Denkens: Mit der nahezu unüberbietbaren Abscheulichkeit von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus sind alle jene politischen und intellektuellen Alternativen zum westlichen Typus wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie und ihrer konsenstheoretischen Legitimation disqualifiziert worden, die in den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern erwogen worden waren. Das ist einerseits nur zu verständlich; es ist wirklich kaum möglich, etwa eine Biographie Stefan Georges zu schreiben, ohne auf die Tatsache einzugehen, daß Georges Elitismus manchen Nationalsozialisten faszinierte.10 Aber wenn man mit Jonas Hitler für einen Zufall hält,11 dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie wir heute etwa Nietzsche, George und Heidegger bewerten würden, wäre Hitler nicht zur Macht gekommen. Es mag durchaus sein, daß in einigen jener Alternativen, die mit dem Totalitarismus logisch nicht im mindesten verknüpft sind, Ideen enthalten waren, von denen man gerade angesichts der enormen Schwierigkeiten der modernen Demokratien, mit den Umweltproblemen fertigzuwerden, lernen kann. Jonas hat mit einer solchen Möglichkeit erstaunlich unbefangen gerechnet, und die Dankbarkeit der Öffentlichkeit seinem Werke gegenüber hat sicher auch mit dem Gefühl zu tun gehabt, hier würden wieder Alternativen zur politischen Korrektheit des Mainstream offengehalten, von denen die Freiheit und die Weite des geistigen Austausches auch dann profitieren können, wenn man schließlich zu dem Ergebnis kommt, daß sie abzulehnen sind.

Im folgenden will ich erstens das Heideggersche Erbe bei Jonas erörtern (I) sowie den Bruch mit Heidegger in der Naturphilosophie (II) und in der Ethik (III) diskutieren, wobei auf die sachliche Verwandtschaft mit Hegels und Kants Theorien einzugehen ist. Da ich eine genauere sachliche Analyse von Jonas’ Philosophie an anderer Stelle vorgelegt habe,12 kann ich es mir hier ersparen, Jonas’ Argumentationen im einzelnen darzulegen und zu analysieren. Mir geht es in diesem Text nur um den geschichtlichen Ort von Jonas’ Denken. Das Thema gestattet es zugleich, die Frage zu streifen, ob es etwas wesentlich „Deutsches“ in der Philosophie der zu diskutierenden Denker gibt.

Weiterwohnlichkeit der Welt

Подняться наверх