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Zwiespältige Freundschaft: Reflexionen über Hans Jonas und Gershom Scholem I.
ОглавлениеAm 15. August 1940 trug Hans Jonas bei einem feierlichen Anlaß im Hause Salman Schockens in Jerusalem einen köstlichen Text mit dem Titel „Aus einem ungedruckten Fragment zum ‚Zauberberg’ von Thomas Mann“ vor. Ganz im Stile des Dichters zeichnete er darin – in der Gestalt des „Fremden“ – ein lebendiges Bild seines Freundes und zionistischen Mitstreiters Gershom Scholem, während er sich selbst als Settembrini stilisierte:
„Als die Vettern sich der Wegbiegung näherten, wurden sie auf das anschwellende Stimmengetön einer Unterhaltung aufmerksam, die offenbar in lebhaftestem, um nicht zu sagen heftigstem Gange war und bei der ihres Freundes Settembrini vertraute und wohllautende Stimme nur mit Mühe sich gegen ein rücksichtsloseres Organ von ganz unhumanistischer Streitbarkeit und sturzbachähnlicher Redefülle und -geschwindigkeit zu behaupten schien. Jetzt war sie gar vollends darin ertrunken wie ein Schwimmer, der erschöpft den Kampf gegen die Übermacht des Elementes aufgibt und mit dem Kopfe immer längere Zeiten unter Wasser bleibt […]. Ein schon nicht mehr hörbarer Einwurf Settembrinis, vielleicht nur der Versuch zu einem solchen, war soeben mit dem leidend-ungeduldigen Ausruf ‚Wenn sie mich doch nur ausreden ließen!’ von dem Fremden zum Schweigen gebracht worden, der dann auch ohne Aufenthalt, wenn auch keineswegs in fließender, sondern vielfach von gezogenen Vokalen und Flickworten wie ‚Dingsda’ unterbrochener Rede die so geschaffene Alleinredefreiheit zu nutzen fortsetzte. Nein, ein Dialog, wie ihn sich die alten Protagonisten des Wechselgesprächs bei uns hier oben so oft in pädagogischer Absicht vor lernbegieriger Jugend geliefert hatten, war das nicht. Von jenem bei aller Schärfe eleganten Duell nach ungeschriebenen Regeln, bei dem mit angestrengter Höflichkeit oder auch mit verhaltener Schadenfreude der Eine den Andern ausreden ließ, um dann mit wohltemperierter Stimme zu gesetzter Gegenrede anzuheben, gewiß, dabei des gleichen Vorzuges wie jener sich versehen zu dürfen – kurz, von der schätzenswerten Konvention gesitteter Gesprächskunst, nach Settembrini der Mutter der Freiheit und des Fortschritts, konnte hier nicht wohl die Rede sein. ‚Sieh da, Freund Settembrini in Nöten’ dachte Hans Castorp und beschleunigte mit erfreuter Spannung den Schritt, während er den widerstrebend mithaltenden Joachim daran erinnerte, wie sie an beinah eben dieser Stelle zum ersten Mal dem kleinen scharfen Naphta in der Gesellschaft Settembrinis begegnet waren. Alsbald wurden sie auch des Paares ansichtig, und Hans Castorp konnte seine Neugierde in betreff des Fremden im Näherkommen befriedigen. Sagten wir ‚des Fremden’? In der Tat, eine fremdartigere Erscheinung war selten hier oben gesehen worden. Auf langen Beinen daherschreitend, die bei jedem Schritt eine leichte Auswärtsbewegung beschrieben, so daß sie der ganzen Gestalt eine Art von Schlingern mitteilten; mit langen Armen und riesigen Händen gestikulierend, wobei die eine noch ihr besonderes Spiel mit einem Gegenstande trieb, der sich bei näherem Zusehen als ein in rastlosem Zwirbeln abwechselnd zu einem Röhrchen gerollter und wieder entrollter Papierstreifen erwies; den Oberkörper leicht vorgebogen und den Kopf aus dem Nacken nochmals vorgeschoben; mit Ohren, deren Ausmaße denen der anderen Extremitäten nicht nachstanden – hatte die Gestalt des Fremden trotz des im gesitteten Abendlande üblichen Sakko-Anzuges, mit der sie bekleidet war, wohl infolge ihrer vielfältig schlenkerigen Bewegungen etwas so Phantastisches, und wir möchten sagen, Flatterndes an sich, daß es die Freunde kaum gewundert hätte, wenn er bei einbrechender Dämmerung wie eine Fledermaus schwärzliche Flügel entfaltet und sich schaukelnden Fluges über das in Dunkel sinkende Tal hin entfernt hätte.
Vorderhand aber ereignete sich nichts dergleichen, wenn auch der Inhalt der Rede, in der der Fremde begriffen war, seltsam genug war und auch bizarrere Möglichkeiten als diese in den Bereich des Erwartbaren und sozusagen Selbstverständlichen zu rücken schien. ‚Bekanntlich’, so hörte Hans Castorp ihn gerade sagen, ‚bekanntlich haben Gespenster keinen Umriß.’ Hier gelang es Settembrini, mit feiner Würde die Feststellung anzubringen, daß ‚bekanntlich’ die Vernunft von Gespenstern nichts wisse, auch nichts davon zu wissen wünsche und glücklicherweise mit diesem mittelalterlichen Aberglauben, der so lange den Menschen geschändet, endgültig aufgeräumt habe – wenigstens, so fügte er noch hinzu, für alle diejenigen, denen Fortschritt und Ehre des Menschen am Herzen lägen. Befremdlicherweise antwortete der Unterredner auf diese mit edler Wärme vorgebrachten Worte, die gleichsam an sein besseres Ich zu appellieren und eine höhere Gemeinsamkeit über den Standpunkten anzurufen schienen, mit dem einzigen Worte ‚Backobst!’ – dessen möglicher Zusammenhang mit dem verhandelten Gegenstande den Freunden schlechterdings unverständlich blieb, das aber jedenfalls auf irgendeine Weise, trotz der Untadelhaftigkeit des in Rede stehenden Erzeugnisses der Fruchtverwertungsindustrie, von Herrn Settembrini mit Recht oder Unrecht als eine nicht eben schmeichelhafte Kennzeichnung seiner Einrede empfunden wurde, wie die flüchtige, auf Gekränktheit schließen lassende Bewölkung seiner angenehmen Züge bewies. Diesen Anflug von Verstimmung überwand er indessen sofort mit Eleganz, als er jetzt daran ging, die Herren miteinander bekannt zu machen – was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben mit verbindenden Handbewegungen und unter Scherzreden seitens Settembrinis geschah, wobei er den Stand des Vorzustellenden nach italienischer Art möglichst pomphaft herausstrich …“1
Dieser Text legt auf lebendige Weise Zeugnis ab von einer aufrichtigen, von Humor, Ironie und der Begegnung starker Charaktere geprägten Freundschaft. In seinen Studienzeiten in Berlin hatte Jonas Scholem einmal von ferne auf einer turbulenten zionistischen Versammlung beobachtet und ihn schon damals als „ungemein eigenwillig denkende, originelle und aufs tiefste von geistigen Motiven durchdrungene Persönlichkeit“ wahrgenommen.2 Nachdem Jonas Deutschland im August 1933 endgültig verlassen hatte, knüpfte er an diesen Kontakt an und bat den auf Grund seiner Studien zur jüdischen Mystik bewunderten Kollegen um ein Empfehlungsschreiben, das dieser ihm bereitwillig ausstellte. Scholem empfand seinerseits bereits zu dieser Zeit große Achtung vor Jonas’ philosophisch-religionsgeschichtlicher Interpretation der spätantiken Gnosis und bescheinigte ihm „ein ungewöhnliches Talent zur scharfen Fassung und Durchleuchtung überaus schwieriger Gedankenkreise“, nicht ohne ihn offenbar brieflich auf die mangelhafte Rezeption seiner eigenen Arbeiten hinzuweisen – ein Thema, das später dringlicher werden sollte, hier aber lediglich vorsichtig anklang.3
Der Jerusalemer PILEGESCH-Kreis, über den Jonas in seinen Erinnerungen so anschaulich berichtet,4 ein schabbatlicher Debattierclub, in dem neben ihm und Scholem vor allem der Physiker Shmuel Sambursky, der Orientalist Hans Jakob Polotsky, der Altphilologe Hans Lewy und der Publizist George Lichtheim in deutscher Sprache miteinander ernste und weniger ernste Diskussionen führten, ermöglichte wenig später, nach Jonas’ Übersiedlung nach Palästina im Jahre 1935, die intellektuelle Begegnung der beiden Gelehrten, aus der bald eine intensive Freundschaft erwuchs. Sie war getragen von wechselseitiger Achtung und einem humorvollen Miteinander, wie es sich in dem oben angeführten „literarischen“ Text widerspiegelt. Andere – ernstere – Zeugnisse deuten auf eine im gemeinsamen Forschungsinteresse an der Welt der Gnosis und frühjüdischen Mystik gründende intensive Nähe, hinter der jedoch bei genauer Betrachtung eine bleibende Distanz aufscheint, die symbolisch vielleicht im lebenslang aufrechterhaltenen „Sie“ zum Ausdruck kam. So hatte etwa Scholem 1942 seinem Freund eine Ausgabe seines soeben erschienenen Buches Major Trends in Jewish Mysticism mit folgender Widmung geschenkt: „Dem gnostischen Kollegen / zum warnenden Geleit / beim ferneren Abstieg / in die Tiefen des Nichts / widmet diesen kleinen Traktat / über Mystik und Dialektik / freundschaftlich / der analysierende und / nicht-analysierte Autor. G. Scholem, Jerusalem 8.3.1942.“ Am 15. Januar 1943 – Jonas war zu dieser Zeit mit der britischen Armee nahe Haifa stationiert – ließ Scholem ihm ein weiteres Exemplar mit einer zweiten Widmung zukommen. Sie enthält ein vorsichtig angedeutetes Bekenntnis Scholems über die Wirkung der Auseinandersetzung mit der jüdischen Mystik auf sein eigenes Denken. Seinem Freund Jonas gestattete er damit einen kurzen Blick in ansonsten völlig verborgene Seelenlandschaften:
In die alten Bücher ging ich hinein –
Mich dünkten die Zeichen groß.
Ich blieb zu lange mit ihnen allein,
Ich konnte nicht mehr los.
Die Wahrheit hat den alten Glanz,
Doch das Unglück stellt sich ein:
Das Band der Geschlechter bindet nicht ganz,
Das Wissen ist nicht rein.
Verworrnes Gesicht von der Fülle der Zeit
Habe ich heimgebracht.
Ich war zum Sprung auf den Grund bereit,
Aber habe ich ihn gemacht?
Die Symbole der Väter sind hier formuliert;
Der Kabbalist war kein Narr.
Doch was die verwandelnde Zeit gebiert
Bleibt fremd und unsichtbar.
Die verwandelte Zeit sieht uns grausam an;
Sie will nicht mehr zurück.
Die Vision der Erlösung in Qualen zerrann.
Was bleibt, ist verworfenes Glück.
(Hans Jonas, dem gnostischen Kollegen, zur Beherzigung beim Abstieg in die Tiefen des Nichts und beim Aufstieg ins noch Unbekanntere freundschaftlich eröffnet von Gerhard Scholem)5
Jonas antwortete in einem aufgewühlten Dankesbrief vom 4. Februar 1943 aus Haifa:
„Lieber Scholem, wie soll ich Ihnen danken? Ich bin noch nie so beschenkt worden, und ich werde kaum einen zulänglichen Ausdruck finden für die Bewegung, die ich empfinde, so oft ich das großzügige und großartige Bekenntnis lese, mit dem Sie mich geehrt haben. Ich bin glücklich, daß Sie mein Exemplar dazu gewählt haben, und mehr noch, daß ich nun so im Ernste weiß, was mich und andere so oft als Frage – manche aus ‚Neugierde’ und manche als dringliches, mit dem Phänomen ‚Scholem’ verbundenes geistiges Anliegen – beschäftigt hat. Für mich persönlich könnte ich auch sagen: beunruhigt hat. Denn Sie sind sich ja selber klar darüber, daß Ihre geistige Existenz als solche, nicht nur das Forscherleben mit dem wissenschaftlichen Ertrag, in dem sie sich manifestiert, um sich zugleich dahinter zu verschanzen, eine tiefe Herausforderung an unsere – die ‚verwandelte Zeit’ – enthält; eine Herausforderung, die manches gerne aufnehmen würde, wenn sie nur unverhüllt (darf ich sagen: unzweideutig?), greifbar, sei es in bekenntnishafter, sei es in dialogfähiger Form, ihm entgegentreten würde. Jene Verschanzung im Forschungsgegenstand, legitim wie sie ist (und verpflichtend, wenn nicht durch das Objekt, dann noch durch die Objektivität des Erkennens), lehrend und wehrend in einem, Wink zugleich und Maske (und insofern so etwas wie eine Symbol-Wirklichkeit im echten Sinne) – sie macht es schwer, für die ‚Auseinandersetzung’, die doch unabdingbar darin vorgezeichnet ist, auch nur die ausdrücklichen terms festzustellen. Für die direkte wenigstens: die indirekte muß eben die gleichen ‚symbolischen’ Wege einschlagen, die Ihre Thesis (oder Herausforderung) geht – und diesen Weg immanenter Selbsterklärung und damit verhüllter Rede und Antwort gehen wir andern, jeder auf seine Weise und mit seinen (bescheideneren) Mitteln, in der Tat ja auch, unwillkürlich oder absichtsvoll, – jeder, wenn er sich forschend und deutend der Geschichte in seinem besonderen Thema stellt. Aber das Geheimnis der Beziehung zwischen dem Forscher und seinem Gegenstand, in Ihrem Falle ein berechtigteres Interesse, eine schärfere Frage als in den meisten sonst, ist gerade Ihnen gegenüber, wie Sie wissen, seit langem ein beliebter Gegenstand teils witziger Vermutungen (mit entsprechenden Formulierungen), teils ernsthaften Fragens und Kopfzerbrechens: alle diese aber, meine ich, letzten Endes ein Ausdruck jener Beunruhigung, die ich für mich oben erwähnt habe. All dies ‚lockt’ Sie nicht aus Ihrer Reserve heraus. Welcher Verstehende möchte nicht die Selbstzucht, die Enthaltsamkeit des Forschers und zugleich die Verschwiegenheit, ja Sprödigkeit der Person (in diesem Lichte sehe ich Ihre Gesprächigkeit) ehren und vor der direkten Anfrage zurückscheuen? Aber das Bedürfnis und das Warten bleibt: und es kommen Augenblicke in der Geschichte eines Geistes, wo man nach allen ihm verdankten Erkenntnissen sich ein Bekenntnis wünscht; wo ein Zipfel wenigstens des Vorhanges gelüftet und der latente Standpunkt sich in einer neuen, unmittelbareren Approximation, in der Sprache des Vertrauens, deklarieren möge – um der eigenen und um der befreundeten Seelen willen. Dies hat für mich Ihr Widmungsgedicht getan. Sie werden mir vergeben, wenn ich die einzige würdige Antwort, zu der es mein Gefühl verpflichtet: die Erwiderung von meinem Zentrum her, vorläufig aufschiebe. Ich weiß nicht, ob ich so viel Standpunkt schon in mir kristallisiert habe, und jedenfalls ist für mich die Zeit einem solchen Unternehmen nicht günstig. So begnügen Sie sich bitte für jetzt mit meinem ernsthaften Dank und dem Ausdruck, den ich ihm in diesem Briefe zu geben versucht habe. Als erstes werde ich mich zum Objekt zurückbegeben und in meinen knappen Mußestunden die Kapitel lesen, zu denen ich bisher nicht gekommen war.“6
Scholems Widmung und Jonas’ Dankesbrief sind einzigartig in der gegenseitigen Öffnung, die sich bei Scholem verhüllter, „symbolischer“, im Medium des Widmungsgedichtes vollzog, während Jonas seine Empfindungen offener aussprach: den Dank, aber auch ein gewisses Leiden an der Distanz und „Sprödigkeit“ eines Freundes, der sich ihm offenbar allzu oft hinter der „Maske“ seiner wissenschaftlichen Forschung verbarg. Zugleich illustrieren diese Texte, was Jonas meinte, als er später in seinen Erinnerungen über das „ungelöste Scholemrätsel“ reflektierte, nämlich über die Frage, die sich auch die nächsten Freunde stellten, „ob Scholem selbst ein gläubiges Verhältnis zum Judentum hatte“: „Was glaubte er, wie viel wollte er glauben, konnte es aber nicht? Niemals hat er sich darüber deutlich erklärt“.7 Was Jonas in seinem Brief als „Verschwiegenheit“ des Forschers beschreibt, die er in der Widmung mit den Anspielungen auf religiöse Suche, Faszination von mystischen Texten, Ernüchterung und bleibender Fremdheit andeutungsweise durchbrochen sah, haben andere Scholem als Ausweichen vor klaren Antworten hinsichtlich seines Verhältnisses zur religiösen Tradition und säkularen Moderne vorgeworfen. Die Deutungen seiner Haltung zum Judentum oszillieren zwischen der These, er habe die Kabbala völlig distanziert und aus säkularer Perspektive als historische Erscheinung betrachtet und der Auffassung etwa Theodor W. Adornos, „der mystische Funke [müsse] in ihm selbst gezündet haben“,8 sowie Ernst Simons Vermutung, hinter Scholems Schweigen von Gott verberge sich ein Bekenntnis zu ihm – nämlich als „indirekte Mitteilung“.9 Scholem selbst brachte seine Haltung erstmals in späteren Zeugnissen zur Sprache, etwa in seinem Essay „Einige Betrachtungen zur jüdischen Theologie in dieser Zeit“ aus dem Jahr 1973 und in einem 1973/74 geführten biographischen Interview.10 In diesem Gespräch distanzierte sich Scholem vom Atheismus und bekannte sich dazu, „daß ich ein religiöser Mensch bin, weil ich mir meines Glaubens an Gott sicher bin“.11 Er gab zu verstehen, daß er trotz seines streng wissenschaftlichen Zuganges zur Mystik zumindest das Grundgefühl der Kabbalisten teile – „daß es in der Welt ein Geheimnis gibt“.12 Es klingt – natürlich ohne daß dies intendiert gewesen wäre – fast wie eine späte Antwort auf Jonas’ Reaktion auf den Widmungstext des Jahres 1943, wenn Scholem auf die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Glaube in seiner Erforschung und Lehre der Geschichte der Kabbala erwiderte:
„Doch daß ich über die Kabbala nicht nur als ein historisches Kapitel sprach, sondern aus einer dialektischen Distanz, aus gleichzeitiger Identifizierung und Entfernung, resultierte wohl aus meinem Empfinden, daß es in der Kabbala einen lebendigen Kern gab, daß sie Dinge in einer jener Generation entsprechenden Form zum Ausdruck brachte, die sich aber vielleicht auch in anderer Form in etwas anderem und in einer anderen Generation hätten ausdrücken können. Jenseits aller Tarnungen, Masken und philologischen Spiele, in denen ich mich auszeichne, hat mich wohl etwas Verborgenes dieser Art angetrieben. Ich kann verstehen, daß etwas Derartiges sich in den Herzen meiner Zuhörer – unter den Säkularen – entzündete, wie es sich auch in mir entzündet hatte.“13
Es gibt keine Zeugnisse dafür, daß Scholem diese Antwort und vor allem das Zugeständnis der ja auch von Jonas angesprochenen „Tarnungen“ und „Masken“ diesem gegenüber persönlich formuliert hätte. Ohne daß ersichtlich wäre, ob Scholem und Jonas nach ihren in den Gedichten und Briefen aus dem Jahre 1942/43 vorsichtig formulierten Andeutungen den Faden des Gespräches über Religion, Glauben und Zweifel jemals wieder aufgenommen haben, läßt Scholems Essay von 1973 eine überraschende Nähe zu Jonas’ Denken feststellen. Trotz mancher unterschiedlicher Akzente, die schon darin begründet liegen, daß der Jerusalemer Gelehrte aus einem weit tieferen Fundus jüdischer Gelehrsamkeit schöpfen konnte, gelangten beide Denker – wohl unabhängig voneinander und doch um die gleichen Fragen ringend – zu sehr ähnlichen Einschätzungen. Wie Jonas, der zeitlebens ein zwiespältiges Verhältnis zur jüdischen Tradition hatte, das sich zwischen grundsätzlicher Bejahung und Zurückweisung zentraler Elemente bewegte,14 bekennt Scholem, nicht zu „diesen Glücklichen“ zu gehören, die eine „positive Theologie eines unverrückbaren Judentums“ besitzen – allenfalls könne er Fragen aufwerfen. Zu diesen Fragen zählen, abgesehen von jener nach der Autorität der Tradition, vor allem die nach der „Stellung des Judentums und seiner Überlieferung in einer säkularisierten und technologisierten Welt“ sowie die nach der Bedeutung der „Katastrophe der Vernichtung“ und der Gründung des Staates Israel. Wie Jonas in seinen Überlegungen über den Gottesbegriff nach Auschwitz reflektiert Scholem über die Folgen der „Hitlerjahre, die auf so überwältigende, unfaßbare und im Grunde wohl auch unausdenkbare Weise in unser Leben als Juden eingegriffen“ haben, so daß sich jüdische Tradition nicht mehr einfach ungebrochen fortschreiben läßt.15 Die Herausforderung der Schoah, aber auch jene der fortschreitenden Säkularisation, betrifft aus Scholems Sicht die drei entscheidenden Grundpfeiler des Judentums: die Autorität der Offenbarung, den Schöpfungsglauben und die Hoffnung auf Erlösung, also genau jene Aspekte, die auch in Jonas’ Reflexion über das Judentum eine entscheidende Rolle spielten.16
Wie Jonas ging Scholem davon aus, daß der verbindliche Charakter der Offenbarung zerbrochen, die Überzeugung vom Dasein Gottes aber auch unabhängig von einer Offenbarung konkreter Glaubensinhalte denkbar sei. Die Bejahung der Existenz Gottes und daraus abgeleiteter religiöser oder ethischer Folgerungen sei in der Moderne vielfach in philosophische Überzeugungen übersetzt worden und besitze „den Wert von Provokationen, die sich vielleicht im Schmelztiegel des modernen Nihilismus als unauflösbar und zukunftsträchtig behaupten können“.17 Das entspricht nicht nur Jonas’ These vom Fortwirken der jüdisch-christlichen Überlieferung in der westlichen Philosophie,18 sondern auch der Art und Weise, in der er in seinen theologischen Reflexionen Autonomie der Vernunft, Ohnmacht Gottes und Wirksamkeit Gottes im Handeln des Menschen miteinander in Einklang zu bringen versuchte. Obwohl Gott weder durch geschichtsmächtiges Handeln noch durch autoritative Offenbarung in den Lauf der Welt einzugreifen vermag, kann er sich doch hörbar machen: Durch den Geist des Menschen „kann Gott gleichsam Macht zurückgewinnen, ebenso wie er auch scheitern kann durch das Versagen der Menschen. Es ist nicht gesagt, daß Gott Gehör findet in den Seelen und daß die von ihm erleuchteten Propheten sich durchsetzen […]. Aber grundsätzlich gibt es dieses Einfallstor, durch welches das Überweltliche in das Weltliche hineinwirken kann – die einzige Kausalität, die ich Gott noch einräume.“19 Alle „theologischen“ Texte des Philosophen zeugen davon, daß er, wie Scholem, darauf hoffte, daß – trotz Säkularisation – die philosophische Plausibilität zentraler Elemente jüdischen Glaubens wie die Heiligkeit geschöpflichen Lebens und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen kraft des menschlichen Geistes dem nihilistischen Weltverständnis der Gegenwart widerstreiten könne.20
In der Frage nach der Bedeutung der Schöpfungsvorstellung für das Judentum im säkularen Zeitalter und ihrem Verhältnis zur Hoffnung auf die messianische Erlösung wird die Nähe von Jonas und Scholem besonders eindrucksvoll erkennbar. Ein auffälliges Merkmal der Philosophie von Hans Jonas besteht darin, daß die gegen Ernst Bloch gerichtete Fundamentalkritik utopischen Denkens im Prinzip Verantwortung21 mit einer eindeutigen Distanzierung von der jüdisch-messianischen Tradition korrespondiert, die als eschatologische Flucht vor der Bejahung der Zweideutigkeit und Fragilität geschöpflichen Seins erscheint.22 Diese Haltung hängt vor allem mit der für Jonas’ Ethik charakteristischen starken Akzentuierung der Vorstellung von einem dem Leben selbst innewohnenden Wert – theologisch: die Güte der Schöpfung und die „Heiligkeit“ des Geschaffenen – zusammen, der das „Sollen“, den Imperativ der Bewahrung des Lebens, begründet. Ähnlich ging auch Scholem von der kritischen Beobachtung aus, die Idee der Erlösung habe sich, sei es unmittelbar, sei es in säkularisierten Metamorphosen, „viel nachdrücklicher im Denken weiter Kreise behauptet“ als jene der Schöpfung. „Grade die, die am lautesten von Erlösung und deren Implikationen sprechen, wollen oft am wenigsten von der Welt als Schöpfung hören. Aber daß die Welt Schöpfung sei, einmalige oder kontinuierliche, sich immer erneuernde, ist ein Satz, auf den keine wie immer geartete jüdische Theologie verzichten kann. […] In der Wahl zwischen den beiden Alternativen, der Welt als Schöpfung und der Welt als sich selbst gebärendes Zufallswesen, wird die jüdische Überzeugung von Gott als Schöpfer auch jenseits aller Bilder und Mythen ihren Platz behaupten.“ Jedes lebendige Judentum, wie immer es seinen Gottesbegriff verstehe, müsse darauf beharren, daß die Vorstellung einer Welt, die sich aus sich selber entwickelt habe, zwangsläufig die Auffassung der Sinnlosigkeit der Welt nach sich ziehe.23 Leibniz’ berühmte Frage, warum etwas sei und nicht vielmehr nichts, der auch Jonas im Prinzip Verantwortung nachspürt,24 ist aus Scholems Sicht jedoch nicht unabhängig von der Frage nach Gott zu beantworten. Mögen beide noch darin übereinstimmen, daß „Gott als Schöpfer“ wichtiger sei als „Gott in seiner Eigenschaft als Offenbarer und Erlöser“, ja, daß sich eine Theologie denken lasse, „in der die einzige Offenbarung eben die Schöpfung selber wäre“,25 so wird in Scholems These der Unerläßlichkeit einer spezifisch religiösen Schöpfungsethik für die Herausforderung durch die Technologie ein gewisser Dissens sichtbar. Jonas’ skeptische, aber letztlich positiv bewertete Frage, ob sich eine Ethik der Verantwortung ohne Rekurs auf die religiöse Kategorie des „Heiligen“ wirksam begründen lasse,26 hätte Scholem sehr dezidiert mit dem Hinweis beantwortet, die Forderungen der religiösen Ethik – die „Forderungen der Gottesfurcht, der Liebe zu Gott, der Demut und vor allem der Heiligung, die ohne eine Beziehung zur religiösen Sphäre nicht gedacht werden können“ – stünden „zu einer säkularisierten Welt in Widerspruch“ und seien „in einer rein innerweltlichen Ethik nicht vollziehbar“.27 Für Jonas’ Versuch, Sinn und Wert des Lebens aus einer inneren Teleologie der Natur heraus zu begründen und eine säkulare Tradition der Verantwortung für die „Heiligkeit des Lebens“ zu stiften,28 läßt Scholems Schöpfungstheologie und seine starke Akzentuierung des Gegensatzes religiöser und säkularer Ethik allerdings keinen Raum. Im Gegenteil: Konnte Jonas auf Grund seiner Philosophie des Lebens eine nicht-religiöse Begründung des „Heiligen“ voraussetzen und fordern: „Wir müssen wieder Furcht und Zittern lernen und, selbst ohne Gott, die Scheu vor dem Heiligen“,29 so formulierte Scholem: „Die säkularisierende Rede von der ‚Heiligkeit des Lebens’ ist eine Quadratur des Zirkels. Sie schmuggelt einen absoluten Wert in eine Welt hinein, die ihn aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus niemals bilden könnte und welcher versteckt auf eine Teleologie der Schöpfung hinweist, die doch von der rein naturalistischen Weltanschauung geleugnet wird.“30 Könnte man sich einen Dialog von Scholem und Jonas im Himmel vorstellen (eine natürlich angesichts von Jonas’ Interpretation des Todes und des Begriffes der Unsterblichkeit undenkbare Möglichkeit),31 so wäre es mehr als spannend, Zeuge der Konfrontation dieser beiden unterschiedlichen Perspektiven zu werden. Ungeachtet der gegensätzlichen Auffassung, die in den zuletzt angeführten Formulierungen aufscheint, hätte Jonas Scholems Kritik der Schöpfungsvergessenheit der modernen Gesellschaft und seiner Überzeugung, eine „technologische Welt“, die sich hemmungslos optimistisch auf die Beherrschung der Natur stürze, müsse mit der Welt des Judentums zwangsläufig in einen Konflikt „von ungemilderter Vehemenz“ geraten, wohl bedingungslos zugestimmt. Wenn Scholem die Befürchtung äußert, der Mensch wäre in einer solchen Welt unbegrenzter technologischer Macht „ein hilfloses Instrument ihn überrollender Gewalten und zugleich ein atomisiertes, isoliertes Detail, das schutzlos vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit steht“,32 so erinnert das unweigerlich an Jonas’ Diagnose der Gefährdung der Würde und Verantwortung des Menschen in einer der Dimension des Transzendenten und des Anspruches der Gottesebenbildlichkeit beraubten säkularen Gesellschaft.33 So verwundert es nicht, daß beide Denker angesichts der Entzauberung des Kosmos und der Welt durch die moderne Naturwissenschaft mit ihrem Hang zur technologischen Bemächtigung die Kategorie der Ehrfurcht, des Heiligen und des Geheimnisses neu zur Geltung zu bringen versuchten – Jonas in seinem persönlichen Glauben an den ohnmächtigen Schöpfergott und dem Hinweis, es gebe „ein Geheimnis, das uns alle über die zeitgebundenen, privaten, persönlichen Stellungnahmen hinaus, die wir geistig und bewußt vollziehen, bindet“,34 Scholem im Verweis auf das Grundgefühl jüdischer Mystik und der eindringlichen Warnung vor ihrem Verlust: „Wenn das Gefühl, daß die Welt ein Geheimnis birgt, je aus der Menschheit entschwindet – ist alles zu Ende. Ich glaube aber nicht, daß es so weit mit uns kommen wird …“35