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I.
ОглавлениеProvozierend läßt sich sagen, daß für einen großen Teil der Weltöffentlichkeit mit Heideggers Werk die klassische deutsche Philosophie ad absurdum geführt worden war. So, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede von einem deutschen „Sonderweg“ verbot und Adenauers wahrlich geschichtliche Leistung darin bestand, Deutschland endgültig in Westeuropa einzubinden, so war es nach der extremen Eigenwilligkeit des Heideggerschen Denkens – und zwar noch unabhängig von dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus – für deutsche Intellektuelle unbedingt geboten, sich in viel intensiverer Weise um die Rezeption insbesondere des angelsächsischen Denkens zu bemühen, als dies im neunzehnten Jahrhundert geschehen war, in dem Schopenhauer einer der wenigen Philosophen gewesen ist, der etwa David Hume gründlich studiert hat. Jürgen Habermas ist der Reeducation-Philosoph der Bundesrepublik gewesen (insofern ist, auch wenn er das wohl nicht gerne hören wird, seine Rolle in der Philosophie derjenigen Adenauers in der Politik wesensverwandt), und Karl-Otto Apels Peirce-Buch13 war prägnanter Ausdruck dieser Wendung zum Westen (einschließlich der USA). Die Metaphysikkritik Apels und Habermas’, die durch ihre These (oder besser: deren besondere Interpretation) von den drei Paradigmen der Ersten Philosophie abgestützt wurde,14 war wohl auch als Beitrag zur Überwindung der Isolation der deutschen Philosophie intendiert, weil sie das Gespräch mit Pragmatismus und analytischer Philosophie ermöglichte und zu einer intersubjektivitätstheoretischen Rechtfertigung der Demokratie führen sollte. Nur ein deutscher Philosoph wie Jonas, der seit 1933 in englischsprachigen Ländern gelebt hatte, konnte es sich leisten, weiterhin die analytische Philosophie zu ignorieren (viel lernte er freilich von dem Briten Alfred N. Whitehead).
In der Tat kann man einräumen, daß ein starkes Interesse an Metaphysik und ein wesentlich geringeres Interesse an der Rechtfertigung von Demokratie, wenn nicht gar ihre klare Ablehnung, zwei wichtige Merkmale der deutschen Philosophie bis 1945 waren und daß Heidegger diese Tendenzen nur bis zur Unerträglichkeit gesteigert, aber keineswegs neu geschaffen hat. Natürlich ist der erste Teil dieser Aussage problematisch, weil es keinen Nationalgeist an sich, also unabhängig von den Individuen gibt, in denen er sich manifestiert. Aber es ist trotzdem richtig, darauf zu verweisen, daß in bestimmten Kulturen bestimmte Eigenschaften sich eher finden als in anderen, was auch immer die Ursachen dafür sind. Ich will hier nicht der Frage nachgehen, ob etwa die Ausgrenzung einer deutschen Philosophie im Mittelalter mehr ist als eine bequeme, aber letztlich willkürliche Grenzziehung15 – klar ist, daß spätestens seit der Verwendung des Deutschen als philosophischer Fachsprache im achtzehnten Jahrhundert eine eigene deutsche Nationalphilosophie existiert.
Den meisten ihrer Vertreter ist folgendes gemeinsam: Erstens sind die religiösen Wurzeln der klassischen deutschen Philosophie stark, stärker als etwa in Frankreich. Gleichzeitig ist die deutsche Religiosität intellektueller als etwa die englische oder gar die US-amerikanische: Philosophische Religiosität bedeutet in Deutschland einfach, daß man der Welt auf den Grund kommen will, selbst wo das nicht mit der positiven Religion im Einklang steht. Schon bei Jakob Böhme zeigt sich ein außerordentliches Bedürfnis, unabweislichen Fragen, die mit der Natur Gottes zusammenhängen, mit Mitteln der Vernunft nachzugehen, auch wenn dies von der naiven Orthodoxie abführt, und im Deutschen Idealismus wurde diese Tendenz auch innerhalb der akademischen Philosophie dominierend.16 Da gleichzeitig eine voluntaristische Gotteslehre in Deutschland auf wenig Sympathien stieß, wurde zweitens eine apriorische Konstruktion der Wirklichkeit verlockend: Wenn Gott rationale Gründe für die Schöpfung dieser und keiner anderen Welt hatte, müßte es im Prinzip möglich sein, den Strukturen der Welt durch Nachdenken beizukommen. Auch derjenige große deutsche Philosoph, der dem Empirismus am meisten Zugeständnisse machte, Kant, ist nach britischen Maßstäben selbst im Bereich der theoretischen Philosophie ein weitgehender Aprioriker, ganz zu schweigen von der praktischen Philosophie, in der er Humes Ansatz diametral entgegengesetzt ist. Kants anti-eudämonistische Ethik ist drittens sicher einer der folgenreichsten Programme für die deutsche Philosophie gewesen. Seine Forderung nach unbedingter Konsequenz und die Ablehnung synkretistisch-halbherziger Positionen sind viertens formale Merkmale, die man auch bei einem so antikantischen Denker wie Nietzsche wiederfindet. Nietzsches Wurzeln im Historismus sind offenkundig, und in der Tat kann man in dem besonderen Interesse an der Geschichte ein fünftes Merkmal der deutschen Philosophie erblicken. Vermutlich auf Grund des spekulativen Schwerpunktes hat es die deutsche Philosophie – sechstens – lange Zeit verschmäht, sich in die Niederungen der Praxis hinabzulassen; selbst ein so unstrittiger Universalist und Republikaner wie Kant kann auf Grund seiner Lehre vom Widerstandsrecht schwerlich als Denker gepriesen werden, der zur Demokratisierung der Deutschen beigetragen hat.
Die meisten dieser Merkmale sind bei Heidegger unschwer wiederzuerkennen, allerdings in einer neuen Mischung, die erst eigentlich verhängnisvoll wurde.17Sein und Zeit verbindet auf höchst innovative, ja geniale Weise vier philosophische Stränge, die vorher relativ unabhängig voneinander existierten. Erstens setzt Sein und Zeit die transzendentalphilosophischen Reflexionen über die Beziehungen zwischen Subjektivität und Zeitlichkeit fort, wie sie bei Descartes und Kant einsetzen und von Husserl auf ein neues Niveau gehoben worden waren. Zweitens gelingt es Heidegger, anders als dem frühen und mittleren Husserl, von diesen Reflexionen die Brücke zu schlagen zu einer Theorie der Geschichtlichkeit, wie sie das Zentrum der philosophischen Bemühungen Diltheys ausmachte, der für Heidegger meines Erachtens wichtiger war als Husserl. Drittens wird die Zeitlichkeit des Daseins zur Sterblichkeit zugespitzt; damit gelingt es Heidegger, den Tod wieder zu einem zentralen Thema der Philosophie zu machen, was er lange nicht gewesen war, und damit der Philosophie eine neue existentielle Intensität zu sichern. Verbunden wird die transzendentalphilosophische Reflexion viertens mit einer Neubesinnung auf die Seinsfrage: Einerseits ist das Dasein durch eine besondere Beziehung zum Sein ausgezeichnet, andererseits wird das Dasein in die Welt eingefügt und der Weltlosigkeit der Husserlschen Epoché entrissen.
Das Zusammenführen so unterschiedlicher Ansätze bleibt eine der größten Leistungen der Philosophiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: An der philosophischen Größe Heideggers, insbesondere an seinem neue Wirklichkeitsschichten erschließenden phänomenologischen Blick, ist – leider! – nicht zu rütteln.18 Aber gerade wegen dieser Größe sind Heideggers Engführungen um so verderblicher. Von besonderer Relevanz ist, daß Heideggers Ansatz die Ethik auflöst. Von einer objektiven Sittenlehre ist bei ihm nicht die Rede; letztlich reduziert sich die Moral auf das Gebot, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen. Dadurch erhält Sein und Zeit zwar den Anschein eines besonderen moralischen Pathos, das freilich um so leerer ist, als es mit keiner der üblichen moralischen Pflichten vermittelt ist. Was bei Heidegger eine Weihe erfahren kann, ist etwa, daß man im Krieg dem Tode ins Auge schaut; eine Theorie des gerechten Krieges freilich wird man bei ihm vergeblich suchen. Ja, mehr noch: Eine solche Theorie ist auf der Grundlage seines Ansatzes gar nicht denkbar. Dies gilt noch mehr für den späten Heidegger, der im Gefolge Diltheys den Gedanken der Geschichtlichkeit zu einer Theorie der Inkommensurabilität der verschiedenen Manifestationen des Seins steigert.19 Mit diesem Ansatz ist die Auffassung unvereinbar, es gebe ein allgemeingültiges Sittengesetz, und noch weniger ist eine eigenständige Ethik innerhalb eines Ansatzes denkbar, in dem eine verantwortliche, autonome Subjektivität vom Sein gleichsam verschluckt wird. Das besonders Irritierende am späten Heidegger ist wiederum, daß sein Denken der metaphysischen Tradition zuzugehören scheint, was einesteils auch wirklich zutrifft, wobei andernteils die entscheidenden Gedanken der metaphysischen Tradition, insbesondere der Zusammenhang zwischen Metaphysik und Ethik, preisgegeben, ja in ihr Gegenteil verkehrt werden: Denn Heideggers Sein ist vollständig wertfrei. Während jeder, der an jener Tradition hängt, in Nietzsche ihren Feind erkennt, ist deren Pervertierung durch Heidegger, weil sie zum Teil in der Sprache jener Tradition erfolgt, viel schwerer zu durchschauen und daher viel gefährlicher. Hinzu kommt, daß der radikale Historismus des späten Heidegger den Glauben an die Fähigkeit der menschlichen Vernunft lähmt, zeitlose Wahrheiten zu erkennen, worin traditionell die Aufgabe der Metaphysik bestand. Nicht um das Sein und seine Strukturen geht es Heidegger nach der Kehre, sondern um die Art und Weise, wie in den einzelnen Epochen das Sein erfahren wird – also um Metaphysikgeschichte, nicht um Metaphysik. Freilich ist es richtig, daß sich in dieser Geschichte der Metaphysik nach Heidegger das Sein selbst enthüllt (so daß seine Philosophiegeschichtsschreibung philosophisch inspiriert bleibt). Das gilt auch und gerade für die Epoche fortgeschrittenster Seinsvergessenheit, nämlich diejenige der modernen Technologie, deren Wesen und Konsequenzen Heidegger in der Tat wie kaum ein anderer, und früher als alle anderen Philosophen, durchschaut zu haben beanspruchen kann – auch wenn er vor ihr, mangels jeder Ethik, nur zu kapitulieren vermochte.
Worin zeigt sich die Abhängigkeit Jonas’ von Heidegger?20 Sein erstes großes Werk, das zweibändige Gnosis und spätantiker Geist, erschloß eine wenig erforschte Epoche der Geistesgeschichte neu durch die Anwendung von Kategorien, die Jonas der Daseinsanalytik Heideggers entnommen hatte, wie „Verfallen“ und „Geworfenheit“. Nicht minder ist inOrganismus und Freiheit der Einfluß Heideggers mit Händen zu greifen. Etwas überspitzt kann man sagen, daß die organische Seinsform, um die es Jonas geht, eine Verallgemeinerung des Heideggerschen Daseins ist. Die Sorge, so könnte man sagen, ist zwar nicht allen Organismen eigentümlich, aber sie kann sich nur entwickeln auf der Grundlage der organischen Seinsform. Das Vorlaufen zum Tode setzt Sterblichkeit voraus, und die ist nur die Kehrseite des Lebens. Aber warum? Weil das Leben wesentlich prekär ist, und zwar auf Grund seiner Angewiesenheit auf den Metabolismus. Damit freilich ist das Leben durch eine neue Form von Zeitlichkeit vom Anorganischen geschieden: Durch den Energie- und Stoffwechsel ist die Zeitlichkeit dem Organismus gleichsam immanent: Innerhalb einer bestimmten Zeit muß der Organismus ein bestimmtes Quantum an Energie und Materie austauschen, wenn er überleben soll. In einem gewissen Sinne radikalisiert Jonas nur die in Sein und Zeit begonnene Transzendierung der Husserlschen Bewußtseinsimmanenz: „Und so weit Heidegger sich auch von Husserl entfernte, so blieb er doch im Bannkreis der deutschen idealistischen Tradition, die Wirklichkeit dadurch zu erkennen, zu erfassen, philosophisch zu meistern, daß man in sich selber hineinschaut. […] Zum Beispiel das Hungergefühl als eine innere Sensation, das läßt sich phänomenologisch beschreiben, wie das so ist, wenn man Hunger empfindet. Was man aber durch keine Bewußtseinsanalyse und keine Daseinsanalyse herauskriegt, ist, wieviel der Mensch zum Beispiel nötig hat, um am Leben zu bleiben.“21
Analog ist auch imPrinzip Verantwortung die erschließende Kraft der Daseinsanalytik Heideggers unverkennbar. Insbesondere die Theorie der Verantwortung im zentralen vierten Kapitel atmet den Geist von Sein und Zeit. Von den drei Merkmalen, die Jonas dem Begriff der Verantwortung zuschreibt – Totalität, Kontinuität und Zukunft –, haben die beiden letzteren mit Zeitlichkeit zu tun, und insbesondere wirkt der Vorrang, den Heidegger der Zukunft zuweist, bei Jonas nach: Die Abschnitte IV und V des vierten Kapitels loten die Bedeutung der Zukunft für den Begriff der Verantwortung aus. Entscheidender noch ist Jonas’ Beharren darauf, daß es Verantwortung nur für Seiendes von organischer Seinsweise geben könne, denn nur dieses sei wesentlich gefährdet und vergänglich. Zwar erkennt Jonas eine Verantwortung des Künstlers für sein Werk an, aber auch diese gebe es nur angesichts möglicher menschlicher Rezipienten des Werkes, und im berühmten Konfliktfall sei selbstverständlich das Kind vor der Sixtinischen Madonna aus dem brennenden Haus zu retten.22 Im allgemeinen gelte: „Nur das Lebendige also in seiner Bedürftigkeit und Bedrohtheit – und im Prinzip alles Lebendige – kann überhaupt Gegenstand von Verantwortung sein.“23 Gegen die platonische Bevorzugung des Dauerhaften, auf deren Grundlage Verantwortung nicht zum zentralen Begriff der Ethik habe werden können, betont Jonas: „Aber die Ontologie ist eine andere geworden. Die unsere ist nicht die der Ewigkeit, sondern die der Zeit. Nicht mehr Immerwähren ist Maß der Vollkommenheit: fast gilt das Gegenteil. Dem ‚souveränen Werden’ (Nietzsche) verschrieben, zu ihm verurteilt, nachdem wir das transzendente Sein ‚abgeschafft’ haben, müssen wir in ihm, das heißt im Vergänglichen, das Eigentliche suchen. Damit erst wird Verantwortlichkeit zum dominierenden Moralprinzip.“24 „Nicht sub specie aeternitatis, vielmehr sub specie temporis muß sie die Dinge ansehen, und sie kann ihr Alles in einem Augenblick verlieren.“25 Verantwortung ist für Jonas „das moralische Komplement zur ontologischen Verfassung unseresZeitlich seins.“26