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Abschied vom deutschen Judentum. Zionismus und Kampf um die Würde im politischen Denken des frühen Hans Jonas
Оглавление1903 in Mönchengladbach im Milieu des liberalen jüdischen Bürgertums geboren, gehörte Hans Jonas zur Generation jener jungen „postassimilatorischen“ Juden, die in der Zeit kurz vor oder nach dem Ersten Weltkrieg trotz selbstverständlicher sozialer und kultureller Integration in Deutschland neu mit ihrer jüdischen Identität konfrontiert wurden und aus dem Empfinden der bleibenden Differenz zur nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft heraus so etwas wie eine religiös-kulturelle oder nationale „jüdische Renaissance“ verkörperten.1 Er wuchs in einem Umfeld auf, in dem das Jüdische weniger in der Erfahrung alltäglicher religiöser Praxis als vielmehr in dem Willen zur Bewahrung des Judentums und in einem kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck kam. Als Jugendlicher wurde er Zeuge der patriotischen Begeisterung der jüdischen Gemeinschaft zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die eng mit der Hoffnung verbunden war, der Beweis der Zugehörigkeit zur „Schicksalsgemeinschaft“ des deutschen Volkes werde zur endgültigen Anerkennung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden beitragen. Wenig später erlebte er jedoch die tiefe Desillusionierung, die mit der antisemitisch motivierten „Judenzählung“ 1916 und der präzedenzlosen Welle antijüdischer Verleumdung und Gewalt im Übergang vom wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik einherging, und wandte sich daher schon früh zionistischen Überzeugungen zu. Die von heftigen ideologischen Streitigkeiten begleitete Abgrenzung vom Vater, dem Vorsitzenden des örtlichen Zweiges des „assimilatorischen“ Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), in dem antizionistische Polemik ebenso selbstverständlich war wie die „Abwehrarbeit“ gegen den Antisemitismus, mag dabei eine gewisse Rolle gespielt haben.2 Prägend für das politische Selbstverständnis des jungen Hans Jonas war jedoch vor allem das frühzeitig ausgeprägte „Bewußtsein eines Außenseitertums“, die Erfahrung, trotz aller Integration eine stets von judenfeindlicher Entlarvung bedrohte „Sonderexistenz“ zu führen: „Jede Spur von Antisemitismus“, so stellte er rückblickend fest, „bestärkte mich darin, daß wir Fremde sind.“3 Aus dieser Zeit jugendlicher Identifikation mit nationaljüdischen Ideen rührte das tiefverwurzelte Empfinden für die Gefährdung der Würde der jüdischen Bürger her, das Jonas’ politische Wahrnehmung schärfte. Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Juden vertraute er nicht darauf, daß es sich bei dem zu Beginn der Weimarer Republik aufbrandenden Judenhaß um eine vorübergehende Erscheinung handelte, sondern teilte die Auffassung Theodor Herzls oder Leon Pinskers, derzufolge der Antisemitismus nur durch „Selbstemanzipation“, die stolze Bejahung jüdischer Identität, und letztlich durch die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina überwunden werden könne. Als Schüler hegte Jonas in dieser ideologischen Aufbruchszeit „dreams of glory“, wie er später nicht ohne Selbstironie bekannte – Heldenträume, die ihm eine herausragende Rolle bei der Befreiung der Juden aus dem immer stärker von rechtsradikalen Bewegungen bedrohten Deutschland einräumten:
„In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland Verbände wie der Stahlhelm und die Nationalsozialisten aufkamen (die man zu Beginn noch nicht so sehr ernst nahm), aber auch die aggressiv antisemitischen sogenannten Freikorps, da habe ich mir schon gedacht, daß wir Juden in Deutschland direkt physischen Attacken ausgesetzt sein würden. Ich habe mir dann vorgestellt, wie wir uns, im Schießen ausgebildet und mit Waffen versehen, in unseren Häusern verschanzen und dem bewaffneten Angriff dieser Judenfeinde Widerstand leisten würden. Das war ein Traum, aber jedenfalls leistete man Widerstand: ‚Nur nicht einfach wehrlos sein!’ Gleichzeitig ging es darum, sich auf diese Weise Achtung zu erringen. Als sich dann mein Zionismus entwickelte, war mir sofort klar, daß diese Strategie bestenfalls eine vorübergehende Sache sei und daß es in Wirklichkeit darauf ankam, nach Palästina auszuwandern. Ich stellte mir vor – und das war mein letzter dream of glory, denn dann wurde ich genügend Realist, um auf solche Träume zu verzichten –, daß ich mich an der Spitze einer bewaffneten jüdischen Armee, die sich in den verschiedenen Gegenden der Galut gebildet hatte, begleitet von Frauen und Kindern, durch ein feindliches Europa auf dem Landweg über den Bosporus durch Kleinasien bis nach Palästina durchschlagen würde. Ich sah mich in diesem Traum als Heerführer dieses Restes der jüdischen Verzweifelten, die sich nach schrecklichen Verfolgungen selbst retteten und nun im Land ihrer Väter ankamen, und ich war einigermaßen erstaunt, als ich Jahre später las, daß das auch der Jugendtraum von Ferdinand Lassalle war! Genau derselbe, daß er als der Führer eines bewaffneten jüdischen Zuges Palästina für einen jüdischen Staat erobern würde.4 Ebenso wie ich erfreulich erstaunt war, als ich viel später, nämlich erst vor wenigen Jahren, las, daß der Jugendheld von Sigmund Freud Hannibal war,5 und zwar aus demselben Grund, aus dem Hannibal in meiner Schulzeit auch mein großer Geschichtsheld war – der große semitische Feldherr, der es den ‚Ariern’ aufs Dach gegeben hatte, der gezeigt hatte, daß man mit den ‚Semiten’ nicht einfach so umspringen kann.“6
In die Zeit seiner Hinwendung zum Zionismus und der Aktivitäten in der jüdischen Jugendbewegung, in der „der Geist Martin Bubers mächtig wehte“,7 begann sich Jonas ausgiebig mit der jüdischen Tradition zu befassen. Was seine akademische Ausbildung betrifft, so gewann allerdings sein Interesse an der Philosophie die Oberhand über seine judaistisch-theologischen Neigungen. 1921 studierte er zunächst in Freiburg beim berühmten Phänomenologen Edmund Husserl, der – als konvertierter Jude und nationaldeutscher Professor – Jonas’ zionistischen Aktivitäten mit äußerster Skepsis begegnete,8 und beim jungen Privatdozenten Martin Heidegger. Wenig später ging Jonas nach Berlin, um sich neben der Philosophie und Religionsgeschichte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums auch dem Studium der jüdischen Geschichte und Tradition zu widmen. In dieser Zeit kam er intensiver mit der zionistischen Studentenbewegung in Berührung und dachte – tief beeindruckt von Martin Bubers Diagnose der Zwiespältigkeit jüdischer Existenz in der Diaspora und seinem Plädoyer für die Bewußtwerdung der geistigen und ethischen Werte des jüdischen Volkes – verstärkt darüber nach, sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorzubereiten.
Politische Stellungnahmen zur zionistischen Ideologie und Praxis aus Jonas’ Feder liegen aus dieser Zeit nicht vor, doch sein Aufsatz über „Die Idee der Zerstreuung und Wiedersammlung bei den Propheten“, der 1922 in der Zeitschrift Der Jüdische Student erschien, gestattet zumindest einen Blick auf die politischen Implikationen seiner zionistisch inspirierten Lektüre der Bibel. Hinter seiner religionsgeschichtlichen Analyse der Entwicklung des prophetischen Motivs des Exils als Strafe für die Versündigung des Volkes Israel und der nachexilischen Hoffnung auf eine Rückkehr ins Land der Verheißung scheint unverkennbar das Leiden des modernen Zionisten an der „Nacht der Galut“ durch. Mit „einem seltsamen Gefühl“ las Jonas „jene düsteren Verkündigungen eines in der Geschichte einzig dastehenden Strafaktes der beleidigten Gottheit gegen ihr abtrünniges Volk – der Entwurzelung aus der Heimaterde unter die Völker. Erkennen wir doch in diesen prophetischen Drohungen zutiefst die beispiellose Tragik unseres eigenen Völkerdaseins wieder, damals erschaut in visionärer Zukunftsschau und gefordert von dem Glauben an die in der Geschichte sich auswirkende sittliche Weltordnung, heute seit mehr als zwei Jahrtausenden Wirklichkeit und dauernde Gegenwart.“9 Zwar betonte Jonas, wie sehr das kollektive Gedächtnis des jüdischen Volkes davon bestimmt sei, daß das Wohnen im gelobten Land ein Geschenk des Ewigen und keine historische Selbstverständlichkeit sei. Er wandte sich aber zugleich eindeutig gegen die seit dem neunzehnten Jahrhundert typische jüdischliberale Verabschiedung der religiösen Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion und stellte der „moderne[n] liberal-jüdische[n] Missionsidee“, derzufolge gerade das Exil dem Judentum die Möglichkeit einer universal wirksamen Verbreitung des prophetischen „ethischen Monotheismus“ eröffnet habe, die Überzeugung der Propheten von der zukünftigen Wiederherstellung des jüdischen Volkes entgegen: „So sehr sie [die Juden] sich auch mit ihrem Gott identifizierten, so war doch die Vorstellung, daß ihr Volk auf ewig als Zerrbild der Nationen zwischen Leben und Sterben hangen sollte, für sie schlechthin unerträglich.“10 Ausdrücklich spielte er nicht nur auf die von Zionisten nicht selten aufgenommene Ahasver-Metaphorik an, um das Exil im Gegensatz zur liberalen Interpretation als Ort uneigentlicher, „ungesunder“ jüdischer Existenz zu beschreiben, sondern setzte die prophetischen Visionen vom Ende des Exils auch in Beziehung zu Theodor Herzls Programm der Schaffung eines „Judenstaates“ und postulierte damit die Notwendigkeit, in der gegenwärtigen Situation der Steigerung des europäischen Antisemitismus die Verwirklichung der religiösen Zionshoffnung in die eigenen Hände zu nehmen.11
Nachdem Jonas sein Studium für kurze Zeit unterbrochen hatte, um im Rahmen der Hachschara-Organisation, die jungen Zionisten eine landwirtschaftliche Ausbildung zur Vorbereitung auf die Einwanderung nach Palästina vermittelte, in Wolfenbüttel in einem bäuerlichen Betrieb zu arbeiten, entfaltete sich sein weiterer intellektueller Werdegang scheinbar unabhängig von seinen zionistischen Ambitionen in der fruchtbaren Atmosphäre der Marburger Universität. Hier begegnete er Hannah Arendt und einem Kreis jüdischer Studierender, der ihm intellektuell anregend, aber politisch auf Grund der dort herrschenden apolitischen Begeisterung für Heideggers Philosophie und der Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Krisen der Weimarer Republik äußerst zwiespältig erschien. Dabei interessierte sich Jonas selbst auch nicht für die politische Gestaltung der deutschen Gesellschaft, sondern konzentrierte sich angesichts des Ende der zwanziger Jahre stetig wachsenden Antisemitismus darauf, „daß die jüdische Galut-Existenz – menschlich, psychologisch und politisch – auf die Dauer unhaltbar war und mit Hilfe der zionistischen Lösung überwunden werden mußte.“12 1933 gehörte Jonas folgerichtig zu jenen, die unmittelbar nach Hitlers „Machtergreifung“ das Ende des deutschen Judentums gekommen sahen und daraus die Konsequenz der Emigration zogen. Später hat er diese Überzeugung und die Neigung der deutschen Zionisten, bereits die ersten Entrechtungsmaßnahmen als unwiderrufliche Aufhebung der Integration zu deuten, in einem heftigen Streit mit Hannah Arendt verteidigt.13 Als 1934 Jonas’ von Martin Heidegger und Rudolf Bultmann inspiriertes frühes Meisterwerk Gnosis und spätantiker Geist erschien, hatte er Nazi-Deutschland unter dem Eindruck des antijüdischen Boykotts vom 1. April 1933 längst verlassen, da er zu der Auffassung gelangt war, er könne in einem Land, in dem Juden ihrer Bürgerund Menschenrechte beraubt würden, nicht bleiben, ohne seine Würde zu verlieren. Nachdem er zunächst nach London gezogen war, gelangte er 1935 nach Jerusalem, wo er in die Welt der deutsch-jüdischen Emigranten und der Hebräischen Universität eintauchte. Die Gefühle, die ihn bei seinem Fortgang aus Deutschland erfüllten und seine Entscheidungen in den kommenden Jahren bestimmen sollten, sind in einer Passage seiner Erinnerungen eindrucksvoll beschrieben:
„An den Tag, als ich Deutschland verließ, erinnere ich mich genau. Es war ein wunderschöner Spätsommertag Ende August, und meine Eltern und ich gingen in unserem Garten auf und ab […]. Bis dahin war keine Träne über alle Geschehnisse vergossen worden, auch nicht über den Beschluß der Auswanderung, aber als es dann soweit war und die letzte halbe Stunde, die letzten zehn Minuten anbrachen, da fingen wir schrecklich an zu weinen. Und ich tat einen heimlichen Schwur, ein Gelöbnis: Nie wiederzukehren, es sei denn als Soldat einer erobernden Armee. Ich habe bereits erwähnt, daß meiner Phantasie ein gewisser militaristischer Zug zu eigen ist, und ich meinte, Juden könnten, gerade weil sie als Weichlinge, Feiglinge und Schwächlinge galten, Ehrenbeleidigungen überhaupt nur mit Blut abwaschen. Und hier – ganz abgesehen von der Bedrohung unserer ökonomischen Existenz, die der Judenboykott ja klar signalisierte, und von der drohenden Ghettoisierung, auf die die Ereignisse hindeuteten – erfaßte mich das Grundgefühl, daß man meine Ehre beleidigt hatte, daß man durch die Absprechung unserer Bürgerrechte und die anderen rechtlichen Schikanen, die wir Juden nun mehr und mehr von Staats wegen erfuhren, unsere Ehre als Menschen verletzte. Ich hatte instinktiv das Gefühl, das könne nur mit der Waffe in der Hand wieder ausgeglichen werden.“14
Ob Jonas’ jugendliche „dreams of glory“, die entschlossene Emigration 1933 oder das Bewußtsein eines zwangsläufig bevorstehenden Krieges – stets stand dahinter ein empfindsames Bewußtsein der Würde, die er sich als Jude auf keinen Fall nehmen lassen wollte. Diese von Stolz auf sein Judesein und von tiefer Verletzung durch den Antisemitismus bestimmte Haltung und die Begegnung mit den zionistischen Pionieren in Palästina, deren Leistungen man, wie er rückschauend schrieb, „dieser ganzen schmachvollen Judenverleumdung, an die man vom europäischen Antisemitismus gewöhnt war und die ihren Höhepunkt in der Untermenschentheorie der Nazis fand, getrost entgegenstellen konnte“,15 sollten mehr als ein Jahrzehnt seines Lebens existentiell prägen. Aus dem Privatgelehrten, der sich darauf eingestellt hatte, in Deutschland seine religionsgeschichtlichen Studien zur Gnosis fortzusetzen, wurde ein homo politicus, der weit über das bei vielen anderen Zionisten erkennbare persönliche Engagement hinaus für die Sache Palästinas und für die Rettung der Juden Europas aus der Hand der Nazis eintrat und dafür seine akademischen Ambitionen aufs Spiel setzte, und ein Philosoph, der in Auseinandersetzung mit Krieg, Tod und Vernichtung ganz neu über das Leben nachzudenken begann. Wie sehr Jonas bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vom Ende des deutschen Judentums überzeugt war und wie sehr ihn die Verfolgungen in Nazi-Deutschland erschütterten, zeigt ein Radiovortrag, den er 1938 in Jerusalem im Gedenken an seinen soeben verstorbenen Lehrer Edmund Husserl hielt. Er begann mit folgenden charakteristischen Worten:
„Anfang Mai starb Edmund Husserl, einer der Großen der Philosophie unserer Zeit. Er starb in Freiburg, an dessen Universität er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1929 als Haupt einer philosophischen Schule gelehrt und geforscht hat, zu dem die Schüler strömten und von der ein tiefreichender Einfluß auf das philosophische Leben Deutschlands ausging. Er hat eine Generation im Denken erzogen, er hat den Ruhm gekannt und starb vereinsamt in einer verwandelten Umwelt, die ihm nicht einmal mehr Nachrufe widmet. Gegenüber diesem Schweigen im Lande seines Wirkens ist es eine Ehrenpflicht für uns, seiner hier zu gedenken. Er selbst, der das Judentum in jungen Jahren verlassen hatte, ein deutscher Professor war, sich ganz und gar als Diener der europäischen Wissenschaft, als Sachwalter des abendländischen Kulturerbes fühlte, hätte gewiß nie daran gedacht, daß in Jerusalem getan würde, was in Freiburg unterlassen wird. Die Tatsache, daß heute ein Schüler, der vor Jahren zu seinen Füßen gesessen hat, vom Jerusalemer Sender in hebräischer Sprache zu seinem Gedenken sprechen darf, ist für sich selbst ein Symbol für unsere Zeit.“16
Das Leiden an der Verfemung, Entrechtung und Verfolgung der deutschen Juden, die Jonas in der öffentlichen Ächtung Husserls exemplarisch in ihrer ganzen Härte zum Ausdruck kommen sah, verschärfte sich noch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, die für ihn ganz im Zeichen des Kampfes gegen den Nationalsozialismus standen. Unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen meldete sich der Philosoph freiwillig für den Dienst in der britischen Armee, um gegen die Nazis zu kämpfen. Am 7. September 1939 schrieb er an die Leitung der britischen Streitkräfte in Palästina: „In view of the fact that the British Empire is now engaged in a war against Nazi Germany which is bound to last – to quote the words of the Prime Minister – ‚till Hitlerism is destroyed’, as a Palestinian and former German Jew I am eager to take up arms against the enemy of my people and not only to assist the British Forces in Palestine but to fight as a soldier on the Western front in Europe. I should be grateful to you if you would let me know where I am to enlist for military training.“17
Jonas’ politische Beurteilung der Lage zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Gefühle, mit denen er das Geschehen in Europa von ferne beobachtete, kommen auf unvergleichliche Weise in einem bewegenden, hellsichtigen Dokument aus diesen Tagen der ersten Kampfhandlungen zur Sprache, in dem er die jüdische Jugend in Palästina aufrief, sich aktiv – und zwar in einer eigenen jüdischen Armee! – an der militärischen Bekämpfung Deutschlands zu beteiligen. Der Text mit dem bezeichnenden Titel „Unsere Teilnahme an diesem Kriege. Ein Wort an jüdische Männer“18 zeugt von der Leidenschaft, mit der Jonas für die vom Tod bedrohten Juden in Europa eintrat, dem Entsetzen, das ihm die Drohung einer weiteren Expansion Hitler-Deutschlands einflößte, und der Entschiedenheit, mit der er ganz selbstverständlich die Verantwortung der bis dahin vom Zugriff der Nazis verschonten Juden in Palästina für das Schicksal des gesamten jüdischen Volkes einforderte. Er beginnt mit den Worten:
„Dies ist unsere Stunde, dies ist unser Krieg. Es ist die Stunde, auf die wir mit Verzweiflung und Hoffnung im Herzen diese tödlichen Jahre gewartet haben: die Stunde, da es uns vergönnt sein würde, nach dem ohnmächtigen Erdulden jeder Schmach und jedes Unrechts, jeder physischen Beraubung und moralischen Schändung unseres Volkes, endlich unserem Todfeind Auge in Auge, mit der Waffe in der Hand zu begegnen; Genugtuung zu fordern; bei der großen Abrechnung unsere Rechnung, die die erste war, mit gleichzustellen; und an der Niederwerfung des Weltfeindes, der zuerst der unsere war und es bis zuletzt sein wird, aktiv mitzuwirken. Dies ist der Krieg, durch den allein dies Übel wieder aus der Welt geschafft werden kann; ohne den es fortgewuchert wäre ohne Maß und Grenze, unsere Vernichtung in seiner Spur: darum ist es unser Krieg. Wir haben ein Erstlingsrecht an ihm und eine Erstlingspflicht. Wir haben ihn mitzukämpfen, da er für uns mit gekämpft wird. Wir haben ihn in unserm Namen, als Juden, mitzuführen, da sein Ergebnis unsern Namen wiederherstellen soll. Unsere Opferbereitschaft in ihm darf nicht geringer sein als die der Söhne derjenigen Staaten, die jetzt dem Hitlerismus den Krieg angesagt haben. Individuelle Würde, nationale Ehre und politische Überlegung gebieten gleicherweise unsere volle Teilnahme an diesem Krieg. Sie ist uns Pflicht und muß einem Manne, der diesen Namen verdient, Bedürfnis sein.“19
Die Entstehungsgeschichte und die politischen Hintergründe dieses einzigartigen Textes, der im Kontext der bei Ausbruch des Krieges innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Palästina entbrannten Diskussion mit Blick auf die Stellung zum Krieg in Europa zu verstehen ist, sind an anderer Stelle beleuchtet worden.20 Seine Wirkung blieb, wie Jonas selbstkritisch eingestand, mehr als begrenzt, da er in deutscher Sprache verfaßt war und somit wenig Verbreitung fand. Zudem handelte es sich letztlich um eine private Initiative, die aus der Sicht der zionistischen Führung zunächst sogar im Gegensatz zu den Sicherheitsinteressen der jüdischen Gemeinschaft in Palästina stand. Auch die Vertreter Großbritanniens und Frankreichs standen der Idee einer eigenständigen Jüdischen Legion zunächst völlig ablehnend gegenüber. Erst 1944 entstand – dank der Unterstützung Winston Churchills – offiziell die Jewish Brigade Group, die schließlich als eigenständige Kampftruppe der britischen Armee im östlichen Mittelmeer, in Nordafrika und in Italien eingesetzt wurde.21
Ungeachtet der Wirkungslosigkeit des Aufrufes von Hans Jonas handelt es sich um ein faszinierendes Dokument, das persönliche Leidenschaft mit einer außergewöhnlichen politischen Klarheit verbindet. Der Text bringt exemplarisch die tiefe Verletzung der noch rechtzeitig nach Palästina entkommenen deutschjüdischen Emigranten angesichts der Entwürdigung des deutschen Judentums durch Entrechtung und Terror sowie sein ohnmächtiges Ausgeliefertsein an den Vernichtungswillen der Nazis zur Sprache. Dieser Ohnmacht setzt Jonas die Wirklichkeit des Zionismus entgegen, der „das Ghettovolk zur Nation“ gemacht, es „als Subjekt in die Völkerarena geführt“ und so „zum Wagnis selbsthandelnder geschichtlicher Existenz verpflichtet“ habe.22 Es sei deshalb die ureigenste Pflicht der Juden Palästinas, für die Rettung der europäischen Juden zu kämpfen. Jonas’ Wissen darum, daß das Judentum als Gegenprinzip und „metaphysischer Feind“ des Nationalsozialismus bei einem deutschen Sieg dem Untergang geweiht war,23 spricht für die Illusionslosigkeit, mit der er nicht nur bis dahin die Nazi-Verfolgung wahrgenommen hatte, sondern auch – lange vor der Wannsee-Konferenz – erahnte, mit welcher Zwangsläufigkeit sie auf eine Politik des totalen Völkermordes hinauslief. Bis dahin war es ein „einseitiger Krieg“ gewesen, in dem Juden ohnmächtig hinnehmen mußten, was ihnen zugefügt wurde:
„Erinnern wir uns: Tausende jüdischer Existenzen vernichtet, tausende jüdischer Herzen gebrochen, tausende jüdischer Menschen geplündert, gequält, verjagt; in den Selbstmord getrieben; wie Vieh verfrachtet und ins Nichts gestoßen. Denkt an die Flüchtlingsschiffe mit ihrer Verzweiflungsfracht, diese Höllenvision unseres Jahrhunderts. Denkt an Schanghai. Zusehen mußten wir, wie unser Name geschändet, unsere Werte erniedrigt, unsere Synagogen verbrannt, unser Heiligstes entweiht wurde. Wo wir Bürger waren, hat man uns unter das Tier erniedrigt und jeder Bube durfte uns bespeien – wir mußten es dulden! Selbst die wehrlosen Seelen unserer Kinder sahen wir als Opfer dieses wahrhaft satanischen Hasses in ihrer Blüte geknickt. Eingebrannt in unsere Seelen lebt dieser Schmerz und kann nicht schweigen. Und keine Gegenwehr war möglich, nicht einmal der Versuch eines Kampfes! Preisgegeben waren wir der frechsten Macht, die zu unserm Elend noch den Hohn fügte.“24
Wie ein Leitmotiv zieht sich durch den Text die Forderung, um der eigenen Selbstachtung willen den Beweis dafür zu führen, „daß wir nicht Parias sind, die nur ohnmächtig ihren Grimm herunterschlucken“, und die eigene Ehre wiederherzustellen.25 Wenn Jonas in diesem Zusammenhang von einem „‚bellum Judaicum’ in des Wortes tiefster Bedeutung“ sprach, der im Gegensatz zu jenem der Antike „nicht ein Krieg der Katastrophe, sondern ein Krieg unserer Rettung aus der jüdischen Katastrophe, nicht Juda gegen die Welt, sondern Juda mit der Welt gegen den Weltfeind“ sein sollte, so brachte er unüberhörbar den tiefen Zusammenhang zur Sprache, den er zwischen dem Schicksal des jüdischen Volkes und den Interessen der westlichen Demokratien gegenüber einem Sieg des „Nazi-Prinzips“ und des „Kults der menschenverachtenden Macht“ erkannte.26
Noch deutlicher werden Jonas’ Motive in einem Brief an seinen nach Hawaii entkommenen Cousin Gerry, in dem er im Sommer 1941 Rechenschaft über seine politischen Überzeugungen und seine seelische Verfassung seit dem Verlassen Deutschlands ablegte.27 In diesem sehr persönlichen Schreiben, in dem sich Jonas „die Besessenheit der vergangenen Jahre von der Seele schreiben“ wollte, kehren die Leitmotive des Textes von 1939 wieder – das Ringen um die Bewahrung jüdischer Selbstachtung, der Schmerz über das Leid des jüdischen Volkes und das Bewußtsein, daß in diesem Krieg die Grundlagen der westlichen Zivilisation auf dem Spiel standen, ergänzt durch Reflexionen über Haß, Rache, die Gewalt des Krieges und den Pazifismus:
„Ich darf sagen, daß ich früher und vielleicht intensiver als die meisten meiner Landsleute erkannt habe, daß dies in einem höchst schicksalhaften und unausweichlichen Sinne unser Krieg ist: Ob wir kämpfen oder nicht, für uns würde Hitlers Sieg die völlige Vernichtung bedeuten – nicht nur hier, sondern überall – und seine Niederlage die einzige Hoffnung auf Überleben. Allein aus diesem Grund sind wir unwiderruflich mit der Sache der demokratischen Staaten verbunden, sogar wenn wir es nicht durch gemeinsame Ideale wären. Was sie angeht, so erkennt jetzt jeder, daß sie weit über eine bloße Regierungsform oder ein soziales Regime herausgehen: sie betreffen die Wurzeln unserer Zivilisation, die grundlegenden Vorstellungen, die die Stellung des Menschen in unserer Welt prägen. Unsere geistige Existenz steht nicht weniger auf dem Spiel als die physische – und ‚unsere’ meint in diesem Fall nicht eine besondere, jüdische, sondern jene, die wir – zum Teil dank unserem eigenen Beitrag zum Erbe des Westens – mit der europäischen Menschheit gemeinsam haben, die durch die Überlieferungen der Antike und des Christentums geprägt ist. Wenn ich diese Fragestellungen bedenke, die hier mitschwingen – welche Werte gefährdet sind und von welchen Gegenwerten – gehe ich sogar so weit, dies als einen Religionskrieg im radikalen Sinne des Wortes zu bezeichnen, obwohl diesmal keine übernatürlichen Glaubensbekenntnisse miteinander im Streit liegen. In jedem Fall befindet sich die Welt, in der ich – als ethisches Wesen – imstande bin, zu atmen, in tödlicher Gefahr. Sollte sie verloren sein und fallen, so will ich sie – in dem unwahrscheinlichen Fall, daß es mir physisch möglich ist – nicht überleben.“
Es erschien Jonas zutiefst als eine Frage jüdischer Würde und der Selbstachtung des zionistischen Gemeinwesens, daß der Krieg gegen Nazi-Deutschland nicht ohne Beteiligung jüdischer Soldaten geführt werde: „Nichts hat in der ersten langsamen, schleppenden Phase des Krieges mein Denken mehr gequält als die Furcht, dies könne geschehen – vielleicht ohne unsere Schuld, gegen unseren Wunsch und Willen, sogar trotz unserer erklärten Bereitschaft, und doch zu unserer unauslöschlichen Schande – denn das Urteil der Geschichte kennt keine Absichten, und seien sie noch so gut, sondern allein Taten.“ Seit langem war Jonas auf Grund seiner frühen Einsicht in den mörderischen Charakter des Nationalsozialismus von der Unvermeidlichkeit eines Krieges überzeugt gewesen:
„Tatsächlich habe ich mich nur darin getäuscht, daß ich ihn viel früher erwartet hatte, wahrscheinlich aufgrund der Ungeduld meiner Gefühle. Ich sehnte mich geradezu danach, mit Deutschland abzurechnen. Ganz freimütig und persönlich gesprochen, kann ich sagen, daß in mir von 1933 an ein heftiger Wunsch nach Rache brannte, und ich schäme mich nicht des Geständnisses, daß – im Zuge des Fortschreitens des scheußlichen Alptraums Jahr für Jahr, mit dem zunehmenden Leid unseres gejagten Volks, verschärft durch das demütigende Gefühl der Ohnmacht, dieser Wunsch, zurückzuschlagen und es denen, die unsere Menschenwürde besudelten, heimzuzahlen, zur beherrschenden Leidenschaft meines Lebens wurde. Ich bekenne mich zu diesem Gefühl umso bereitwilliger, als ich niemals das Vorurteil meiner sanftmütigeren oder feineren Zeitgenossen ihm gegenüber geteilt habe. Es ist, so meine ich, nicht nur ein völlig natürliches, sondern auch ein ehrenwertes und moralisches Motiv, vorausgesetzt, man ist bereit, die eigenen Risiken und Lasten auf sich zu nehmen. Seine Vehemenz ist ein Spiegel der Tiefe der Verletztheit und der Wachsamkeit, die eine Verletzung der Ehre zurückweist. […] Schließlich gibt es Übel, die nach Vergeltung rufen, soll die Welt für den, der es erlitten hat, wieder annehmbar werden. Es gibt Verletzungen, deren Verursacher vernichtet werden muß, soll der Verletzte sein eigenes Leben wieder wertschätzen können. […] Und es obliegt dem, der das Böse erlitten hat, sein Leben und sein Glück aufs Spiel zu setzen im Kampf gegen die fortdauernde Existenz des Bösen, der ihm beides bestreitet. Ihm persönlich entkommen zu sein, bewahrt geblieben zu sein, begründet die Pflicht, ihm besser entgegenzutreten, sobald sich die Gelegenheit bietet. […] Wer konnte, selbst wenn er wollte, wirklich die Süße des Lebens genießen in der erstickenden Atmosphäre jener Vorkriegszeit, in der die Krankheit sich weiter ausbreitete und bis zu unseren Zufluchtsorten vorzudringen trachtete, selbst in unsere neue Heimat – eine ständige Erinnerung für die Vergessenden, daß es für uns keine Sicherheit gibt, solange die Macht noch auf Erden besteht? […] Hier ist der Punkt, an dem Rache und Selbsterhaltung, Ehre und Interesse, sich vereinen: Was die Erinnerung an vergangene Verletzung nicht von selbst bewirkt hat, wurde buchstäblich von der tatsächlichen Bedrohung unserer Gegenwart und Zukunft zur Geltung gebracht.“
Dabei legte Jonas besonderen Wert darauf, daß er sich nicht in erster Linie von den offen eingestandenen Gefühlen des Hasses und der Rache leiten ließ, sondern vor allem von der Erkenntnis, daß ein Sieg Nazi-Deutschlands weltweit die Grundlagen von Demokratie und Humanität auf lange Sicht vernichten würde:
„Ich vermittle Dir rückschauend ein Bild von meinem Gemütszustand während der Vorkriegsjahre, als mich der Haß gegen Deutschland bisweilen bis in meine Träume verfolgte. Doch dieses Bild wäre unvollständig – und würde mir, so meine ich, nicht gerecht –, wenn es sich auf diese höchst emotionalen oder spezifisch nationalen Elemente beschränkte. Vielmehr hatte ich übergeordnete Motive, den Krieg mit Ungeduld herbeizusehnen. Es war der umfassendere Aspekt der Dinge, die der Weltsituation selbst innewohnende Notwendigkeit, die am stärksten für den Krieg und gegen einen ‚Frieden’ sprachen, der unter den waltenden Umständen nichts anderes als Beschwichtigungspolitik hätte sein können. Die Frage lautete, ob die bedrohte historische Ordnung, der wir alle angehören, bereit war, um ihre Fortexistenz zu kämpfen, sollte sie sich nur kämpfend bewahren lassen. Anders gesagt, ob sie sich selbst noch als einen so hohen Wert begriff, daß sie des höchsten Opfers wert sei. In dieser Frage war alles enthalten. Hier war das Kriterium für die gegenwärtige Lebenskraft, ja, die Ehrlichkeit ihrer Ideale, und damit für das Existenzrecht dieses Systems. Diesem Kriterium nicht gerecht zu werden wäre gleichbedeutend mit einem historischen Urteil zugunsten der neuen Ideen und Kräfte, einer Rechtfertigung all ihrer bösen Erfolge. […] Doch das darf niemals geschehen, sollen nicht Jahrtausende menschlichen Strebens vergeblich gewesen sein.“
Seit dem deutschen Einmarsch im Rheinland 1936 und der Tschechoslowakei-Krise 1938, deren Lösung durch das Münchner Abkommen Jonas als verhängnisvolles Zurückweichen der europäischen Mächte gegenüber Hitlers Weltmachtplänen erschien, war er zu der Einsicht gelangt, daß ein Krieg, obgleich er sich der damit verbundenen Grausamkeiten voll bewußt war, den vernichtenden Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft vorzuziehen sei:
„Sollten die Kapitulationen kein Ende haben? Sollte die Flut ganz Europa ohne jede Gegenwehr überrollen? Der einzige Hoffnungsstrahl in der Finsternis war Winston Churchill, dessen Schriften ich damals verschlang, der aber kaum mehr als ein Prophet in der Wüste war. Auf dem Hintergrund eines beständigen Rückzugs der Demokratien seit 1936 erlebte ich den Ausbruch des Krieges im September 1939 mit wahrer Erleichterung. Das klingt blasphemisch angesichts der unermeßlichen Schrecken und Zerstörungen, die dieser Krieg mittlerweile mit sich gebracht hat und bis zum bitteren Ende verursachen wird (und bitter wird selbst der Preis des Sieges sein). Und doch stehe ich zu meinen Empfindungen jener Stunde, wie damals, als die Niederlage nahe schien. Gott weiß, daß ich diese tragische Entscheidung nicht mit leichtem Herzen begrüßte. Eine Generation, die während des letzten Krieges zum Bewußtsein erwachte und zutiefst erfüllt war von dem Geist des ‚Nie wieder!’, verfällt nicht leicht dem Kriegsfieber. Wir alle rangen mit dem Pazifismus jener Zeit. Zudem hegte ich keine Illusionen über einen leichten Sieg, ja ich war mir nicht einmal gewiß, daß der Sieg eintreten werde; allerdings konnte niemand die dramatische Plötzlichkeit und das verheerende Ausmaß der Katastrophen voraussehen, die noch kommen sollten. Doch ich vertrat die Auffassung, es sei selbst im Falle des Scheiterns, den derjenige, der sich der Laune des Kriegsglücks aussetzt, als mögliche Folge bedenken muß, besser, kämpfend unterzugehen, als ohne Widerstand in den Abgrund gerissen zu werden.“
Ganz persönliche Passagen des Briefes bringen Jonas’ der Trauer abgerungene Erleichterung darüber zum Ausdruck, daß sein Vater, der im Januar 1938 einem langjährigen Krebsleiden erlegen war, von weiterer Verfolgung verschont bleiben werde – „aus dieser teuflischen Situation hinweggenommen zu werden, gefangen im Nazi-Land, ist in diesen Zeiten für unsere alten Menschen ein guter Ausweg, in vielen Fällen eine wahre Erlösung“. Zur Sprache kommt aber auch die Verzweiflung über das Scheitern der Emigration seiner geliebten Mutter, die ihr Zertifikat für Palästina ihrem zeitweise in Dachau inhaftierten jüngsten Sohn Georg überlassen hatte und, wie Jonas durch das Rote Kreuz erfuhr, 1942 ins Ghetto Lodz deportiert worden war. Erst 1945, bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde ihm zur Gewißheit, was er befürchtet hatte: daß die Nazis seine Mutter in Auschwitz ermordet hatten – „eine dunkle Geschichte, der große Kummer meines Lebens. Diese Wunde hat sich nie geschlossen“, wie Jonas in hohem Alter sagte.28
1940 war Jonas Soldat in der First Palestine Anti Aircraft Battery der britischen Armee geworden, 1944 Mitglied der Jewish Brigade Group, mit der er über Nordafrika nach Italien zog29 und im Juni 1945 in Deutschland einmarschierte. Dort erfuhr er die ganze Wahrheit über die Schoah, erhielt in Mönchengladbach Gewißheit über das Schicksal seiner Mutter, stieß auf jüdische Überlebende, die die Begegnung mit den am Davidstern erkennbaren Soldaten der Jüdischen Brigade – „als Siegern, nicht als Märtyrern und Opfern“ – bejubelten,30 machte die Erfahrung der geringen Bereitschaft der Deutschen, sich mit den Verbrechen der Nazis auseinanderzusetzen, und sah, wie er freimütig zugab, mit einem Gefühl der Genugtuung auf seinen Reisen durch Deutschland die zerstörten Städte.31 Als er im November 1945 nach Jerusalem zurückkehrte, lagen hinter ihm die Emigration in eine Welt, die einen vollkommenen Abbruch der Existenz bedeutete, welche das Fundament seiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit gewesen war, und mehr als fünf Jahre Krieg, die auch in seinem Denken eine tiefe Zäsur bildeten.
Der Kriegsaufruf des Jahres 1939 und der Brief an seinen Cousin sind mehr als bloß zeitgeschichtlich bedeutsame Zeugnisse, die einen Einblick in das Denken und Fühlen vieler deutscher Juden in Palästina während des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkrieges eröffnen. Sie sind vielmehr ein bewegendes document humain, ohne das die weitere Entwicklung des Philosophierens von Hans Jonas nach dem Krieg nicht in ihrer Tiefe zu verstehen ist. Die eindrucksvollen Zeugnisse entschlossenen Widerstandes gegen den Sieg des „nationalsozialistischen Prinzips“ und die Vernichtung des Judentums sowie der menschlichen Erschütterung über das Schicksal der Juden in Europa ergeben ganz neue Perspektiven für die Frage nach der Bedeutung von Jonas’ jüdischer Existenz für sein Gesamtwerk. Das gilt etwa für die Passagen, in denen er den „bellum Judaicum“ als „ersten Religionskrieg der Moderne“ interpretiert. Jonas bejahte diesen Krieg vor allem deshalb, weil er darin den „Krieg zweier Prinzipien“ erkannte, „von denen das eine in der Form der christlichabendländischen Humanität auch das Vermächtnis Israels an die Welt verwaltet, – das andere, der Kult der menschenverachtenden Macht, die absolute Negierung dieses Vermächtnisses bedeutet“. Der Nationalsozialismus – als nihilistisches „Heidentum im tiefsten Sinne“ – habe dies begriffen, insofern er „das Christentum als Verjudung der europäischen Menschheit beurteilte und in seinen metaphysischen Antisemitismus einbezog“. Lange bevor christliche Theologie und Kirche, die sich in der Nazi-Zeit auf Grund ihrer antijudaistischen Tradition und ihrer teilweisen Affinität zum „nationalen Aufbruch“ in Deutschland scharf vom Judentum – vielfach sogar von der Hebräischen Bibel – distanzierten und die Juden in Europa schweigend der Verfolgung preisgaben, dies auch nur zu ahnen begannen, beschwor Jonas die wechselseitige religiös-kulturelle Solidarität von Judentum und Christentum, deren Erbe er durch die Inhumanität der Nazis in ihrer Tiefe bedroht sah. Daß diese Solidarität um der Bewahrung auch der säkularen „rational-humane[n] Zivilisation des modernen Europa“ notwendig war, begründete aus seiner Sicht das Paradox, „daß ein bellum christianum zugleich ein bellum judaicum sein kann“. In diesem Zusammenhang betonte er nicht nur den „unverjährten Beitrag“ des Judentums zur „Ethisierung der Menschheit“, zum Schutz der ethischen Tradition der Achtung vor dem Leben des Menschen, sondern ließ mit dem Postulat der gemeinsamen jüdisch-christlichen Grundlagen der abendländischen Kultur ein Motiv anklingen, das etwa in seinen späteren Reflexionen über den Beitrag der jüdischen Tradition für eine Ethik der Verantwortung eine wichtige Rolle spielen sollte.32
Das zionistisch inspirierte Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Judentum, die zeitlebens den Kern seiner jüdischen Identität ausmachte, gewann also für Hans Jonas in der Zeit des Kampfes gegen Nazi-Deutschland und nach 1945, als die ganze Dimension der Vernichtung des europäischen Judentums sichtbar wurde, einen zutiefst existentiellen Sinn: im Emigrantenschicksal des Religionshistorikers, der seine in deutscher Sprache entworfene Gnosisdeutung erst ein Jahrzehnt später vollenden konnte, im Schmerz des Sohnes um seine Mutter, deren Ermordung sein reiches und fruchtbares Leben überschattete und deren Andenken er, fast vierzig Jahre später, sein Nachdenken über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“ widmete, sowie im Engagement des Soldaten, der 1944/45 in seinen „Lehrbriefen“ an seine Frau die Kerngedanken seiner – angesichts der Erschütterung nicht nur der Welt, sondern auch der zeitgenössischen philosophischen Denkmodelle – ganz neu entworfenen Philosophie des Lebens konzipierte. Diese als Anhang zu Jonas’Erinnerungen erstmals veröffentlichten „Lehrbriefe“ gewähren Einblick in diese entscheidende Zäsur seines Denkens und können – ähnlich wie im Falle Franz Rosenzweigs, der während der letzten Monate des Ersten Weltkrieges an der Front erste Skizzen seines Werkes Der Stern der Erlösung in Feldpostbriefen entwarf – als früher Ausdruck des „neuen Denkens“ der „Philosophie des Organischen“ gelten. Zugleich dokumentieren sie in ihren wenigen persönlichen Passagen, daß sich der Philosoph von den schweren Erfahrungen der Kriegszeit nicht entmutigen ließ, sondern den Erschütterungen mit tiefgründigem Nachdenken über das Wesen menschlichen Daseins begegnete.33 Die intellektuelle Erkenntnis der Kriegszeit inspirierte Jonas’ lebenslange Auseinandersetzung mit dem Nihilismus und seine philosophische Bejahung des gefährdeten, endlichen menschlichen Lebens inmitten einer wertvollen und am Geist teilhabenden Natur – ein der Erfahrung des Inhumanen abgerungener Denkweg, der später in das engagierte Plädoyer für die „Weiterwohnlichkeit der Welt“ unter den Bedingungen der von selbstverursachten Verhängnissen bedrohten hochtechnisierten Zivilisation mündete. Unübersehbar haben die antinihilistische Stoßrichtung, die Jonas’ gesamtes Denken seit 1945 bestimmte, und die philosophische Leidenschaft, mit der er unablässig den Wert des menschlichen wie geschöpflichen Lebens zu begründen versuchte, ihre Wurzel in seiner intellektuellen Konfrontation mit der in der Schoah gipfelnden nationalsozialistischen Preisgabe alles Menschlichen. Sein Kriegsaufruf und sein Eintreten für Würde und Menschlichkeit lassen sich daher mit einigem Recht als ein untergründig fortwirkendes Ursprungselement seines in den Jahrzehnten nach 1945 entfalteten Denkens interpretieren. Noch in seiner am 30. Januar 1993 gehaltenen letzten Rede in Udine über „Rassismus im Lichte der Menschheitsbedrohung“ erinnerte Jonas in bewegenden Worten daran, daß sich in dem mit Blick auf die Zukunft von Menschlichkeit und Toleranz so überaus trügerischen zwanzigsten Jahrhundert „in einem der Herzländer unserer gerühmten Kultur“ jene „höllische Offenbarung“ ereignet habe, die mehr als alles Frühere „den Titel des Menschen als Ebenbild Gottes in Frage stellt“. Er wagte die Reise nach Udine trotz seines hohen Alters, weil sie ihn an den Ort zurückführte, an dem er das Ende des Krieges erlebt und in den Erzählungen Überlebender von der menschlichen Anständigkeit zahlreicher italienischer Frauen und Männer erfahren hatte, die flüchtende Juden beschützt und vor dem Tode gerettet hatten. Man kann darin ein Zeichen dafür erkennen, daß der Philosoph bis zum Ende seines Lebens von diesem Geschehen in Atem gehalten wurde und darin die fundamentale ethische Verantwortung erblickte, weit über seine eigene Lebenszeit hinaus alle Kräfte der Moralerziehung und Wachsamkeit gegen „diese kaum jemals schlafende Bestie“ der Inhumanität zu mobilisieren.34 Charakteristisch für Jonas’ Denken und sein gesamtes Werk ist, daß er in jener Rede die Erinnerung an die Menschenverachtung der Nazis als Bedrohung aus der Vergangenheit in einen inneren Zusammenhang mit der gegenwärtigen und zukünftigen Bedrohung des Lebens auf der Erde durch die technologische Hybris des Menschen stellte: Die Schoah als Höhepunkt des „Kultes der menschenverachtenden Macht“ und als das fundamentale historische Ereignis des vergangenen Jahrhunderts, so deutete er damit an, ist Ausdruck derselben Indifferenz gegenüber dem Wert des Lebens, die dem zerstörerischen, gedankenlosen oder fatalistischen Umgang mit der natürlichen Umwelt innewohnt, und entsprechend gilt ihr gegenüber – um der Bewahrung menschenwürdigen Lebens willen – gleichermaßen die Pflicht zum verantwortlichen Handeln. Hans Jonas’ leidenschaftliches Eintreten für die Würde menschlichen Lebens und die eindringliche Warnung vor ihrer Preisgabe gehören – als Leitmotive, die sein frühes politischen Denkens mit seiner späteren ethischen Reflexion über das „Prinzip Verantwortung“ verbinden – mit zu den Elementen, welche die Aktualität seines philosophischen Vermächtnisses begründen.