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Verzweiflung und Verantwortung. Koinzidenz und Differenz im Denken von Hans Jonas und Günther Anders
ОглавлениеEs gehört zu den Besonderheiten der philosophischen Rezeptionsgeschichte im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, daß zwei Denker, deren Lebenswege sich mehrmals kreuzten, die als von den Nazis vertriebene deutsche Juden ein ähnliches Schicksal erlitten und deren Philosophie sich zumindest in einem gewichtigen Punkt – der Sorge um die Zukunft der Menschheit – berührte, selten in einem Atemzug genannt werden: Hans Jonas und Günther Anders.1 Bereits die biographischen Berührungspunkte lassen dieses Versäumnis höchst erstaunlich erscheinen. Hans Jonas und Günther Anders – der Sohn des berühmten Psychologen William Stern – hatten sich Anfang der zwanziger Jahre in Edmund Husserls Freiburger Seminar kennengelernt, wenig später in Berlin in einem Seminar Eduard Sprangers wiedergetroffen und angefreundet. Jonas erkannte in dem wenig älteren Husserl-Schüler eine geniale Begabung,2 und ihre intensive Freundschaft erhielt dadurch eine besondere Note, daß Günther Anders die vertraute Freundin von Hans Jonas und Geliebte Martin Heideggers, Hannah Arendt, wenige Jahre später heiraten sollte. Im Rückblick will sich Jonas über diese Heirat sehr gefreut haben, habe doch immerhin sein bester Freund seine beste Freundin zur Frau genommen.3 Beide Philosophen verbanden darüber hinaus ähnliche Motive: Sie waren ursprünglich nach Freiburg gekommen, um bei Husserl zu studieren, vermochten sich dort dem Bann von Martin Heideggers unorthodoxem Philosophieren nicht zu entziehen und folgten ihm nach Marburg, standen seinem Denken jedoch durchaus kritisch gegenüber. Während Anders bei Husserl promovierte und sich Ende der zwanziger Jahre auf den Entwurf einer negativen Anthropologie sowie auf eine musikphilosophische Habilitation konzentrierte, die dann unter anderem am Einspruch Adornos scheitern sollte, promovierte Jonas noch bei Heidegger mit einer Arbeit über den Begriff der Gnosis, aus der dann später sein berühmtes Werk Gnosis und spätantiker Geist erwuchs.
Die Machtergreifung Hitlers beendete Jonas’ Habilitationspläne ebenso wie Anders’ begonnene journalistische Karriere in Berlin. In ihrer politischen Haltung unterschieden sich die Freunde allerdings beträchtlich. Hatte sich Jonas schon früh der zionistischen Bewegung angeschlossen, die sich die Bildung einer säkularen jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina zum Ziel gesetzt hatte, so verstand sich Anders wohl eher als linker, gesellschaftskritischer Autor, der im Umkreis von Bert Brecht verkehrte, ohne sich allerdings der kommunistischen Partei oder ihrer Doktrin zu unterwerfen. Die von Anders gerne erzählte Geschichte, wonach er schon frühzeitig die Gefahr Hitlers erkannt hatte, weil er es als einziger Intellektueller nicht für unter seiner Würde erachtet hatte, Mein Kampf zu lesen, findet in den Erinnerungen von Hans Jonas allerdings keine Bestätigung.4 Auf dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen ideologischen Prägung erscheint es nur folgerichtig, daß Anders 1933 zunächst nach Paris und 1936, nach der Trennung von Hannah Arendt, weiter in die USA floh, während Jonas ebenfalls unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung über London nach Palästina ging, dort während des Krieges Soldat bei der Jewish Brigade Group wurde und im Zuge des Vormarsches der Alliierten über Italien im Juli 1945 als Offizier der britischen Armee wieder nach Deutschland kam. Jonas kehrte dann nach Palästina zurück, wurde 1948 erneut eingezogen, diesmal von der israelischen Armee, und nahm nach vergeblichen Versuchen, eine Professur an der Hebräischen Universität in Jerusalem zu bekommen, ein Angebot nach Kanada, später eines nach New York an. Dort kam es Weihnachten 1949 auch zum Wiedersehen mit Anders, an dem er bereits damals einen „Zug von Bitterkeit“ festgestellt haben will.5 Während Anders mit seiner zweiten Frau Elisabeth Freundlich 1950 nach Wien ging, wo er bis zu seinem Tode leben sollte, blieb Jonas in den USA, besuchte später allerdings auf zahlreichen Reisen immer wieder Europa und Deutschland. Auch wenn er es in seinen Erinnerungen nicht erwähnt, geht aus einem Brief an Hannah Arendt hervor, daß er auf einer dieser Reisen gemeinsam mit seiner Frau auch Günther Anders noch einmal getroffen hatte, und auch der Briefwechsel zwischen Jonas und Anders reicht offenbar bis in die späten achtziger Jahre.6
Im Denken von Günther Anders und Hans Jonas sind einige auffallende Affinitäten, aber auch Differenzen festzustellen. Vor allem zwei Themenkreise erscheinen in diesem Zusammenhang maßgeblich. Beiden Philosophen ging es in einem eminenten Sinn um die Frage nach dem Fortbestand der Menschheit unter den Bedingungen technischer Selbstvernichtungskapazitäten, und beide setzten sich eindringlich mit den Konsequenzen auseinander, die Auschwitz nicht nur für das Denken und Handeln der Menschen, sondern auch für das religiöse Bewußtsein haben müsse. Die Antworten, die beide Fragestellungen bei Hans Jonas und Günther Anders gefunden haben, könnten – trotz gleicher oder ähnlicher Ausgangs- und Erfahrungslage – unterschiedlicher kaum sein.
Angesichts der Bedrohung der Gattung Mensch versuchte Hans Jonas in seinem späten Werk Das Prinzip Verantwortung (1979), die Frage, warum menschliches Leben auch zukünftig sein solle, auf dem Wege der Metaphysik zu beantworten, indem er aus einer besonderen Seinswürdigkeit des Menschen auf das Erfordernis einer Kontinuität seiner Existenz schloß. Günther Anders hatte dagegen schon Jahrzehnte früher im ersten Band der Antiquiertheit des Menschen (1956) die Frage nach der potentiellen Vernichtung der Gattung reflektiert und dabei allen Versuchen, ein besonderes Seinsrecht des Menschen abzuleiten, eine Absage erteilt. Daß die Fortexistenz der Menschheit nicht zwingend begründbar sei, implizierte für ihn allerdings nicht, daß man sie der Vernichtung preisgeben dürfe. Beide Denker versuchten, die grundlegenden ethischen Maximen für das technologische Zeitalter mittels einer Neuformulierung des kategorischen Imperativs zu bestimmen. Die dabei auftretenden Differenzen sind nicht nur strategisch, sondern auch moralphilosophisch höchst aufschlußreich. Wollte Hans Jonas die „Permanenz echten menschlichen Lebens“ zum Kriterium des Handelns machen, so war für Anders die Menschenverträglichkeit der verwendeten Technologien entscheidend. Und während Jonas mit dem Prinzip Verantwortung eine moralphilosophisch begründete Antwort auf die Bedrohung der Menschheit zu geben suchte, verstand Günther Anders seinen Kampf um den Fortbestand der Gattung Mensch letztlich als ein trotziges Aufbegehren, für das sich angesichts des von ihm diagnostizierten „monströsen“ Charakters des technischen Fortschritts nicht mehr rational argumentieren ließ. Die Denkfiguren nachzuzeichnen, die Jonas und Anders entwarfen, kann nicht nur helfen, die Hintergründe ihrer kontroversen Positionen aufzuhellen, sondern auch einen Beitrag zum Verständnis der entscheidenden Problematik leisten, mit der sich jede Ethik des technologischen Zeitalters auseinandersetzen muß.
Sowohl Hans Jonas als auch Günther Anders gingen von der These aus, daß die traditionellen philosophischen Moralkonzepte zur Fundierung eines Handelns im Interesse der Menschheit angesichts der destruktiven Tendenzen technischer Naturbeherrschung und vor allem angesichts der Möglichkeit der Selbstauslöschung der Gattung Mensch durch die atomaren Arsenale nicht mehr ausreichten. Jonas verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß alle bisherigen ethischen Entwürfe von den Handlungsmöglichkeiten und dem Erwartungshorizont des einzelnen Subjekts ausgegangen waren und deshalb nicht mehr genügten, um das Problem nachhaltiger Eingriffe in die Natur, die die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen schmälern oder gar irreversibel schädigen könnten, zu lösen. Die traditionelle Ethik, namentlich die Immanuel Kants, habe den Menschen aufgefordert, in Übereinstimmung mit seiner Vernunft zu handeln, in der sich gleichsam die Idee der Menschheit repräsentiert, und damit das Unmoralische als logischen Selbstwiderspruch definiert. Es liegt aber, so Jonas, „kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, daß die Menschheit einmal aufhöre zu existieren, und somit auch kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, daß das Glück gegenwärtiger und nächstfolgender Generationen mit dem Unglück oder gar der Nichtexistenz späterer Generationen erkauft wird.“ Daß die Reihe der Generationen überhaupt weitergehen, also die Menschheit auch weiterhin existieren soll, stellt angesichts der Destruktionspotentiale moderner Technologien die eigentlich entscheidende ethische Frage dar, und sie ist nicht mit Rückgriff auf eine Individualmoral, sondern nur „metaphysisch“ zu beantworten.7
Jonas sieht sich also auf Grund der Krise der traditionellen Ethik vor der Herausforderung, einen neuen Imperativ zu formulieren, der den Fortbestand der Gattung Mensch mit im Blick hat und gleichzeitig die implizite Voraussetzung, daß auch zukünftig Leben sein soll, metaphysisch zu begründen vermag. Die Formulierungen, die Jonas diesem Imperativ gegeben hat, haben in den ökologischen und technikkritischen Debatten der achtziger Jahre eine entscheidende Rolle gespielt. An sie ist an dieser Stelle aber in erster Linie zu erinnern, um den Kontrast zur Reformulierung von Imperativen bei Günther Anders hervorzuheben. Jonas formulierte diesen Imperativ unter anderem folgendermaßen: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, oder, negativ formuliert: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftigen Möglichkeiten solchen Lebens.“8 Jonas wollte damit letztlich aussagen, daß wir zwar – aus welchen Gründen auch immer – „unser eigenes Leben, aber nicht das der Menschheit wagen dürfen.“ Dabei war er sich darüber im klaren, daß diese Formulierungen in einer bisher nicht bekannten Form den „Zeithorizont“ zu einem bestimmenden Kriterium ethischen Verhaltens machten, insofern sie die „Zukunft“ zum letzten Sinnhorizont verantwortlichen Handelns erklärten.9
Der entscheidende Aspekt des neuen kategorischen Imperativs liegt – abgesehen von der Frage, wie sich Begriffe wie „echtes menschliches Leben“ qualitativ in Hinblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen bestimmen lassen – im Versuch von Hans Jonas, die Forderung, die Menschheit solle auch in Zukunft fortexistieren, metaphysisch – das heißt für ihn: ontologisch – zu bestimmen. Die alte, unter anderem auch von Leibniz und Schelling geltend gemachte und von Heidegger aufgegriffene Frage, warum etwas sei und vielmehr nicht nichts, wird auch für Jonas zum Leitmotiv seines Begründungsversuchs, in dessen Zentrum die These steht, daß das Sein gegenüber dem Nichts einen Wert darstellt, der dem Sein einen Vorrang gegenüber dem Nichts einräumt.10 Die Plausibilität dieser These gewinnt Jonas über den Nachweis, daß in der Natur selbst schon Zwecke, die als Werte interpretiert werden können, angelegt sind, woraus er in einem weiteren Schritt folgert, daß „in der Fähigkeit, überhaupt Zwecke haben zu können“, ein „Gut-an-sich“ gesehen werden kann, von dem zumindest „intuitiv“ gewiß zu sagen ist, es sei aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen. Unterstellt man diese als selbstevident verstandene Einsicht als „ontologisches Axiom“, so folgt daraus eine „Selbstbejahung des Seins im Zweck“, der ein emphatisches „Nein zum Nichtsein“ korrespondiert.11 Der Mensch nun, der nicht allein Produkt der Natur ist, sondern dieser reflexiv gegenübersteht, muß dieses „Ja“ zur Maxime seines Handelns und somit nicht nur zu einem Moment seines „Wollens“, sondern auch zu einem „Sollen“ machen: Daß weiterhin Menschen sein sollen, ergibt sich für Jonas letztlich daraus, daß ihrer Existenz und den damit verbundenen Lebensmöglichkeiten ein höherer ontologischer Wert innewohnt als ihrer Nichtexistenz. Angesichts der Bedrohung des Lebens auf diesem Planeten ergibt sich aus seiner Sicht daher zwingend das Konzept einer Ethik der Verantwortung, welche die Erhaltung des Lebens in Hinblick auf seine Zukunftsmöglichkeiten zum Kriterium individuellen wie kollektiven Handelns erhebt.
Auch für Günther Anders sind die traditionellen Ethiken im zwanzigsten Jahrhundert unhaltbar geworden. Sein Ansatz scheint allerdings radikaler als der von Hans Jonas: „Die bisherigen religiösen und philosophischen Ethiken sind ausnahmslos und restlos obsolet geworden, sie sind in Hiroshima mitexplodiert und in Auschwitz mitvergast worden.“12 Mit diesem Diktum hat Anders die Situation der Moral in einer Weise gekennzeichnet, die keine Möglichkeit läßt, aus der Tradition der Moral und den ethischen Reflexionen der Vergangenheit noch einen entscheidenden Nutzen für die Gegenwart zu ziehen, auch nicht im Sinne der Ableitung einer neuen Verantwortlichkeit. Es ging ihm vielmehr darum, zu analysieren, inwiefern die technisch veränderte Welt mit der damit verbundenen Möglichkeit der Menschheitsvernichtung auch die bisherigen moralischen Imperative liquidiert. Aus der Analyse lassen sich dann allerdings sehr wohl Schlüsse ziehen, die Auskunft darüber geben, an welchen Maßstäben sich das Handeln orientieren müßte, soll der Anspruch auf Humanität – und das heißt auch bei Anders schlicht: auf den Fortbestand des Menschen – nicht vollends aufgegeben werden.
Günther Anders verzichtet jedoch im Gegensatz zu Hans Jonas prinzipiell darauf, eine Moral, die die Existenz der Gattung Mensch zum Ziel hat, philosophisch zu begründen. Gerade weil seiner Auffassung nach der Gattung Mensch keine bevorzugte ontologische Stellung zukommt, läßt sich auch und gerade angesichts der Bedrohung der Menschheit eine Ethik nicht ontologisch-metaphysisch deduzieren. In den anthropologischen Entwürfen seiner jungen Jahre hatte Anders den Menschen als weltfremdes, ja weltloses Wesen bestimmt, das im Gegensatz zum Tier in keine Welt eingepaßt ist, sondern sich Welt immer erst schaffen muß, was allerdings keine ontologische Sonderstellung bedeutet, sondern als belastende Exterritorialität, als „Pathologie der Freiheit“ zu diagnostizieren ist.13 Die noch bei Kant formulierte Ansicht, nur dem Menschen komme eine Zweckhaftigkeit zu, der gegenüber alles andere in der Natur zu einem Mittel werden könne, so daß der Mensch das Ziel, das Telos der Natur sei, hat Anders immer wieder bestritten, zumal er darin das Manko der abendländischen Ethik erblickte.14 Aus der Position des Menschen in der Welt läßt sich seine Wertigkeit ebensowenig ableiten wie aus einer vermeintlichen Hierarchie des Seins, die Anders nicht mehr gelten lassen wollte. Wohl aber resultiert aus der „Pathologie der Freiheit“, daß der Mensch ein Wesen ist, das nicht nur die Möglichkeit der Entscheidung besitzt, sondern geradezu dazu gezwungen ist. Weil wir nicht vollständig in unserem Handeln determiniert sind, sind wir mit Freiheit, das heißt aber mit der Notwendigkeit konfrontiert, bestimmte Handlungen zu wählen oder zu unterlassen. Diese Freiheit erschien Anders durchaus als eine Form von Zwang, die dem Menschen die Unausweichlichkeit des Sollens schlechthin auferlegt: „Es bleibt uns gar nichts anderes übrig: wir müssen sollen.“ Daß der Mensch sich Gesetze, Regeln, Normen geben muß, da die natürlichen Instinkte nicht ausreichen, war für Anders in erster Linie eine Not, keine Tugend. Immanuel Kants Apotheose des Sittengesetzes wurde interessanterweise gerade deshalb zum Gegenstand der Kritik: „Die philosophische […] Grundfrage muß die nach den Bedingungen der Nötigkeit sein, nicht die transzendentale nach den Bedingungen der Möglichkeit.“15 Anders griff damit übrigens einen Gedanken aus seiner frühen Auseinandersetzung mit Heidegger auf, dem er in der Studie über dessen Scheinkonkretheit vorgeworfen hatte, nur nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit, nicht aber nach der „Bedingung der Nötigkeit“ gefragt zu haben.16
Diese Nötigung zum Sollen und damit die wie auch immer geartete prekäre Möglichkeit zur Freiheit sah Anders allerdings durch Entwicklungen gefährdet, die dazu geeignet waren, das Sollen aufzuheben. Die Ideologie und Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus verstand Anders etwa als den Versuch, den Menschen auf eine vorgegebene Natur, auf ein Seiendes, festzuschreiben und auf diese Weise aus einem Sollen ein Müssen zu machen: „Wenn ein Seiendes (der Arier) von Natur aus und unwiderruflicherweise das Gute verkörpert und ein anderes Seiendes (der Jude) gleichfalls von Natur aus und unwiderruflich das Böse, dann ist kein Platz mehr gelassen für Freiheit (der Wahl zwischen Gut und Böse), und das ebenfalls unwiderruflicherweise; und ebenso unwiderruflicherweise ist dann kein Raum mehr übrig für das ‚Sollen’, das nun gewissermaßen zwischen Sein und Müssen zerquetscht wird.“ Unter solchen Bedingungen wird der Kantische Begriff der Pflicht pervertiert. Hatte Kant die Pflicht zu handeln noch als die Forderung verstanden, sich an einer dem kategorischen Imperativ folgenden Vernunft zu orientieren, sich also bei jeder Handlung zu überlegen, ob die zugrundeliegende Maxime für alle Menschen gelten könne, so wurde Pflicht bei den Nazis nun zu dem Phantasma, tun zu müssen, was die Natur verlangt. Anders hat dies knapp und präzise in einer Weise formuliert, die wohl auch für andere, ähnlich gelagerte Ontologisierungen des Guten und Bösen gilt: „Wo Müssen herrscht, darf kein Sollen sein.“17
Günther Anders ging es demnach um die Analyse jener Faktoren, die – obwohl fallweise sogar Produkt der Freiheit menschlichen Handelns – dieses selbst wiederum bestimmen. An anderer Stelle formulierte er diese Frage folgendermaßen: „Sei moralisch, obwohl du, daß Sollen sein soll, nicht begründen kannst, nein sogar für unbegründbar hältst.“18 Zu dem oben Gesagten ergibt sich dabei kein Widerspruch, da der Mensch – als das zum Sollen gezwungene Wesen – aus diesem Sollen nicht ableiten kann, daß er selbst in einem ontologischen Sinn sein soll. Daß er als Mensch sollen muß, bedeutet nicht, daß er als Mensch auch sein soll. Oder anders ausgedrückt: Zwar ist der Mensch durch seine spezifische Existenz zur Moral genötigt, doch seine Existenz selbst läßt sich ebensowenig aus der Moral ableiten wie man letztere philosophisch begründen kann. Als Konsequenz aus diesen Überlegungen postulierte Anders einen „moralischen Nihilismus“. Ethik bleibt in diesem Sinne letztlich ein „utopisches“, das heißt unmögliches Unterfangen. Daß die Existenz der Gattung Mensch nicht positiv begründet werden kann, bedeutete für Anders allerdings nicht, daß sie deshalb nicht sein soll. Aus seinem moralischen Nihilismus machte er kein anthropofugales Programm, denn so wenig sich begründen läßt, warum menschliches Leben sein soll, so wenig folgt daraus das Gegenteil. In den Ketzereien bekannte sich Anders in bezug auf die Begründbarkeit der Moral und auf die Existenz des Menschen deshalb zu einem doppelten Nihilismus, betonte jedoch, dieser habe ihn als handelndes Wesen nie beeinflußt. Anders zog also aus seinem Nihilismus keine praktischen Konsequenzen, sondern beließ es bei der Provokation, daß er als Nihilist mit „eiserner Inkonsequenz“ auf dem Überleben der Menschheit beharrte.19 Die Frage, welchen Sinn es haben solle, daß es eine Menschheit gebe und nicht vielmehr keine, ist für Anders „höchstens im Bereich der theoretischen Vernunft sinnvoll (auch wenn unbeantwortbar), für die praktische Vernunft dagegen uninteressant. Den Moralisten geht sie nichts an. Er begnügt sich mit dem Vorletzten.“20 Das Leben der Menschen bedarf, um als lebenswert verteidigt zu werden, keines metaphysischen Sinns. Der Sinn des Lebens ist deshalb als Fundament für die Letztbegründung einer Moral ebenfalls ungeeignet. Für seinen praktischen Kampf um das Überleben der Menschheit benötigte Anders keine Begründung. Auch wenn ihn die theoretische Einsicht in die prinzipielle Unmöglichkeit dieser Begründung metaphysisch verzweifeln ließ, so durfte dies für das Handeln keine Bedeutung haben: „Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an.“21
Jenseits der Frage nach einer philosophischen Letztbegründung der Ethik war Günther Anders jedoch genauso konkret an der Moralfrage interessiert wie Hans Jonas. Es ging ihm schließlich nicht nur um die ethische und geschichtsphilosophische Frage der denkbar geworden atomaren Selbstvernichtung der Menschheit, sondern auch darum, auf welche Weise der technologische Fortschritt das Leben der Menschen entscheidend veränderte. Die Sorge, die Möglichkeiten der Technik könnten weniger einen Zugewinn an Freiheit, als vielmehr eine schleichende Dehumanisierung zur Folge haben, beschäftigte Anders ebenso intensiv wie Jonas. Im Gegensatz zu diesem reagierte er darauf jedoch nicht mit einer neuen Verantwortungsmoral, sondern verlagerte das Moralproblem in die Struktur des Technischen selbst. Während die konventionellen Vorstellungen von Moral, wie sie nicht zuletzt auch in den gegenwärtigen Debatten um Gentechnik und Bioethik zum Ausdruck kommen, noch immer davon ausgehen, es bedürfe moralischer Normen und Richtlinien, die den Umgang mit den durch den technischen Fortschritt eröffneten Möglichkeiten regeln, insistierte Günther Anders in einer radikalen Umdeutung der moralischen Grundsituation auf der Erkenntnis, daß nicht etwa unsere moralischen Maximen den Gebrauch der Geräte steuern, sondern vielmehr die Maximen der Geräte uns die Richtlinien des Handelns vorgeben. Das bedeutet nicht nur, daß alles, was technisch möglich ist, schließlich auch verwirklicht werden wird, sondern auch, daß das, was erlaubt, geboten oder verboten ist, einzig davon abhängt, was die Geräte und die Technologien zulassen. Deshalb konnte Anders postulieren, im technologischen Zeitalter sei de facto ein „kategorischer Imperativ“ wirksam, der stärker als jedes Sittengesetz das tatsächliche Handeln der Menschen bestimme: „Handle so, daß die Maxime deines Handelns die des Apparats, dessen Teil du bist oder sein wirst, sein könnte“ – oder negativ formuliert: „Handle niemals so, daß die Maxime deines Handelns den Maximen der Apparate, deren Teil du bist oder sein wirst, widerspricht.“22
Die Grundthese von Anders für eine der Zeit angemessene Ethik lautet also, daß das Sollen dem Menschen letztlich von den Maschinen abgenommen wird – eine Prämisse, die nicht nur die großen Fragen hinsichtlich der Zukunft der Menschheit, sondern auch die Alltagsmoral betrifft: „Produkte, also Dinge, sind es, die den Menschen prägen. In der Tat wäre es kaum eine Übertreibung zu behaupten, daß Sitten heute fast ausschließlich von Dingen bestimmt und durchgesetzt werden. […] Sofern wir heute einen Benehmenskodex haben, ist dieser von Dingen diktiert.“23 Das Sollen wird also durch die Apparate, mit denen wir uns umgeben, in ein Müssen umgewandelt, aus Handlungsmöglichkeiten werden Notwendigkeiten, die gleichsam als naturhafte Sachzwänge erscheinen. Freiheit und damit die Möglichkeit, als Mensch zu agieren, lassen sich allein in einer immer wieder herzustellenden Souveränität gegenüber den Technologien bewahren, denn es gilt: „Jeder hat diejenigen Prinzipien, die das Ding hat, das er hat.“24 Deshalb gab Anders seiner positiven Neuformulierung des kategorischen Imperativs folgende Form: „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.“25 Welchen Maximen eine Moral auch immer folgen will – die Bedingung für deren Möglichkeit entscheidet sich am Verhältnis dieser Maximen zu den in der Technik immer schon mitgelieferten Handlungsanweisungen und Normierungen des Denkens und Handelns. Man könnte diese Überlegung auch den Neuformulierungen des kategorischen Imperativs bei Hans Jonas gleichsam vorschalten: Wer an einer Permanenz echten menschlichen Lebens interessiert ist, muß aufpassen, ob er dieser Intention nicht einfach dadurch widerspricht, daß er Geräte verwendet, zu deren immanenter Logik es gehört, eben jenes „echte menschliche Leben“ zu destruieren. Aus solch einem Ansatz resultierte keine blinde Technikfeindlichkeit, wohl aber eine vernünftige Reflexion eines jeden über die immanenten Ziele unserer Apparaturen. In detaillierteren Analysen – so Günther Anders zum Fernsehen, Hans Jonas zu Fragen der Medizinethik – haben beide Denker vorgeführt, wie solch eine Reflexion aussehen kann.26 Wenngleich sich beide Denker also in der Frage nach der Begründbarkeit der Existenz der Gattung Mensch deutlich unterscheiden, können in den Ansätzen zu einer Ethik, die auf die Fortsetzung menschlichen Lebens auf der Erde abzielt, durchaus Übereinstimmungen festgestellt werden.
Dieses Phänomen einer gleichzeitigen intellektuellen Nähe und Ferne läßt sich noch in einem weiteren Themenbereich ihres Denkens feststellen. Beide Philosophen, die aus säkularen jüdischen Familien stammten und durch die Vernichtungspolitik der Nazis in existentieller Weise auf ihr Judentum verwiesen worden waren, hatten sich, wenn auch erst Jahrzehnte später, der schmerzhaften Frage nach den Folgen der Schoah für den Glauben an den biblischen Gott und für eine moderne Auseinandersetzung mit der Theodizeeproblematik gestellt. In der Frage allerdings, welche religionsphilosophischen oder theologischen Konsequenzen aus den Massenmorden des zwanzigsten Jahrhunderts zu ziehen sind, hatten Hans Jonas und Günther Anders diametral entgegengesetzte Positionen. Während Hans Jonas in einem beeindruckenden und berührenden Text – Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme – den Gedanken zur Sprache brachte, man könne nach Auschwitz nur noch von einem dem Handeln des Menschen ohnmächtig ausgelieferten Gott reden, stellten Auschwitz und Hiroshima für Günther Anders die stärksten Indizien dafür dar, daß Gott nicht existieren könne. Wie aus den Erinnerungen von Hans Jonas hervorgeht, haben sie jedoch bei aller Divergenz in der Frage, ob und inwiefern nach Auschwitz noch ein Gott gedacht werden kann, der jeweils anderen Position zumindest Respekt gezollt.27
Die Theodizeeproblematik geht in ihrer modernen Fassung zwar auf Leibniz zurück, hat in ihrem Kern – der Frage, wie Gott angesichts der Übel gerechtfertigt werden kann – ihre erste große Ausdeutung jedoch bereits in der Klage Hiobs angesichts des ihm widerfahrenen, für ihn nicht mehr nachvollziehbaren Leides erfahren. Der griechische Philosoph Epikur hat dieser Problematik dann die erste logifizierte Fassung gegeben: Der Philosoph, der die Vermeidung von Schmerz zur Maxime seiner Philosophie erhoben hatte, soll auf die Frage, warum Gott das Leid zulassen könne, geantwortet haben: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“28 Die Präzision dieser Deduktionen, mit denen die prinzipiellen Möglichkeiten, das Verhältnis Gottes zum Übel zu denken, ausgelotet waren, sind unüberbietbar. Alle Diskurse der Theodizee, mit welchem Raffinement sie auch immer geführt wurden, standen, wenn auch oft unausgesprochen, vor dem Problem, Epikurs Schlußfrage beantworten zu müssen, weil alle anderen Möglichkeiten unzumutbar oder undenkbar erschienen. Genau diese Frage aber bestimmte letztlich auch das Nachdenken von Günther Anders und Hans Jonas über Gott nach Auschwitz.
In seinen zum Teil fingierten tagebuchartigen Aufzeichnungen Ketzereien hat Günther Anders die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Massenmorde des zwanzigsten Jahrhundert in aller Radikalität und Naivität noch einmal gestellt. Im Rahmen einer Fragebogenaktion wird der Philosoph von einem Fernsehjournalisten mit der Frage konfrontiert: „Glauben Sie an Gott, wenn nein, warum nicht.“ Auf diese – sogar in seinen „unzimperlichen“ Ohren „ungehörige“ – Frage folgt ein Anderssches Lehrstück, an das sich der Journalist, sollte es ihn tatsächlich gegeben haben, wohl noch lange erinnert hat: „Erst einmal teilte ich ihm schlicht mit, daß ich nicht wüßte, was mit dem Wort ‚glauben’ gemeint sei. Sein Unterkiefer fiel herunter, so als hätte ich in präzedenzloser Weise einen durch den Fernsehauftrag automatisch mitgeltenden Vertrag gebrochen. […] ‚Wenn es [Gott] gibt’, sprach ich sehr langsam, ‚dann ist er einer, der Auschwitz und Hiroshima nicht verhindert hat. […] Er ist also einer, der, die Hände im Schoß, diese beiden Ereignisse zugelassen hat. […] Ist solch ein Gott ein gerechter Gott? Wäre ein solcher Gott ein gerechter Gott? Ein liebender Gott? Ein barmherziger Gott? Einer, zu dem wir beten dürften, ohne uns zu entwürdigen? Einer, den wir anbeten dürften, ohne uns zu schämen? Ohne uns zum Komplizen seines Zulassens zu machen? […] Finden Sie nicht, dann schon besser kein Gott?’“29
Mit Blick auf die Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts – und Anders nennt konsequent Auschwitz und Hiroshima in einem Atemzug – steigert der bekennende Atheist stakkatoartig die Argumente, die, wenn auch in anderer Form, seit Leibniz gegen die Verteidigung Gottes vorgebracht werden, zu einem historischen Anti-Gottesbeweis. Angesichts dessen, was in diesem Jahrhundert Menschen anderen Menschen angetan haben, angesichts der vollständigen und systematischen Vernichtung ganzer Populationen und Völker ist ein barmherziger Gott nicht mehr vorstellbar. Auf die Freiheit des Menschen, über die Gott keine Macht habe, will sich Anders dabei erst gar nicht einlassen: denn er spricht aus der Perspektive der Opfer. Deren Leiden hätte einen existierenden Gott zu einem Eingreifen bewegen müssen. Da dies jedoch nicht geschah, kann Gott nicht existieren. Daß Auschwitz – nicht Hiroshima – vielleicht gerade deswegen zum Kern einer säkularen negativen Theologie werden konnte, hat Anders allerdings nicht intendiert – eher im Gegenteil. In einem wohl ebenfalls nicht ganz authentischen Gespräch mit einem Priester auf einer Bahnfahrt von Bad Ischl nach Wien nennt Anders den Glauben an einen Gott, der Auschwitz „zugelassen“ hat, geradezu eine „Blasphemie“ und fährt dann – gegen die hilflosen Einspruchsversuche des Priesters – fort: „‚Oder meinen Sie, er [Gott] habe davon [von Auschwitz] sowenig gewußt wie das deutsche Volk seit dem Jahre 1945? Das heißt: gewußt, aber nichts davon wissen wollen. Und die Frage ist nicht nur an Sie gestellt. Sondern auch an die Rabbiner. Und an alle Nachfahren der sechs Millionen. Zuweilen frage ich mich sogar, ob es wirklich so groß gewesen sein kann, mit den Preisungen dessen, der dies zuließ, auf den Lippen in die Gasöfen hineinzuziehen. Ob das nicht – aber ich wage das aus Respekt vor dem Unsäglichen, das mir ohne Verdienst erspart geblieben ist, nur ganz leise zu fragen – ob dieser Preisgesang vielleicht nicht etwas …’ Das Wort ‚unwürdig’ wagte ich nicht auszusprechen. Und ließ dieses Gespräch versanden.“30
Hans Jonas stellte sich in hohem Alter in einem 1984 gehaltenen Vortrag an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen ebenfalls noch einmal der Frage nach dem Gottesbegriff nach Auschwitz. Dabei meinte er dezidiert und bewußt den Gott des Judentums und nannte seine Reflexionen ein „Stück unverhüllt spekulativer Theologie“.31 Auch Jonas griff angesichts des Geschehens der Schoah noch einmal die seit Hiob und Epikur tradierten Denkfiguren der Theodizee auf: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist.“32 Im Gegensatz zu Anders, für den die Vernichtung des europäischen Judentums und die Bombardierung von Hiroshima letztlich einen negativen Gottesbeweis darstellten, zog Jonas aus ganz ähnlichen Prämissen einen völlig anderen Schluß. Nicht Gottes Nicht-Existenz wird in der Katastrophe des jüdischen Volkes sichtbar, sondern seine vollkommene Ohnmacht: „Durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott […], nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.“33 Mit großartigen, ergreifenden Worten skizzierte Jonas das faszinierende und erschreckende Bild eines Gottes, der zu schwach ist, um in das von ihm initiierte Weltgeschehen noch einzugreifen, aber dennoch um die Liebe der Menschen für sein Schöpfungsprojekt wirbt: „Aus Gründen, die entscheidend von der zeitgenössischen Erfahrung eingegeben sind, proponiere ich die Idee eines Gottes, der für eine Zeit – die Zeit des fortgehenden Weltprozesses – sich jeder Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben hat; der dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein antwortet nicht ‚mit starker Hand und ausgestrecktem Arm’, wie wir Juden alljährlich im Gedenken an den Auszug aus Ägypten rezitieren, sondern mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Zieles.“34
Der schwache, ohnmächtige Gott: Das ist zweifellos auch ein naher Gott, der paradoxerweise leichter verständlich erscheint als ein allmächtiger deus absconditus. Schwach zu sein, nicht eingreifen zu können und trotzdem geliebt werden zu wollen – das ist nicht nur nachvollziehbar, das ist vor allem zutiefst menschlich. Nach Auschwitz, so die These von Jonas, haben wir keine Möglichkeit, Gott anders als in dieser Gestalt zu denken. Glauben hieße heute, an diesen schwachen Gott glauben und ihm gleichsam, indem man selbst versucht, das Projekt der Schöpfung zu verbessern, zu Hilfe zu eilen und alles zu tun, damit er an sich selbst nicht verzweifeln muß. Doch, so könnte man fragen, setzt nicht dieses Ansinnen, daß der Mensch sich mitleidig in den ohnmächtigen Gott einfühlen soll, jene Hybris der Gottähnlichkeit voraus, die seit dem Sündenfall als Ursprung des Bösen gilt? Und schließt sich in einer Theologie des schwachen Gottes nicht ein Kreis, der mit einer letztlich technisch induzierten Selbstermächtigung des Menschen begonnen hat und nun zur Ohnmacht des Allmächtigen führt?
Dort, wo Hans Jonas trotz Auschwitz und trotz der Atombombe einen Gott, an dem er nach eigenen Angaben letztlich nie gezweifelt hat,35 auch um den Preis der Ohnmacht retten wollte, hielt Anders das Festhalten an einem solchen Glauben letztlich – und dies scheint der entscheidende Punkt zu sein – mit der Würde des Menschen für nicht mehr vereinbar. Daß Anders im Gegensatz zu Jonas demonstrativ darauf verzichten wollte, den Sinn menschlichen Lebens metaphysisch zu begründen, motivierte auch seinen radikalen Atheismus, für den Auschwitz und Hiroshima so etwas wie letzte, furchtbare Bestätigungen darstellen. In letzter Instanz war aus seiner Sicht nicht nur die Existenz des Menschen unbegründbar, sondern auch der Sinn seines Lebens. Der in der populären praktischen Philosophie so beliebten „Sinnfrage“ hatte Anders stets eine harte und konsequente Absage erteilt. Schon in den frühen Studien zur Philosophie Heideggers heißt es: „Säkularisiert man das Dasein, so begibt man sich der Möglichkeit einer Sinn-Philosophie. […] Denn der Sinnbegriff ist ohne Transzendenz ‚sinnlos’. […] Wir haben keinen Sinn. Denn ‚Sinn’ hat nur das Unfreie.“36 Nur solche Dinge haben einen Sinn, deren Zweck von jemandem bestimmt ist und über die verfügt werden kann. Das Leben des Menschen, auch das der Gattung Mensch, hätte nur dann einen Sinn, wenn es von einer übergeordneten Instanz als Zweck, als Mittel für etwas anderes ausersehen wäre. Dem Leben einen Sinn geben, hieß für Anders immer, sich seiner Freiheit und damit der Möglichkeit der Selbstbestimmung zu berauben, also „für“ etwas anderes oder für jemand anderen dazusein.
Später hat Anders diese in der Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelte Kritik des Sinnbegriffs in einer Analyse der „Antiquiertheit des Sinns“ verallgemeinert: „‚Sinn haben für …’ bedeutet (immer): heteronom sein, Mittel für einen Zweck sein, unfrei sein. Ist es wirklich so gewiß, daß Sinn-Haben ein Ehrenprädikat, und daß keinen Sinn zu haben, ein Manko ist? Läuft nicht vielleicht letztlich unsere Suche nach Sinn auf Suche nach Dienstbarkeit hinaus, auch wenn wir diesen Sinn (weil wir ihn nicht finden) ‚tief’ nennen …?“37 Darüber hinaus wies Anders darauf hin, daß die philosophische Tradition fast nie nach dem „Sinn von Positivem“ gefragt hatte, sondern immer nur nach dem Sinn von Leid, sich also an den Negationen des Lebens entzündete, deren „Dasein“ mit dem „Willen Gottes“ nicht hatte vereinbart werden können und deshalb Rechtfertigung erforderte. Die modisch gewordene Sinnfrage erweist sich also als die „säkularisierte Version der Theodizee-Frage.“ Sie ist die „getarnte Rechtfertigungsfrage des Atheisten.“ Will man keinen Gott annehmen, der mit den Menschen etwas „im Sinn“ haben könnte, so gibt es auch keine vorgeordnete Bestimmung oder Funktion des Menschen. Mit dem „Tod Gottes“, so Anders, sei auch der „Tod des Sinns“ zu proklamieren: Wir sind „Nichtgemeinte“, die „ungesteuert durch den Ozean des Seienden treiben.“38
Gerade gegenüber diesem „Nichtgemeintsein“ hat Hans Jonas Widerspruch angemeldet: „Ich bin jedoch zutiefst davon überzeugt, daß der reine Atheismus falsch ist, daß es darüber hinaus etwas gibt, was wir nun vielleicht nur noch mit Hilfe von Metaphern zur Sprache bringen können, ohne das jedoch die Gesamtsicht des Seins unverständlich wäre.“39 Jonas’ Verantwortungsethik ist theoretisch deshalb auch von dem Bestreben, die „Gesamtsicht des Seins“ zu verstehen, nicht zu trennen. In ihren praktischen Konsequenzen ähnelt sie allerdings der voraussetzungslosen praktischen Moral von Günther Anders: Beide Konzeptionen sind von großer Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt getragen, beide Konzeptionen fürchten um die Zukunft des Menschen. Philosophisch wäre an dieser Stelle weiterzufragen, welchen Stellenwert Begründungsversuche oder deren Verweigerung und die Konzeption von Transzendenz oder deren Verneinung für das praktische Handeln, dem es um den Menschen geht, eigentlich besitzen. Denn eine entscheidende Frage müssen beide Denker schließlich offenhalten: die Frage nach dem, was letztlich das Menschengemäße genannt werden könnte. Das „echte menschliche Leben“, dessen Permanenz Jonas einfordert, bleibt im Konkreten so unbestimmt wie das Kriterium, an dem Günther Anders die „Antiquiertheit“ des Menschen abliest. Die Schärfe und Luzidität, mit welcher die einander so ähnlichen und dennoch so differenten Freunde ihre Positionen vorgetragen haben, enthebt uns nicht der Aufgabe, angesichts jeder neuen Technologie und angesichts der fortgesetzten oder jederzeit fortsetzbaren nuklearen Hochrüstung die Frage danach, was es heißen kann, als Mensch menschlich zu leben, immer wieder neu zu stellen.