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2 Fünf Thesen zur Person und ihre Relevanz für die kirchliche Praxis25

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Der Weg der Kirche ist der Mensch (RH 1). Damit bestimmte Papst Johannes Paul II. den neuen (konziliaren) Weg von Kirche-Sein. Nicht selten begegnet man dem Wunsch, in den Ortskirchen eine Kirche nahe bei den Menschen sein zu wollen. Eine Kirche bei den Menschen ist für Papst Franziskus eine Kirche, deren Leben und Ausrichtung die Logik der Inkarnation bestimmt, anstatt ihre Selbstbezogenheit. Wer aber ist dieser Mensch, dem die Kirche nahe sein will, und vor allem, wozu wollen wir dem Menschen als Kirche nahe sein? Es ist offensichtlich, dass diese Frage in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit in der Kirche und in der Gestaltung der kirchlichen Praxis erfahren hat. Stattdessen wird stets an eine Kirche erinnert, die es jahrhundertelang zu wenig beachtet hat, den Menschen ihr Leben frei und verantwortungsvoll gestalten zu lassen. So ist auch in der Seelsorge eine gewisse Unsicherheit festzustellen, wenn es um die Begegnung mit dem Menschen geht, und um die Frage, wonach sich die Seelsorge ausrichten soll, wenn sie in allen Facetten der kirchlichen Praxis ganz nach der Logik der Inkarnation bei den Menschen sein will. Viktor E. Frankl eilt der kirchlichen Praxis hier mit seiner Logotherapie und Existenzanalyse zu Hilfe und bietet anthropologisch und medizinisch gut fundierte Thesen zur Person an, von denen sich die Kirche provozieren lassen kann.

(1) Die Person ist ein Individuum: sie ist etwas Unteilbares – sie lässt sich nicht weiter unterteilen, nicht aufspalten, und zwar deshalb nicht, weil sie Einheit ist.

Hierbei geht es um die Bedeutung einer Balance im Leben. Die Person als Einheit von Körper, Geist und Seele manifestiert sich in der Leistungs-, Liebes- und Leidensfähigkeit. Finden diese Fähigkeiten nicht entsprechend Beachtung, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht. Ungleichgewicht erschwert es dem Menschen, sich als Individuum zu entfalten. Freilich wird Leistung in unseren hochmodernen Gesellschaften anderen Fähigkeiten gegenüber stark betont. Damit drohen Ganzheitlichkeit und Unteilbarkeit – als das spezifisch Menschliche – verloren zu gehen. Der Mensch kann seine Balance leicht verlieren und in Instabilität geraten. Er kippt aus seiner Stimmigkeit und verliert den Halt im Leben.26

Daraus folgt für die kirchliche Praxis: Alle drei Fähigkeiten im Menschen sind zu stärken, um eine gesunde Balance zu ermöglichen. Diese Stärkung kann im seelsorglichen Gespräch, in der Katechese, in der Predigt, durch Veranstaltungen erfolgen, die vor allem die Erlebniswerte und Einstellungswerte des Menschen im Blick haben. Dadurch werden die Liebesfähigkeit und die Leidensfähigkeit des Menschen gefordert, auch als Gegenpol zum Alltagsstress der Leistungsgesellschaft. Ein Mensch, der die Werthaftigkeit der Welt und ihrer Angebote wahrnimmt, erlebt sich als liebevoll, weltoffen, sozial sensibel, konstruktiv und friedfertig. Sein Leben kann gelingen, trotz schwieriger Umstände, ein Heilungsprozess im Menschen kann beschleunigt werden.

(2) Die Person ist nicht nur in-dividuum, sondern auch in-summabile; d. h. sie ist nicht nur unteilbar, sondern auch nicht verschmelzbar, und dies deswegen, weil sie nicht nur Einheit, sondern auch Ganzheit ist.

Mit „in-summabile“ meint Frankl, dass der Mensch in seiner Ganzheit sich nicht von eigenen oder fremden Erwartungen abhängig machen muss, sondern es steht ihm jederzeit offen, seinem persönlichen Sinnaufruf zu folgen. Er ist als Individuum unverschmelzbar mit der Masse und bleibt auch in der Gesellschaft eine Person, die einzigartig und einmalig ist. Die Sinnorientierung schützt den Menschen vor einer heute sehr verbreiteten Zweckorientierung. Durch direkt intendierten Zweck macht sich die Person vom Erfolg abhängig und verfehlt den Sinn. Zweckorientierung statt Sinnorientierung führt zu einer „Schräglage“ des Menschen, die wider sein eigenes Wesen ist. Streben nach Macht, Prestige, Lust, Geld oder Gewinn verführen den Menschen zu sinnwidrigen Aktionen, generieren die Angst des Scheiterns und führen zum Hetzen, Erzwingen, zu Neid. Die Verfestigung dieser Schräglage macht langfristig krank.27

Daraus folgt für die kirchliche Praxis: Raum schaffen, damit der Mensch mit all seinen Schwächen und Ängsten geradestehen kann, ohne verurteilt zu werden. Eine Lenkung seiner Aufmerksamkeit weg von seinen Ängsten und seinem möglichen Versagen hin auf die Sinnfindung – wofür er leben will – kann seine Selbsttranszendenz aktivieren. Der Mensch kann sich selbst überschreiten, er gibt sich in die Welt hinein und erkennt in der Welt einen Sinnaufruf, der auf ihn wartet, erfüllt zu werden. Sinnentdeckung bedeutet in diesem Kontext – wie so oft bei Frankl – das Gesollte, die Antwort des Lebens auf eine Frage, die einem gestellt wird und nur von dieser Person ver-antwortet werden kann. Verwirklicht man das Gesollte, dann können sich als Ertrag Anerkennung, Erfolg, Freude oder Glück als Nebeneffekt von Sinnerfüllung einstellen. Beachtet werden soll diese These von Frankl vor allem in Seelsorgsgesprächen, in Krisensituationen, bei Trauernden und in der kirchlichen Praxis rund um Advent und Fastenzeit, aber auch in der Persönlichkeitsbildung. Die Fähigkeit, zwischen Zweck und Sinnaufruf differenzieren zu können, trägt dazu bei, sich aus einer zweckorientierten Schräglage zu befreien und es sich zu erlauben, dass der Sinn einen über sich selbst hinauszieht.

(3) Jede einzelne Person ist ein absolutes Novum. Mit jedem Menschen, der zur Welt kommt, wird ein absolutes Novum ins Sein gesetzt, zur Wirklichkeit gebracht.

Frankls dritte These zur Person hat die Wertschätzung des Menschen im Blick. Durch ständige Beanstandung kann im Menschen zerstört werden, was als Novum angelegt ist und sich nicht im „Leisten“ manifestieren kann. Wertschätzung führt zur Aufwertung der Person in ihrer Einzigartigkeit und trägt zur Selbstachtung und Integrität bei. Oft zitiert Frankl an dieser Stelle Johann Wolfgang Goethe: „Wenn wir den Menschen so nehmen, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter. Wenn wir ihn aber so nehmen, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann.“28 Die autonome Entscheidung eines jeden Menschen, in einer schicksalhaften Situation konstruktiv und nicht destruktiv am Werk zu bleiben, ist hier gefragt. Die Herausforderung besteht darin, die Ermächtigung des Menschen, seine geistige Dimension als ein absolutes Novum seines Seins zu aktivieren. Diese Dimension, die nie verschwindet oder krank wird, hat die Fähigkeit, in allen Kränkungen von der Trotzmacht des Geistes zu künden und alle gegebenen Freiräume zu nutzen, autonom Werte zu verwirklichen, Probleme zu lösen, Positives zu suchen und zu finden und seine intakten Bereiche zu weiten und sich als vom Leben Gefragten zu erleben.29

Daraus folgt für die kirchliche Praxis, wertschätzend und mit großem Vertrauen dem Menschen zu begegnen. Die kirchliche Praxis ist hier gut beraten, auf die Entscheidungskraft des Menschen zu setzen, ihn neugierig zu machen und damit seine Kreativität, sein Interesse, sein Vertrauen oder seinen Humor zu aktivieren. All diese Dispositionen im Menschen sind auch Selbstheilungskräfte, in denen sich die geistige Dimension aktiviert und die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Seins ad situationem und ad personam erfahrbar werden. Geeignet für diesen Blick in der Seelsorge sind die Katechese, die Predigt, die Krankenbesuche sowie das tägliche Miteinander.

(4) Die Person ist geistig. Damit steht sie im Gegensatz zum psychophysischen Organismus.

Viktor Frankl formuliert hier eine Definition der Person, in welcher die geistige Dimension des Menschen eine zentrale Rolle einnimmt. Auch wenn der Organismus unheilbar krank ist, bleibt der Mensch eine Person, die in ihrer Geistigkeit unzerstörbar ist. Somit kommt nicht zuletzt die Würde dieser Person in den Blick, und zwar unabhängig von ihrer vitalen, gesundheitlichen oder sonst welcher Verfassung. Das Wissen um die unbedingte Würde der Person zeigt sich ebenso in der unbedingten Ehrfurcht vor der menschlichen Person – auch vor einem kranken Menschen. Die Geistlosigkeit einer Zeit manifestiert sich in ihrer Blindheit für die Würde der Person. Das Wissen um die unzerstörbare Geistigkeit der Person setzt der Überheblichkeit und dem Missbrauch Grenzen und kann zu einem kleinen subjektiven Abschnitt der objektiven und unbegreiflichen Wahrheit werden.30

Daraus folgt für die kirchliche Praxis, sich in all ihren Bereichen für die unantastbare Würde eines jeden Menschen einzusetzen. Vor allen im Umgang mit Kranken, mit Menschen, die mit Behinderungen leben, ist diese Einstellung gefragt. Darüber hinaus ist die Kirche gefordert, ebenso in den gesellschaftlichen Diskursen etwa zu Altern in Würde, Euthanasie, Schutz für geflüchtete Menschen … einen Beitrag zu leisten.

(5) Die Person ist existenziell und nicht faktisch. Der Mensch als Person ist kein faktisches, sondern ein fakultatives Wesen; er existiert je als seine eigene Möglichkeit, für oder gegen die er sich entscheiden kann.

Mensch-Sein heißt, sich immer entscheiden zu können, was im nächsten Augenblick geschieht. An diesem Punkt zeigt sich der Unterschied zu Freud. In seiner Psychoanalyse heißt es nämlich, der Mensch entscheide sich nicht, vielmehr werde er getrieben von seinen Instinkten, von seiner Vergangenheit oder von seinen seelischen, oft unbewussten Vorerfahrungen. Mensch zu sein im Sinne von Entschieden-Sein, heißt immer auch verantwortlich zu sein. In dieser Verantwortlichkeit macht Frankl das Wozu der menschlichen Freiheit aus. Die Existenzanalyse arbeitet also nicht triebdeterminiert, sondern sinnorientiert.31

Daraus folgt für die kirchliche Praxis, den Menschen adäquat mit seiner Freiheit und der daraus resultierenden Verantwortlichkeit zu konfrontieren, ihn zu fordern, sich für diese Freiheit einzusetzen. Darüber hinaus kann dies heißen, für eine verantwortbare Lebensgestaltung zu plädieren, anstatt für eine provisorische Daseinshaltung oder für eine fatalistische Lebenseinstellung. Ebenso ist die Kirche gefragt, gegen ein kollektivistisches Denken, sowohl gesellschaftlich, aber auch kirchlich aufzutreten, das sich heutzutage vor allem in rassistischen oder ausgrenzenden Haltungen zeigt. Schöpfungsverantwortung, Solidarität, Subsidiarität und Personalität werden in dieser Hinsicht aktueller denn je. Predigten, Erwachsenbildung, Katechese, Seelsorgegespräche oder Jugendarbeit zeigen sich als geeignet, den Spannungsbogen zwischen Freiheit und Verantwortlichkeit aufrechtzuerhalten.

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