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Gesundheit und Krankheit
ОглавлениеZur Mehrdimensionalität eines Geschehens
♦ Gesundheit kann nicht ohne Krankheit gedacht und beschrieben werden. Vielmehr stehen beide in einem Wechselverhältnis zueinander. Dieses gilt es immer wieder neu auszutarieren. Die dabei bestimmenden Einflussgrößen sind jedoch vielfältig. Sie reichen von immunologischen, über genetische bis hin zu psychologischen Faktoren. Selbige beziehen sich ebenfalls aufeinander und bedingen sich wechselseitig. Hochinteressant ist nun, dass diese Dimensionen nicht nur in der Medizin die Grundlage für die Wahrnehmung von Krankheit und somit die Herangehensweise an die Behandlung bestimmen, sondern dass sie sich auch in der Weise spiegeln, wie Krankheit über Jahrtausende hinweg verstanden und interpretiert wurde. Am Ende war man sich immer der Ganzheit und der Ganzheitlichkeit des Menschen und damit der Einheit von Körper, Geist und Seele bewusst. (Redaktion)
1 Hinführung
Der Mensch ist niemals ganz gesund. Insofern ist die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Gesundheit, die beschrieben wird als „ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“ (WHO) weit überzogen: Gesundheit ist ein ständig neu zu erstellendes Gleichgewicht (Homöostase) zwischen „Angreifern“, wie z. B. Viren, Bakterien, Pilzen oder auch Krebszellen, die jeder Mensch in sich trägt, und dem Immunsystem, das diese Fremdkörper abwehrt. Was passiert, wenn das Immunsystem diese Angreifer nicht erkennt, haben wir in der Corona-Pandemie gesehen. Das Immunsystem reagiert dann entweder gar nicht oder zu schwach, zu stark oder verkehrt. Daher gibt es die sehr unterschiedlichen Krankheitsverläufe. Deswegen muss das Immunsystem mit einer Impfung zielgenau trainiert werden. Der Mensch kann nur überleben, wenn das Immunsystem funktioniert. Das Immunsystem ist an nahezu allen Krankheiten beteiligt. Bei Allergien reagiert es zu stark, bei Autoimmunerkrankungen richtet es sich gegen den eigenen Körper und bei Infektionserkrankungen oder auch Krebs ist es zu schwach und kann die Viren, Bakterien, Pilze oder die entstehenden Krebszellen nicht hinreichend bekämpfen. Bei der AIDS Erkrankung ist das Immunsystem selbst durch den HIV-Virus angegriffen.
Ein zweites System, das für die Gesundheit entscheidend ist, ist das der Genetik-Epigenetik-Verschaltung. Gene (beim Menschen etwa 25.000) sind die Grundlage für die Information im Körper, aber noch nicht die ganze Information. Gene müssen aktiviert und inaktiviert werden. Diese aktivierenden oder inaktivierenden Faktoren nennt man epigenetische Einflüsse. Wenn zum Beispiel ein Gen geschädigt ist, entsteht noch keine Krankheit. Diese entsteht erst dann, wenn das beschädigte Gen durch epigenetische Zusatzinformationen aktiviert wird. Für die hier diskutierte Frage von Gesundheit und Krankheit ist dieses Faktum deshalb so bedeutsam, da alle Menschen genetische Veränderungen haben (zum Teil todbringende). Wenn aber diese Gene nicht aktiviert werden, geschieht nichts. Daher sind alle Menschen wohl genetisch krank, aber doch meistens insgesamt gesund. Epigenetische Einflüsse geben oft den Ausschlag, sie können in der Umwelt liegen, in der Ernährung, in dem Maß an täglicher Bewegung, aber auch in den Lebensstilen, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder im Inneren des Menschen mit seinem Denken und Fühlen. Im Gehirn wird das Denken und Fühlen repräsentiert, daher ist folgendes Zitat hier angebracht: „Das Gehirn hat […] direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden“1. Das Gehirn denkt und fühlt zwar nicht (der Mensch denkt und fühlt), aber in ihm werden das Denken und die Emotionalitäten verschaltet und repräsentiert.
Aber nicht nur das Denken und Fühlen haben Einfluss auf die genetisch-epigenetischen Verschaltungen, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Lebensstile. So bringt es der Untertitel eines Buches von Joachim Bauer auf den Punkt. Er lautet: „Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern.“2 Dort heißt es unter anderem: „Daß zwischenmenschliche Beziehungen Einfluß auf die Aktivität von Genen und auf biologische Abläufe haben, hat sich auch für das Immunsystem als zutreffend erwiesen. Stress und Depression verändern die Genaktivität nicht nur bei zahlreichen Immunbotenstoffen (Zytokinen), sondern auch in Zellen des Immunsystems (T-Zellen und Natural-Killer Zellen), sodass deren Abwehrkraft gegenüber Erregern und gegenüber Tumorzellen entscheidend vermindert ist.“3 Die Medizin weiß seit langem, dass durch seelische Belastungen, dauerhafte Konflikte oder auch durch Depressionen das Immunsystem unterdrückt werden kann und so Krankheiten leichter entstehen. Heute erkennt man bereits die genetisch-epigenetischen Interaktionen „hinter“ dem Immunsystem. Auch hier vermerkt Joachim Bauer, dass „der seelische Stress der Depression mehrere Gene des Immunsystems ab[stellt], die für die Produktion von Immunbotenstoffen zuständig sind“4.
Das Wissenschaftsgebiet der Psychoneuroimmunologie befasst sich mit diesen Zusammenhängen. Dieses Wissenschaftsgebiet ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass man nicht nur die Auswirkungen des Innenlebens des Menschen auf das Immunsystem kennt, sondern auch die dahinterliegenden genetisch-epigenetischen Mechanismen. Daher könnte man heute auch von einer Psychoneurogenetik sprechen. Gerade bei Krebserkrankungen, die alle einen genetischen Hintergrund haben, sind diese epigenetischen Einflüsse von großer Bedeutung.5 Die epigenetischen Einflüsse im Inneren des Menschen betreffen nicht nur die psychologische, sondern auch die existenziell-spirituelle Dimension des Menschen. Wie später zu zeigen ist, hängen Phänomene wie innerer Friede, Freude, Stimmigkeit sowie auf der anderen Seite Unruhe, Zerrissenheit, Unfrieden, Angst auch mit dem Gottesverhältnis des Menschen zusammen. Diese inneren Befindlichkeiten wirken wiederum auf die genetisch-epigenetischen Verschaltungen ein.
Wenn man nicht genau definieren kann, was Gesundheit eigentlich ist, kann man sich dem Phänomen vom Mangel an Gesundheit, von Krankheiten und Krankheitsinterpretationen her nähern.